Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss, 28. Jan. 2005 - 3 Ausl 116/04

28.01.2005

Tenor

Gründe

 
Zum Sachverhalt:
Gegen den Verfolgten, einem deutschen und polnischen Staatsangehörigen, besteht Europäischer Haftbefehl des Landesgerichts in G./Polen vom 16. November 2004. Dem liegt ein polnischer Haftbefehl vom August 1999 zugrunde, der sich wiederum auf eine Ende Juni 1994 in G. begangene Tat bezieht. Dem Verfolgten wird vorgeworfen, gemeinschaftlich handelnd mit zahlreichen anderen Beteiligten eine Person u.a. mit einem Baseballschläger geschlagen und so von einer dritten Person die Herausgabe von Bargeld im Wert von 800 DM erpresst zu haben. Der Verfolgte ist seit 2000 verheiratet und unterhält seitdem mit seiner Ehefrau, einer polnischen Staatsangehörigen, einen gemeinsamen Wohnsitz in S./Deutschland. Weitere Erkenntnisse liegen gegenwärtig nicht vor. Der Senat hat Auslieferungshaftbefehl erlassen.
Aus den Gründen:
2. (Die) Rücküberstellung kann als „gesichert“ nur gelten, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung (...) erwartet werden kann, dass die Übernahme der Strafverfolgung durch die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich rechtlich zulässig sein wird, was sich nach §§ 48 ff. IRG und ggf. nach dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (ÜberstÜbk, BGBl. 1991 II S. 1006, 1992 II S. 98) beurteilt. (...) Bei vorläufiger Prüfung geht der Senat (...) davon aus, dass die Voraussetzungen der §§ 48 ff. IRG i.V. mit dem ÜberstÜbk für eine Übernahme der Vollstreckung eines etwaigen polnischen Strafurteils durch die Bundesrepublik Deutschland gegeben sein werden. Es ist nicht anzunehmen, dass das polnische Strafverfahren von vorn herein die Verfahrensanforderungen nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 IRG verfehlt. Insbesondere steht nicht von vornherein fest, dass das Recht des Verfolgten auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 MRK) in einem die Vollstreckungsübernahme hindernden Maße verletzt ist. Zwar hat die 1994 begangene Tat erst 1999 zu einem Haftbefehl geführt, dem erst 2004 ein Auslieferungsersuchen gefolgt ist. Auch wenn zuvor die Auslieferung des Verfolgten wegen seiner (auch) deutschen Staatsangehörigkeit nicht in Betracht kam, so hätte die Bundesrepublik Deutschland doch um Übernahme der Strafverfolgung ersucht werden können, um das Verfahren zu fördern. Solange die Gründe für diese Verzögerungen nicht feststehen, wofür gegebenenfalls ergänzende Unterlagen anzufordern sind, kann die Frage, ob ein Konventionsverstoß vorliegt und wie gravierend er ist, jedoch nicht beurteilt werden. (...)
3. Der Senat geht (...) davon aus, dass die Gefahr besteht, dass sich der Verfolgte dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen wird (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG). Die Frage – und diejenige des Vollzuges des Auslieferungshaftbefehls – wird allerdings erneut zu prüfen sein, wenn der Verfolgte auf Grund des Auslieferungshaftbefehls ergriffen wird, und ggf. wird unverzüglich eine erneute Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen sein (vgl. § 21 Abs. 1, Abs. 5 IRG).
a) Die von § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG gemeinte Gefahr kann regelmäßig angenommen werden, wenn sich der Verfolgte der Strafverfolgung im ersuchenden Staat durch Flucht entzogen hat (s. nur Schomburg, in: Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsache, 3. Aufl., § 15 Rdn. 18). Vorliegend ist allerdings nicht bekannt, ob der Verfolgte vor polnischer Strafverfolgung in die Bundesrepublik Deutschland geflohen ist. Eine Flucht kann auch nicht deshalb unterstellt werden, weil gegen den Verfolgten in der Republik Polen Haftbefehl besteht. Denn in manchen Rechtsordnungen – ob die polnische hierzu zählt, ist dem Senat nicht bekannt – ergeht auch bei schlichtem Aufenthalt des Verfolgten im Ausland unabhängig von Flucht oder Fluchtgefahr Haftbefehl; das würde aber für § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG nicht genügen (Wilkitzki, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., Teil I A 1 – IRG-Kommentar, § 15 Rdnr. 24).
b) Jedoch ist – vorbehaltlich erneuter Nachprüfung, wenn der Verfolgte aufgrund des Auslieferungshaftbefehls ergriffen wird – nach der Lebenserfahrung anzunehmen: Der Umstand, dass dem Verfolgten nach der polnischen Strafpraxis langjährige Freiheitsstrafe drohen dürfte, begründet einen erheblichen Anreiz zu Flucht oder Untertauchen, zumal die Tat bereits lange zurückliegt. Der Umstand, dass die Fluchtgefahr derzeit nur latent sein dürfte, weil der Verfolgte derzeit von dem gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehl und diesem Auslieferungshaftbefehl nichts wissen, sondern sich in Sicherheit wiegen dürfte, ändert daran nichts. Denn die Fluchtgefahr ist für den Zeitpunkt zu beurteilen, zu dem der Europäische Haftbefehl und dieser Auslieferungshaftbefehl dem Verfolgten eröffnet werden, andernfalls es nie möglich wäre, gegen einen sich in Sicherheit wiegenden Verfolgten Haftbefehl zu erlassen.

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Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 15 Auslieferungshaft


(1) Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn 1. die Gefahr besteht, daß er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, oder2. auf G

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 49 Weitere Voraussetzungen der Zulässigkeit


(1) Die Vollstreckung ist nur zulässig, wenn 1. ein vollständiges rechtskräftiges und vollstreckbares Erkenntnis vorliegt,2. das ausländische Erkenntnis in einem Verfahren ergangen ist, welches mit der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 zum

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 21 Verfahren nach Ergreifung auf Grund eines Auslieferungshaftbefehls


(1) Wird der Verfolgte auf Grund eines Auslieferungshaftbefehls ergriffen, so ist er unverzüglich, spätestens am Tag nach der Ergreifung, dem Richter des nächsten Amtsgerichts vorzuführen. (2) Der Richter beim Amtsgericht vernimmt den Verfolgten

Referenzen

(1) Die Vollstreckung ist nur zulässig, wenn

1.
ein vollständiges rechtskräftiges und vollstreckbares Erkenntnis vorliegt,
2.
das ausländische Erkenntnis in einem Verfahren ergangen ist, welches mit der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich ihrer Zusatzprotokolle, soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind, im Einklang steht,
3.
auch nach deutschem Recht, ungeachtet etwaiger Verfahrenshindernisse und gegebenenfalls nach sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts, wegen der Tat, die dem ausländischen Erkenntnis zugrunde liegt,
a)
eine Strafe, eine Maßregel der Besserung und Sicherung oder eine Geldbuße hätte verhängt werden können oder
b)
in Fällen, in denen eine Anordnung der Einziehung vollstreckt werden soll, eine derartige Anordnung, hätte getroffen werden können,
4.
keine Entscheidung der in § 9 Nummer 1 genannten Art ergangen ist, es sei denn, in Fällen, in denen eine Anordnung der Einziehung vollstreckt werden soll, könnte eine solche Anordnung entsprechend § 76a des Strafgesetzbuchs selbständig angeordnet werden, und
5.
die Vollstreckung nicht nach deutschem Recht verjährt ist oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts verjährt wäre; ungeachtet dessen ist die Vollstreckung einer Anordnung der Einziehung zulässig, wenn
a)
für die der Anordnung zugrunde liegende Tat deutsches Strafrecht nicht gilt oder
b)
eine solche Anordnung, gegebenenfalls bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts, nach § 76a Absatz 2 Nummer 1 des Strafgesetzbuchs erfolgen könnte.

(2) Ist in einem ausländischen Staat eine freiheitsentziehende Sanktion verhängt worden und hält die verurteilte Person sich dort auf, so ist die Vollstreckung ferner nur zulässig, wenn sich die verurteilte Person nach Belehrung zu Protokoll eines Richters des ausländischen Staates oder eines zur Beurkundung von Willenserklärungen ermächtigten deutschen Berufskonsularbeamten damit einverstanden erklärt hat. Das Einverständnis kann nicht widerrufen werden.

(3) Die Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion, die gegen eine Person mit deutscher Staatsangehörigkeit in einem ausländischen Staat verhängt worden ist, kann abweichend von Absatz 1 Nummer 2 bis 5 unter Beachtung der Interessen der verurteilten Person ausnahmsweise für zulässig erklärt werden, wenn die verurteilte Person dies beantragt hat. Der Antrag der verurteilten Person nach Satz 1 ist zu Protokoll eines Richters oder, wenn die verurteilte Person im Ausland festgehalten wird, zu Protokoll eines zur Beurkundung von Willenserklärungen ermächtigten deutschen Berufskonsularbeamten zu erklären. Der Antrag kann nicht zurückgenommen werden. Die verurteilte Person ist zuvor über die Rechtsfolgen ihres Antrags und darüber zu belehren, dass dieser nicht zurückgenommen werden kann. Liegen die in Absatz 1 Nummer 3 genannten Voraussetzungen nicht vor, so beträgt das Höchstmaß bei der Umwandlung der Sanktion nach § 54 Absatz 1 zwei Jahre Freiheitsentzug.

(4) Sieht das im Geltungsbereich dieses Gesetzes geltende Recht Sanktionen, die der im ausländischen Staat verhängten Sanktion ihrer Art nach entsprechen, nicht vor, so ist die Vollstreckung nicht zulässig.

(5) Soweit in der ausländischen Anordnung der Einziehung eine Entscheidung hinsichtlich der Rechte Dritter getroffen wurde, so ist diese bindend, es sei denn,

a)
dem Dritten wurde keine ausreichende Gelegenheit gegeben, seine Rechte geltend zu machen, oder
b)
die Entscheidung ist unvereinbar mit einer im Geltungsbereich dieses Gesetzes getroffenen zivilrechtlichen Entscheidung in derselben Sache, oder
c)
die Entscheidung bezieht sich auf Rechte Dritter an einem im Bundesgebiet belegenen Grundstück oder Grundstücksrecht; zu den Rechten Dritter gehören auch Vormerkungen.

(6) Der Entzug oder die Aussetzung eines Rechts, ein Verbot sowie der Verlust einer Fähigkeit werden auf den Geltungsbereich dieses Gesetzes erstreckt, wenn eine nach Artikel 59 Abs. 2 des Grundgesetzes durch Gesetz gebilligte völkerrechtliche Vereinbarung dies vorsieht.

(1) Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn

1.
die Gefahr besteht, daß er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, oder
2.
auf Grund bestimmter Tatsachen der dringende Verdacht begründet ist, daß der Verfolgte die Ermittlung der Wahrheit in dem ausländischen Verfahren oder im Auslieferungsverfahren erschweren werde.

(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint.

(1) Wird der Verfolgte auf Grund eines Auslieferungshaftbefehls ergriffen, so ist er unverzüglich, spätestens am Tag nach der Ergreifung, dem Richter des nächsten Amtsgerichts vorzuführen.

(2) Der Richter beim Amtsgericht vernimmt den Verfolgten unverzüglich nach der Vorführung, spätestens am nächsten Tag, über seine persönlichen Verhältnisse, insbesondere über seine Staatsangehörigkeit. Er weist ihn darauf hin, daß er sich in jeder Lage des Verfahrens eines Rechtsbeistands (§ 40) bedienen kann und daß es ihm freisteht, sich zu der ihm zur Last gelegten Tat zu äußern oder dazu nicht auszusagen. Sodann befragt er ihn, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen er Einwendungen gegen die Auslieferung, gegen den Auslieferungshaftbefehl oder gegen dessen Vollzug erheben will. Im Fall des § 16 Abs. 1 Nr. 2 erstreckt sich die Vernehmung auch auf den Gegenstand der Beschuldigung; in den übrigen Fällen sind die Angaben, die der Verfolgte von sich aus hierzu macht, in das Protokoll aufzunehmen.

(3) Ergibt sich bei der Vernehmung, daß

1.
der Ergriffene nicht die in dem Auslieferungshaftbefehl bezeichnete Person ist,
2.
der Auslieferungshaftbefehl aufgehoben ist oder
3.
der Vollzug des Auslieferungshaftbefehls ausgesetzt ist,
so ordnet der Richter beim Amtsgericht die Freilassung an.

(4) Ist der Auslieferungshaftbefehl aufgehoben oder der Vollzug ausgesetzt, so ordnet der Richter beim Amtsgericht an, daß der Verfolgte bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts festzuhalten ist, wenn

1.
die Voraussetzungen eines neuen Auslieferungshaftbefehls wegen der Tat vorliegen oder
2.
Gründe dafür vorliegen, den Vollzug des Auslieferungshaftbefehls anzuordnen.
Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht führt unverzüglich die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbei.

(5) Erhebt der Verfolgte gegen den Auslieferungshaftbefehl oder gegen dessen Vollzug sonstige Einwendungen, die nicht offensichtlich unbegründet sind, oder hat der Richter beim Amtsgericht Bedenken gegen die Aufrechterhaltung der Haft, so teilt er dies der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht unverzüglich und auf dem schnellsten Weg mit. Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht führt unverzüglich die Entscheidung des Oberlandesgerichts herbei.

(6) Erhebt der Verfolgte gegen die Auslieferung keine Einwendungen, so belehrt ihn der Richter beim Amtsgericht über die Möglichkeit der vereinfachten Auslieferung und deren Rechtsfolgen (§ 41) und nimmt sodann dessen Erklärung zu Protokoll.

(7) Die Entscheidung des Richters beim Amtsgericht ist unanfechtbar. Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht kann die Freilassung des Verfolgten anordnen.

(1) Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn

1.
die Gefahr besteht, daß er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, oder
2.
auf Grund bestimmter Tatsachen der dringende Verdacht begründet ist, daß der Verfolgte die Ermittlung der Wahrheit in dem ausländischen Verfahren oder im Auslieferungsverfahren erschweren werde.

(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint.