Landgericht Ulm Beschluss, 25. Juni 2008 - 3 T 54/08

bei uns veröffentlicht am25.06.2008

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Verfahrenspflegerin wird der Beschluss des Amtsgerichts - Vormundschaftsgericht - Göppingen vom 23.05.2008 (11 XVII 128/08) wie folgt abgeändert :

1. Die Anbringung eines Funkchips in Form eines Armbands am Handgelenk der Betroffenen sowie das Zurückhalten der Betroffenen im Altenzentrum E. wird bis längstens 23.05.2010 genehmigt.

2. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, Auslagen werden nicht erhoben.

Gründe

 
I.
Die Betroffene lebt im Altenzentrum E. Am 19.08.2005 hat sie u.a. ihrer Nichte eine notariell beurkundete General- und Vorsorgevollmacht erteilt, die auch die in § 1906 BGB genannten Maßnahmen ausdrücklich umfasst.
Mit Schreiben vom 01.04.2008 beantragte die Bevollmächtigte beim Amtsgericht - Vormundschaftsgericht - Göppingen die Genehmigung zur Anbringung eines Desorientiertenüberwachungssystems bei der Betroffenen. Das in dem ansonsten offen geführten Altenzentrum in Einzelfällen eingesetzte System funktioniert wie folgt: Der Heimbewohner wird mit einem Funkchip am Handgelenk, der einer Armbanduhr ähnelt, ausgestattet. Verlässt der Bewohner das Haus durch eine der beiden Türen, löst dies ein Signal auf dem Diensthandy des Pflegepersonals der Station, zu der der Bewohner gehört, aus. Das Pflegepersonal begibt sich sodann auf die Suche nach dem Bewohner und bewegt den Bewohner zur Rückkehr.
Durch eine der beiden Türen ist auch in der Nacht das uneingeschränkte Verlassen des Heims möglich.
Das Amtsgericht - Vormundschaftsgericht - hat nach Einholung eines ärztlichen Zeugnisses des Hausarztes und Anhörung der Betroffenen mit Beschluss vom 23.05.2008 festgestellt, dass die Überwachung des Verlassens des Pflegeheims durch die Betroffene mittels eines elektronischen Desorientiertenüberwachungssystems keiner vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedarf. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Schutzzweck des Genehmigungsvorbehalts in § 1906 Abs. 4 BGB werde durch die Ausstattung mit einer technischen Vorrichtung, die dem Pflegepersonal lediglich ein Verlassen des Hauses anzeige, nicht berührt, da sie als solche die Bewegungsfreiheit nicht beschränke. Entscheidend sei vielmehr die Reaktion, die auf das Bemerken des Verlassens von Seiten des Pflegepersonals erfolge. Wäre das Pflegepersonal angewiesen, die Betroffene mit Gewalt zurückzubringen, würde diese Anwendung von Zwang eine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB darstellen. Eine solche Zwangsausübung finde gegenüber der Betroffenen aber nicht statt. Diese Betrachtungsweise stelle keine willkürliche Aufspaltung eines einheitlichen Vorgangs dar. Das Handeln des Pflegepersonals bei Signalgebung sei kein Automatismus, sondern von der Entscheidung der handelnden Personen zum Eingreifen oder - falls keine Gefahr für die Betroffene bestehe - zum Nichteingreifen abhängig.
Gegen diesen Beschluss des Amtsgerichts richtet sich die sofortige Beschwerde der Verfahrenspflegerin.
Die Kammer hat die Betroffene, ihre Bevollmächtigte sowie Mitarbeiter des Altenzentrums am 17.06.2008 erneut angehört.
II.
1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Das Amtsgericht hat zunächst zutreffend festgestellt, dass der Einsatz des Desorientiertenüberwachungssystems in dem Altenheim nicht gegen Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes verstößt. Für die Kammer steht auch außer Zweifel, dass der Einsatz dieses Systems bei der Betroffenen erforderlich und die Handhabung durch das Personal im Altenzentrum allein von der Fürsorge für ihr persönliches Wohlergehen getragen ist. Gleichwohl handelt es sich nach Auffassung der Kammer vorliegend um eine genehmigungsbedürftige Maßnahme im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB.
Die vom Amtsgericht vorgenommene Unterscheidung zwischen dem Anbringen des Funkchips am Handgelenk der Betroffenen einerseits und der Reaktion des Personals auf das Verlassen der Einrichtung durch die Betroffene andererseits, lässt im vorliegenden Fall außer Betracht, dass die Betroffene nach dem ärztlichen Zeugnis von Herrn Dr. F. vom 17.04.2008 und dem eigenen Eindruck, den die Kammer bei ihrer Anhörung gewonnen hat, dauerhaft, örtlich und zeitlich nicht mehr orientiert ist und nach einem Verlassen des Heims nicht selbständig zurückfinden würde. Damit in Einklang stehen die nachvollziehbaren Angaben der Bevollmächtigten sowie der Mitarbeiter des Altenzentrums, dass der Betroffenen ein Verlassen des Hauses ohne Begleitung nicht mehr möglich sei. Der am Handgelenk der Betroffenen angebrachte Funkchip ist damit Teil eines Systems, das gewährleisten soll, die Betroffene ausnahmslos am unbeaufsichtigten Verlassen des Heims zu hindern. Die im Beschluss des Amtsgerichts dargestellten Alternativen beim Verlassen des Hauses durch die Betroffene bestehen daher für das Pflegepersonal nicht. In jedem Einzelfall stellt sich lediglich die Frage, ob die Betroffene allein durch eine entsprechende Bitte oder durch Überredung zur Rückkehr bewegt werden kann oder ob ein darüber hinausgehender Zwang erforderlich ist, der auch dann von § 1906 Abs. 4 BGB erfasst wird, wenn er keine körperliche Gewalt gegen die Betroffene erfordert (OLG Hamm vom 08.01.1997, 15 W 398/96, BtPrax 1997, 162). Kann letzteres nicht gänzlich ausgeschlossen werden, handelt es sich beim Anbringen des Funkchips und der dem Pflegepersonal vorgegebenen Reaktion auf das Verlassen des Heims durch den Bewohner um eine Maßnahme, die als Ganzes darauf ausgerichtet ist, die Betroffene über einen längeren Zeitraum die Freiheit zu entziehen (so im Ergebnis auch OLG Brandenburg vom 19.01.2006, 11 Wx 59/05, FamRZ 2006, 1481, wonach bei einem Personenortungssystem, das darauf gerichtet ist, notfalls durch Zwang am Verlassen des Hauses zu hindern, jedenfalls die möglicherweise erforderlich werdenden Zwangsmaßnahmen einer vorherigen vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung zu unterstellen sind; vgl. ferner Schwab in Münchener Kommentar zum BGB, 4. Auflage 2002, § 1906 Rn 34 und OLG Hamm vom 22.06.1993, 15 W 145/93, BtPrax 1993, 172 zum Anbringen eines Bettgitters und Bauchgurtes im Rollstuhl).
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Die Anhörung des Geschäftsführers und der Mitarbeiter des Altenzentrums hat zwar ergeben, dass es bei der Betroffenen bislang stets ausreichend war, sie um die Rückkehr in das Haus zu bitten. Dazu trägt jedoch auch entscheidend bei, dass das Signal beim Verlassen des Heims beim Pflegepersonal auf der Station der Betroffenen und damit einer ihr im Regelfall vertrauten Person ausgelöst wird. Beim Auftreten von Personalengpässen, etwa bedingt durch Urlaub, Krankheit, Bindung des Personals durch andere Bewohner oder einem Versuch der Betroffenen, das Heim zur Nachtzeit zu verlassen, kann dies jedoch nicht lückenlos gewährleistet werden. Da der häufige Drang der Betroffenen, das Heim zu verlassen, nach Angaben der Mitarbeiter des Heims fünf- bis sechsmal am Tag, nicht auf rationale Überlegungen bei der Betroffenen zurückzuführen ist, kann zudem nicht mit der hierfür erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden, dass die Betroffene ihr Ziel mit einem Nachdruck verfolgt, dessen Überwindung mehr erfordert als das bereits genannte Bitten oder Überreden.
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2. Die Voraussetzungen für eine Genehmigung der von der Bevollmächtigten beantragten und aus dem Tenor ersichtlichen Maßnahme liegen allerdings vor. Nach den überzeugenden und auch durch die Anhörung der Betroffenen am 16.06.2008 bestätigten Ausführungen im ärztlichen Zeugnis von Herrn Dr. F. liegt bei der Betroffenen eine psychische Krankheit im Sinne des § 1906 Abs. 1 Nr.1 BGB vor, in deren Folge sie weder örtlich noch zeitlich orientiert ist. Deshalb besteht die Gefahr, dass sie sich nach einem unbemerkten Verlassen des Heims erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, indem sie etwa in einen Verkehrsunfall verwickelt wird oder nach einem Sturz in eine hilflose Lage gerät, in der sie nicht rechtzeitig gefunden wird.
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Eine die Genehmigungsbedürftigkeit ausschließende Einwilligung (OLG Hamm, vom 08.01.1997, 15 W 398/96, BtPrax 1997, 162 und BayObLG vom 14.02.1996, 3Z BR 15/96, FamRZ 1996, 1375) ist der Betroffenen nach dem ärztlichen Zeugnis Dr. F. nicht mehr möglich.
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Die zeitliche Begrenzung der Maßnahme, die bei der Betroffenen bereits eingerichtet ist, folgt aus den §§ 70 Abs. 1 Satz 2 Nr.2, 70 f Abs. 1 Nr.3 FGG, die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit aus § 70 g Abs. 3 FGG.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 131 Abs. 3 u. 5 KostO.

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