Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss, 20. Jan. 2016 - 12 A 2209/14

Gericht
Tenor
Die Berufung des Beklagten wird zugelassen, soweit das Verwaltungsgericht den Bescheid des Beklagten vom 23. September 2013 mit Wirkung ab dem Zeitpunkt des Zugangs des Schreibens des Beklagten vom 6. November 2012 bei der Klägerin aufgehoben hat.
Im Übrigen wird der Zulassungsantrag abgelehnt.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten.
1
Gründe:
2Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
3Die Zulassung der Berufung beruht auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Das Zulassungsvorbringen führt zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, das an die Klägerin gerichtete Schreiben des Beklagten vom 6. November 2012 habe nicht den Anforderungen an die Aufklärungspflicht aus § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII entsprochen.
4Nach § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII kann ein Kostenbeitrag bei Eltern, Ehegatten und Lebenspartnern ab dem Zeitpunkt erhoben werden, ab welchem dem Pflichtigen die Gewährung der Leistung mitgeteilt und er über die Folgen für seine Unterhaltspflicht gegenüber dem jungen Menschen aufgeklärt wurde.
5Die Pflicht zur Aufklärung besteht grundsätzlich sowohl gegenüber bar- als auch gegenüber naturalunterhaltspflichtigen Elternteilen. Ihr Umfang im Einzelfall hat sich entsprechend dem Schutzzweck der Norm an den jeweiligen wirtschaftlichen Dispositionsmöglichkeiten der Kostenbeitragspflichtigen zu orientieren. Da Barunterhaltspflichtige durch Kürzungen des Barunterhalts Vorsorge für die Kostenbeitragszahlung treffen können, steht bei ihnen die Belehrung über die Folgen der Jugendhilfemaßnahme für die Unterhaltspflicht im Vordergrund. Bei Naturalunterhaltspflichtigen, die aus ersparten Aufwendungen Rücklagen bilden können, hat die Information über das zeitliche Einsetzen der Kostenbeitragspflicht besondere Bedeutung. § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gebietet jedoch nicht, dass die Bar- und Naturalunterhaltspflichtigen in gleich intensiver Weise über alle anzusprechenden Fragen rechtlich aufgeklärt werden. Vielmehr müssen den Betroffenen in erster Linie die in ihrem Fall für sie relevanten Informationen vermittelt werden, um vermögensrechtliche Fehldispositionen im Zusammenhang mit dem Entstehen der Kostenbeitragspflicht zu vermeiden. Da der naturalunterhaltspflichtige Elternteil in Bezug auf den Unterhaltsanspruch keine besonderen vermögensrechtlichen Dispositionen treffen muss, kann sich bei ihm die unterhaltsrechtliche Aufklärung entsprechend dem Wortlaut des § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII darauf beschränken, dass die Jugendhilfeleistung unterhaltsrechtlich entlastende Auswirkungen hat. Besondere Bedeutung erlangt hingegen bei ihm der Hinweis auf das Entstehen der Kostenbeitragspflicht.
6Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2012- 5 C 22.11 -, BVerwGE 144, 313, juris, Rn. 9 ff.
7Ausgehend von diesen Grundsätzen begründet das Zulassungsvorbringen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Würdigung des Verwaltungsgerichts, der im Schreiben des Beklagten vom 6. November 2012 enthaltene Hinweis darauf, dass seit Beginn der Hilfeleistung zum 27. August 2012 „der gesamte Lebensbedarf Ihres Kindes im Rahmen der Jugendhilfe sichergestellt“ werde, entspreche nicht den Anforderungen an die gebotene Aufklärung der (bis zum Beginn der Hilfe) naturalunterhaltspflichtigen Klägerin über die unterhaltsrechtlich entlastenden Auswirkungen der Hilfe. Die Einwendungen des Beklagten gegen das angefochtene Urteil stellen durchgreifend in Frage, dass der hier verwendete Begriff des „gesamten Lebensbedarfs“ - im Gegensatz zu dem Begriff des „Unterhalts“, der in dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall Verwendung gefunden hat - für einen juristisch nicht vorgebildeten Empfänger eines solchen Hinweises nicht hinreichend eindeutig bzw. verständlich sei, wie es das Verwaltungsgericht angenommen hat. Die Aufklärung über die Sicherstellung des „gesamten Lebensbedarfs“ der Untergebrachten dürfte schon für sich betrachtet zureichend sein, weil sich daraus ergibt, dass es der Gewährung von Naturalunterhalt nicht mehr bedarf. Hinzu kommt hier, dass die Tochter der Klägerin im Zeitpunkt der Erteilung des Hinweises bereits seit mehr als zwei Monaten in der Jugendhilfeeinrichtung „I. “ in T. stationär untergebracht war, so dass der Klägerin seinerzeit auch vor dem Hintergrund ihrer praktischen Erfahrungen mit der Heimerziehung klar gewesen sein musste, in welchem Umfang sie hierdurch unterhaltsrechtlich entlastet wird.
8Hinsichtlich des Heranziehungszeitraums vom 27. August 2012 bis zum Zugang des Schreibens vom 6. November 2012 bleibt der Zulassungsantrag indes erfolglos, weil der Beklagte den Entscheidungsgründen des Verwaltungsgerichts insoweit nichts Erhebliches entgegensetzt. Sein Einwand, es habe einer Aufklärung der Klägerin über die Folgen für ihre Unterhaltspflicht gar nicht bedurft, weil die Klägerin nicht barunterhaltspflichtig gewesen sei, greift in Ansehung der dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht durch.

Annotations
(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.
(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,
- 1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen, - 2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist, - 3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, - 4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
(1) Zu den Kosten der in § 91 Absatz 1 genannten Leistungen und vorläufigen Maßnahmen sind Elternteile aus ihrem Einkommen nach Maßgabe der §§ 93 und 94 heranzuziehen; leben sie mit dem jungen Menschen zusammen, so werden sie auch zu den Kosten der in § 91 Absatz 2 genannten Leistungen herangezogen.
(1a) Unabhängig von ihrem Einkommen sind nach Maßgabe von § 93 Absatz 1 Satz 3 und § 94 Absatz 3 heranzuziehen:
- 1.
Kinder und Jugendliche zu den Kosten der in § 91 Absatz 1 Nummer 1 bis 7 genannten Leistungen und vorläufigen Maßnahmen, - 2.
junge Volljährige zu den Kosten der in § 91 Absatz 1 Nummer 1, 4 und 8 genannten Leistungen, - 3.
Leistungsberechtigte nach § 19 zu den Kosten der in § 91 Absatz 1 Nummer 2 genannten Leistungen, - 4.
Elternteile zu den Kosten der in § 91 Absatz 1 genannten Leistungen und vorläufigen Maßnahmen; leben sie mit dem jungen Menschen zusammen, so werden sie auch zu den Kosten der in § 91 Absatz 2 genannten Leistungen herangezogen.
(2) Die Heranziehung erfolgt durch Erhebung eines Kostenbeitrags, der durch Leistungsbescheid festgesetzt wird; Elternteile werden getrennt herangezogen.
(3) Ein Kostenbeitrag kann bei Eltern ab dem Zeitpunkt erhoben werden, ab welchem dem Pflichtigen die Gewährung der Leistung mitgeteilt und er über die Folgen für seine Unterhaltspflicht gegenüber dem jungen Menschen aufgeklärt wurde. Ohne vorherige Mitteilung kann ein Kostenbeitrag für den Zeitraum erhoben werden, in welchem der Träger der öffentlichen Jugendhilfe aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen, die in den Verantwortungsbereich des Pflichtigen fallen, an der Geltendmachung gehindert war. Entfallen diese Gründe, ist der Pflichtige unverzüglich zu unterrichten.
(4) Ein Kostenbeitrag kann nur erhoben werden, soweit Unterhaltsansprüche vorrangig oder gleichrangig Berechtigter nicht geschmälert werden. Von der Heranziehung der Eltern ist abzusehen, wenn das Kind, die Jugendliche, die junge Volljährige oder die Leistungsberechtigte nach § 19 schwanger ist oder der junge Mensch oder die nach § 19 leistungsberechtigte Person ein leibliches Kind bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres betreut.
(5) Von der Heranziehung soll im Einzelfall ganz oder teilweise abgesehen werden, wenn sonst Ziel und Zweck der Leistung gefährdet würden oder sich aus der Heranziehung eine besondere Härte ergäbe. Von der Heranziehung kann abgesehen werden, wenn anzunehmen ist, dass der damit verbundene Verwaltungsaufwand in keinem angemessenen Verhältnis zu dem Kostenbeitrag stehen wird.