Oberlandesgericht Koblenz Beschluss, 08. Juli 2015 - 2 Ws 336/15

Gericht
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird der Beschluss der 8. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Mainz vom 6. Mai 2015 aufgehoben.
Die Entscheidung über den Widerruf der durch Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 2. August 2012 bewilligten Aussetzung des Restes der Freiheitsstrafe aus dem Urteil desselben Gerichts vom 3. August 2011 - Az. 334 Ls - 104 Js 204/11 - 92/11 - zur Bewährung wird für die Dauer der Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG in den Verfahren
- 2090 Js 14242/14 - 2855 VRs - StA Koblenz
- 2010 Js 10428/13 - 2855 VRs - StA Koblenz
- 183 Js 800/08 V - StA Köln
- 183 Js 917/07 V - StA Köln
zurückgestellt.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung über den Bewährungswiderruf vorbehalten.
Gründe
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Das Rechtsmittel der Verurteilten ist zulässig und hat auch in der Sache zumindest vorläufig Erfolg.
- 2
Die im Entscheidungstenor genannten Strafvollstreckungen sind ausweislich des Vollstreckungsblatts der Justizvollzugsanstalt Rohrbach vom 26. Juni 2015 inzwischen sämtlich gemäß § 35 BtMG zurückgestellt. Seit dem 30. Juni 2015 befindet sich die Verurteilte stationär in der Therapieeinrichtung Kliniken W..
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Zwar ist in Fällen wie dem vorliegenden nicht stets eine Zurückstellung des Widerrufs geboten, um einen bereits eingeleiteten Resozialisierungsprozess in der anderen Sache nicht zu gefährden (vgl. OLG Koblenz, Beschlüsse 1 Ws 67/15 vom 09.02.2015, 1 Ws 647-649/14 vom 02.12.2014 und 1 Ws 761/13 vom 15.01.2014; OLG Celle, Beschluss 1 Ws 54/12 vom 14.02.2012, StV 2012, 485, zit. n. juris Rn. 5; StV 1998, 216; OLG Düsseldorf StV 1989, 150; KG StV 1984, 341; OLG Zweibrücken MDR 1983, 150; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 56f Rn. 19 m.w.N.). Vielmehr ist - auch vor dem Hintergrund der Regelung in § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG - jeweils nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund einer Gesamtabwägung und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden, ob ausnahmsweise von der gesetzlich gebotenen zeitnahen Entscheidung über den Widerruf einstweilen abgesehen werden kann oder muss (OLG Celle, Beschluss 1 Ws 54/12 vom 14.02.2012, StV 2012, 485, zit. n. juris Rn. 5 m.w.N.). Das ist hier der Fall.
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Die nach § 35 BtMG zurückgestellten Strafen und Strafreste betragen ausweislich des Vollstreckungsblatts insgesamt mehr als zwei Jahre. Sie sind damit deutlich höher als der zu widerrufende Strafrest. Er beträgt weniger als 10 Monate. Mehr als 16 Monate der Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 8. August 2011 sind verbüßt (Untersuchungshaft ab dem 20. März 2011; Entlassung aus der Therapie am 26. Juli 2012). Der Widerrufsantrag war von der Staatsanwaltschaft Aachen bereits am 23. Oktober 2014 bei dem Amtsgericht Neuwied gestellt worden (BewH Bl. 87). Am 24. November 2014 wurde die Verurteilte in die Justizvollzugsanstalt Rohrbach aufgenommen (BewH Bl. 110). Erst am 27. März 2015 ging der Widerrufsantrag bei der zuständigen Strafvollstreckungskammer ein (BewH Bl. 107). Nach Bewilligung durch die Deutsche Rentenversicherung als Kostenträger (BewH Bl. 143) war der Verurteilten bereits am 23. Februar 2015 als Aufnahmetermin für die Therapie unter der Voraussetzung der Zurückstellung nach § 35 BtMG der 12. Mai 2015 mitgeteilt worden (BewH Bl. 142). Da bis zu diesem Zeitpunkt zwar die Zurückstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft Köln vom 23. April 2015 vorlag (BewH Bl. 155), nicht aber die der Staatsanwaltschaft Koblenz (BewH Bl. 136 f.), wurde der Verurteilten durch die Therapieeinrichtung am 19. Mai 2015 der 30. Juni 2015 als neuer Aufnahmetermin mitgeteilt (BewH Bl. 151). Obwohl die Mitteilung der Strafvollstreckungskammer vom 13. April 2015, dass der Widerruf der Strafaussetzung wegen neuer Straftaten beantragt sei, die Verurteilte noch gar nicht erreicht hatte (BewH Bl. 113, 146), hatte die Strafvollstreckungskammer am 6. Mai 2015 die Reststrafaussetzung widerrufen. Am 18. Mai 2015 legte die Verurteilte gegen die ihr am 11. Mai 2015 zugestellte Entscheidung - die Mitteilung vom Widerrufsantrag erreichte sie erst am selben Tag (BewH Bl. 146) - sofortige Beschwerde ein (BewH Bl. 136 ff., 144), reichte mit Schreiben vom 21. Mai 2015 umgehend die Mitteilung der Therapieeinrichtung vom 19. Mai 2015 über den neuen Aufnahmetermin am 30. Juni 2015 nach und bat gleichzeitig für den Fall, dass es beim Widerruf verbleibt, um Zurückstellung des Strafrestes noch vor dem neuen Aufnahmetermin (BewH Bl. 149 ff.). Mit Schreiben vom 2. Juni 2015, eingegangen am 6. Juni 2015, wiederholte sie gegenüber der Strafvollstreckungskammer ihre Bitte um beschleunigte Bearbeitung, damit gegebenenfalls noch rechtzeitig über die Zurückstellung des widerrufenen Strafrestes entschieden werden könne (BewH Bl. 153). Erst am 11. Juni 2015 wurde die Versendung der Akten von der Strafvollstreckungskammer an die Staatsanwaltschaft Aachen verfügt (BewH Bl. 156), die ihrerseits mit Verfügung vom 18. Juni 2015 die Weiterleitung der Akten an die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz veranlasste (BewH Bl. 158). Dort gingen die Akten am 24. Juni 2015 ein (BewH Bl. 158). Sie wurden am 29. Juni 2015, am Tag vor der Aufnahme der Verurteilten in die Therapieeinrichtung, dem Oberlandesgericht vorgelegt (BewH Bl. 159). Dem Senat lagen sie am 30. Juni 2015 vor (BewH). Die Verurteilte selbst hat ihrerseits alles getan, um eine rechtzeitige Entscheidung über die Zurückstellung des Strafrestes für den Fall des rechtskräftigen Bewährungswiderrufs zu erreichen. Sie ist an nicht ausreichend beschleunigter Bearbeitung der mit der Sache befassten Justizbehörden gescheitert. Der Senat übersieht nicht das Bewährungsversagen der Verurteilten, gegen die durch Urteil des Amtsgerichts Neuwied vom 10. Februar 2015 - 2090 Js 14242/14 - wegen in der Zeit zwischen 2013 und dem 19. Februar 2014 begangenen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (ein Bubble Heroin für 20 Euro) unter Einbeziehung der beiden Einzelstrafen wegen Diebstahls geringwertiger Sachen in zwei Fällen (Tatzeit 11. April 2014) aus dem Urteil des Amtsgerichts Neuwied vom 8. August 2014 - 2080 Js 27118/14 - eine Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten und wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (3,97 g Heroin am 7. Oktober 2014) eine weitere Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt worden sind. Bereits zuvor war die ursprünglich auf drei Jahre festgesetzte Bewährungszeit wegen eines am 4. Januar 2013 begangenen Diebstahls (Urteil des Amtsgerichts Neuwied vom 14. November 2013 - 2010 Js 10428/13 -) um ein Jahr verlängert worden. Das neuerliche Bewährungsversagen geht aber insgesamt auf die Betäubungsmittelabhängigkeit der Verurteilten zurück, die derzeit therapiert wird. Wie die Staatsanwaltschaften Koblenz und Köln ist auch der Senat der Auffassung, dass trotz der seit nahezu 40 Jahren bestehenden Heroinabhängigkeit der Verurteilten und des nicht dauerhaften Erfolgs früherer Behandlungsmaßnahmen eine hinreichende Erfolgsaussicht der neuen Therapie besteht. Die Gesamtabwägung aller Umstände ergibt, dass es derzeit unverhältnismäßig wäre, den eingeleiteten Resozialisierungsprozess durch einen sofortigen Bewährungswiderruf zu gefährden.
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Der Senat weist die Verurteilte ausdrücklich darauf hin, dass über den Bewährungswiderruf wegen erneuter Straffälligkeit durch Begehung der den Urteilen des Amtsgerichts Neuwied vom 8. August 2014 - 8 Ds 2080 Js 27118/14 - und vom 10. Februar 2015 - 8 Ds 2090 Js 14242/14 - zugrunde liegenden Taten auch noch nach Ablauf der verlängerten Bewährungszeit am 13. August 2016 entschieden werden kann.
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Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wird die zuständige Strafvollstreckungskammer zusammen mit der zurückgestellten Entscheidung in der Sache zu befinden haben (OLG Celle aaO Rn. 9).

Annotations
(1) Ist jemand wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt worden und ergibt sich aus den Urteilsgründen oder steht sonst fest, daß er die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, so kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges die Vollstreckung der Strafe, eines Strafrestes oder der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Als Behandlung gilt auch der Aufenthalt in einer staatlich anerkannten Einrichtung, die dazu dient, die Abhängigkeit zu beheben oder einer erneuten Abhängigkeit entgegenzuwirken.
(2) Gegen die Verweigerung der Zustimmung durch das Gericht des ersten Rechtszuges steht der Vollstreckungsbehörde die Beschwerde nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Buches der Strafprozeßordnung zu. Der Verurteilte kann die Verweigerung dieser Zustimmung nur zusammen mit der Ablehnung der Zurückstellung durch die Vollstreckungsbehörde nach den §§ 23 bis 30 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz anfechten. Das Oberlandesgericht entscheidet in diesem Falle auch über die Verweigerung der Zustimmung; es kann die Zustimmung selbst erteilen.
(3) Absatz 1 gilt entsprechend, wenn
- 1.
auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren erkannt worden ist oder - 2.
auf eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren erkannt worden ist und ein zu vollstreckender Rest der Freiheitsstrafe oder der Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt
(4) Der Verurteilte ist verpflichtet, zu Zeitpunkten, die die Vollstreckungsbehörde festsetzt, den Nachweis über die Aufnahme und über die Fortführung der Behandlung zu erbringen; die behandelnden Personen oder Einrichtungen teilen der Vollstreckungsbehörde einen Abbruch der Behandlung mit.
(5) Die Vollstreckungsbehörde widerruft die Zurückstellung der Vollstreckung, wenn die Behandlung nicht begonnen oder nicht fortgeführt wird und nicht zu erwarten ist, daß der Verurteilte eine Behandlung derselben Art alsbald beginnt oder wieder aufnimmt, oder wenn der Verurteilte den nach Absatz 4 geforderten Nachweis nicht erbringt. Von dem Widerruf kann abgesehen werden, wenn der Verurteilte nachträglich nachweist, daß er sich in Behandlung befindet. Ein Widerruf nach Satz 1 steht einer erneuten Zurückstellung der Vollstreckung nicht entgegen.
(6) Die Zurückstellung der Vollstreckung wird auch widerrufen, wenn
- 1.
bei nachträglicher Bildung einer Gesamtstrafe nicht auch deren Vollstreckung nach Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 3 zurückgestellt wird oder - 2.
eine weitere gegen den Verurteilten erkannte Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung zu vollstrecken ist.
(7) Hat die Vollstreckungsbehörde die Zurückstellung widerrufen, so ist sie befugt, zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt einen Haftbefehl zu erlassen. Gegen den Widerruf kann die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszuges herbeigeführt werden. Der Fortgang der Vollstreckung wird durch die Anrufung des Gerichts nicht gehemmt. § 462 der Strafprozeßordnung gilt entsprechend.