Europäischer Gerichtshof Urteil, 10. Dez. 2015 - T-512/12

ECLI:ECLI:EU:T:2015:953
bei uns veröffentlicht am10.12.2015

URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)

10. Dezember 2015 ( *1 )

„Außenbeziehungen — Abkommen in Form eines Briefwechsels zwischen der Union und Marokko — Gegenseitige Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen — Anwendung des Abkommens auf die Westsahara — Front Polisario — Nichtigkeitsklage — Parteifähigkeit — Unmittelbare und individuelle Betroffenheit — Zulässigkeit — Übereinstimmung mit dem Völkerrecht — Begründungspflicht — Verteidigungsrechte“

In der Rechtssache T‑512/12

Front populaire pour la libération de la saguia-el-hamra et du rio de oro (Front Polisario), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwälte C.‑E. Hafiz und G. Devers, dann Rechtsanwalt Devers,

Klägerin,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch S. Kyriakopoulou, Á. de Elera-San Miguel Hurtado, A. Westerhof Löfflerová und N. Rouam als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Europäische Kommission, zunächst vertreten durch F. Castillo de la Torre, E. Paasivirta und D. Stefanov, dann durch F. Castillo de la Torre und E. Paasivirta als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

wegen Nichtigerklärung des Beschlusses 2012/497/EU des Rates vom 8. März 2012 zum Abschluss des Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko mit Maßnahmen zur gegenseitigen Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen, zur Ersetzung der Protokolle Nrn. 1, 2 und 3 und ihrer Anhänge sowie zur Änderung des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (ABl. L 241, S. 2),

erlässt

DAS GERICHT (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten D. Gratsias (Berichterstatter), der Richterin M. Kancheva und des Richters C. Wetter,

Kanzler: S. Bukšek Tomac, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2015

folgendes

Urteil

Vorgeschichte des Rechtsstreits

Zum internationalen Status der Westsahara

1

Die Westsahara ist ein Gebiet im Nordwesten Afrikas, das im Norden an Marokko, im Nordosten an Algerien und im Osten und Süden an Mauretanien grenzt, während es im Westen bis an den Atlantik reicht. Nach der Westafrikakonferenz im Jahr 1884 in Berlin (Deutschland) wurde die Westsahara eine Kolonie des Königreich Spaniens und nach dem Zweiten Weltkrieg eine spanische Provinz. Nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1956 forderte das Königreich Marokko die „Befreiung“ der Westsahara und sah das Gebiet als zu Marokko gehörend an.

2

Am 14. Dezember 1960 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) die Resolution 1514 (XV) „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“.

3

Im Jahr 1963 nahm die UNO, nachdem das Königreich Spanien entsprechende Informationen gemäß Art. 73 Buchst. e der Charta der Vereinten Nationen übermittelt hatte, die Westsahara in die Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung auf, in der sie bis heute verzeichnet ist.

4

Am 20. Dezember 1966 verabschiedete die Generalversammlung der UNO die Resolution 2229 (XXI) „Die Frage der Gebiete Ifni und Spanisch-Sahara“ und bekräftigte das „unveräußerliche Recht de[s] [Volkes] von Spanisch-Sahara auf Selbstbestimmung“. Sie forderte das Königreich Spanien als Verwaltungsmacht auf, „so bald wie möglich in Übereinstimmung mit den Erwartungen der einheimischen Bevölkerung von Spanisch-Sahara und im Benehmen mit der marokkanischen und der mauretanischen Regierung sowie mit allen anderen beteiligten Parteien die Modalitäten für die Organisation eines Referendums festzulegen, das unter der Aufsicht der [UNO] durchgeführt wird, damit die einheimische Bevölkerung dieses Gebiets ihr Recht auf Selbstbestimmung frei ausüben kann“.

5

Die Klägerin, die Front populaire pour la libération de la saguia-el-hamra et du rio de oro (Front Polisario), wurde am 10. Mai 1973 gegründet. Gemäß Art. 1 ihrer Satzung, die auf ihrem 13. Kongress im Dezember 2011 verabschiedet wurde, ist sie „eine Bewegung für die nationale Befreiung, eine Frucht des langen Widerstands der Saharauis gegen verschiedene Formen fremder Besetzung“.

6

Am 20. August 1974 teilte das Königreich Spanien der UNO mit, dass es beabsichtige, unter ihrer Aufsicht in der Westsahara ein Referendum durchzuführen.

7

Mit ihrer am 13. Dezember 1974 verabschiedeten Resolution 3292 (XXIX) „Frage zum Gebiet Spanisch-Sahara“ beschloss die Generalversammlung der UNO, ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zu der Frage einzuholen, ob es sich bei der Westsahara (Río de Oro und Sakiet el Hamra) zum Zeitpunkt der Kolonialisierung durch das Königreich Spanien um ein Niemandsland (terra nullius) handelte. Für den Fall, dass diese erste Frage verneint wird, wurde der Internationale Gerichtshof auch ersucht, zur Frage der rechtlichen Bindungen zwischen der Westsahara und dem Königreich Marokko sowie der mauretanischen Einheit Stellung zu nehmen. Die Generalversammlung der UNO forderte außerdem das Königreich Spanien, das sie als Verwaltungsmacht ansah, auf, das Referendum, das sie in der Westsahara durchführen wollte, auszusetzen, bis sie sich dazu geäußert habe, welche Politik für eine Beschleunigung des Prozesses der Entkolonialisierung des Gebiets zu verfolgen sei. Darüber hinaus bat sie den Sonderausschuss, der die Lage im Hinblick auf die Anwendung ihrer oben in Rn. 2 genannten Resolution prüfen sollte, „die Lage in diesem Gebiet zu beobachten und eine Besuchsmission in das Gebiet zu entsenden“.

8

Am 16. Oktober 1975 erstellte der Internationale Gerichtshof das von ihm erbetene Gutachten (Westsahara, Gutachten, I.C.J. Reports 1975, S. 12). Dem Gutachten zufolge handelte es sich bei der Westsahara (Río de Oro und Sakiet el Hamra) zum Zeitpunkt der Kolonialisierung durch das Königreich Spanien nicht um ein staatsrechtliches Niemandsland (terra nullius). Der Internationale Gerichtshof führte in seinem Gutachten auch aus, zwischen der Westsahara und dem Königreich Marokko sowie der mauretanischen Einheit hätten rechtliche Bindungen bestanden, aber die ihm vorliegenden Unterlagen und Auskünfte belegten nicht ein Band territorialer Souveränität zwischen der Westsahara einerseits und dem Königreich Marokko oder der mauretanischen Einheit andererseits. Er bekräftigte daher in Punkt 162 seines Gutachtens, er könne keine rechtlichen Bindungen feststellen, die zu einer Änderung der Umsetzung der Resolution 1514 (XV) der Generalversammlung der UNO vom 14. Dezember 1960 über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker (siehe oben, Rn. 2) im Hinblick auf die Entkolonialisierung der Westsahara und insbesondere der Anwendung des Grundsatzes der Selbstbestimmung auf der Basis einer freien und authentischen Willensäußerung der Bevölkerung des Gebiets führen könnten.

9

Im Herbst 1975 verschärfte sich die Situation in der Westsahara. In einer am selben Tag wie dem der Veröffentlichung des oben genannten Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs gehaltenen Rede rief der König von Marokko, der die Ansicht vertrat, dass „alle Welt“ anerkannt habe, dass die Westsahara zu Marokko gehöre, und die Marokkaner „ihr Land nur in Besitz zu nehmen“ bräuchten, zur Durchführung eines Friedensmarsches in die Westsahara auf, an dem 350000 Personen teilnahmen.

10

Der Sicherheitsrat der UNO (im Folgenden: Sicherheitsrat) rief die beteiligten und interessierten Parteien auf, Zurückhaltung und Mäßigung zu üben, und äußerte in drei Resolutionen zur Westsahara, nämlich der Resolution 377 (1975) vom 22. Oktober 1975, der Resolution 379 (1975) vom 2. November 1975 und der Resolution 380 (1975) vom 6. November 1975, seine Besorgnis über die ernste Lage in der Region. In der letzten dieser Resolutionen nahm er mit Bedauern zur Kenntnis, dass es zu dem vom König von Marokko angekündigten Marsch gekommen sei, und er forderte das Königreich Marokko auf, alle Teilnehmer des Marsches unverzüglich aus dem Gebiet der Westsahara zurückzuziehen.

11

Am 14. November 1975 unterzeichneten das Königreich Spanien, das Königreich Marokko und die Islamische Republik Mauretanien in Madrid (Spanien) eine Grundsatzerklärung zur Westsahara (Abkommen von Madrid). In dieser Erklärung wiederholte das Königreich Spanien seinen Entschluss, die Westsahara zu entkolonialisieren. Darüber hinaus wurde vereinbart, die Befugnisse und Zuständigkeiten des Königreichs Spanien als Verwaltungsmacht der Westsahara auf eine vorläufige dreiseitige Verwaltung zu übertragen.

12

Am 26. Februar 1976 setzte das Königreich Spanien den Generalsekretär der UNO davon in Kenntnis, dass es ab diesem Tag seine Präsenz im Gebiet der Westsahara beenden werde und sich von nun an für dessen Verwaltung nicht mehr als international verantwortlich ansehe. In der Zwischenzeit war zwischen dem Königreich Marokko, der Islamischen Republik Mauretanien und der Front Polisario in der Westsahara ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen.

13

Am 14. April 1976 unterzeichneten das Königreich Marokko und die Islamische Republik Mauretanien ein Abkommen über den Verlauf ihrer Grenze, mit dem sie das Gebiet der Westsahara unter sich aufteilten. Aufgrund eines im August 1979 zwischen der Islamischen Republik Mauretanien und der Front Polisario geschlossenen Friedensabkommens zog sich die Islamische Republik Mauretanien jedoch aus dem Gebiet der Westsahara zurück. Daraufhin weitete Marokko seine Besetzung auf das von Mauretanien geräumte Gebiet aus.

14

In ihrer Resolution 34/37 vom 21. November 1979„Die Frage der Westsahara“ bekräftigte die Generalversammlung der UNO „das unveräußerliche Recht des Volkes der Westsahara auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit“ und begrüßte das zwischen der Islamischen Republik Mauretanien und der Front Polisario geschlossene Friedensabkommen (siehe oben, Rn. 13). Sie äußerte außerdem ihre tiefe Betrübnis „über die Verschärfung der Lage, die durch die fortgesetzte Besetzung der Westsahara durch Marokko sowie durch die Ausdehnung dieser Besetzung auf das vor Kurzem von Mauretanien evakuierte Gebiet entstanden ist“. Sie bat das Königreich Marokko, sich auch an den Friedensbemühungen zu beteiligen, und empfahl zu diesem Zweck, dass die Front Polisario „als Vertreterin des Volkes der Westsahara ohne Einschränkungen an allen Bemühungen um eine gerechte, dauerhafte und endgültige politische Lösung der Frage der Westsahara beteiligt wird“.

15

Zwischen der Front Polisario und dem Königreich Marokko dauerte der bewaffnete Konflikt an. Am 30. August 1988 stimmten die beiden Parteien jedoch den insbesondere vom Generalsekretär der UNO unterbreiteten Vorschlägen für die Konfliktbeilegung grundsätzlich zu. Dieser Plan beruhte auf einem Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien und sah einen Übergangszeitraum vor, in dem unter der Aufsicht der UNO ein Referendum über die Selbstbestimmung organisiert werden sollte. Mit seiner Resolution 690 (1991) vom 29. April 1991„Die Situation betreffend Westsahara“ hat der Sicherheitsrat unter seiner Aufsicht eine Mission der Vereinten Nationen für die Organisation eines Referendums in der Westsahara (MINURSO) eingesetzt. Nach der Einrichtung der MINURSO wurde der zwischen dem Königreich Marokko und der Front Polisario vereinbarte Waffenstillstand weitgehend eingehalten, das Referendum wurde jedoch noch nicht durchgeführt, obwohl die Anstrengungen weiterhin in diese Richtung gehen und die Gespräche zwischen beiden Seiten fortgesetzt werden.

16

Derzeit wird der größte Teil des Gebiets der Westsahara vom Königreich Marokko kontrolliert, während die Front Polisario einen kleineren und dünn besiedelten Teil im Osten des Gebiets kontrolliert. Der von der Front Polisario kontrollierte Teil ist von dem durch das Königreich Marokko kontrollierten Teil durch einen Sandwall getrennt, der von Marokko errichtet wurde und von der marokkanischen Armee überwacht wird. Ein Großteil der Flüchtlinge aus der Westsahara wohnt in Lagern, die von der Front Polisario verwaltet werden und sich auf algerischem Gebiet nahe der Westsahara befinden.

Zum angefochtenen Beschluss und den Vorgängerbeschlüssen

17

Am 26. Februar 1996 wurde in Brüssel das Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits (ABl. 2000, L 70, S. 2, im Folgenden: Assoziierungsabkommen mit Marokko) geschlossen.

18

Gemäß Art. 1 des Assoziierungsabkommens mit Marokko wird zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (die in dem Assoziierungsabkommen zusammen „Gemeinschaft“ genannt werden) und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits eine Assoziation gegründet. Das Assoziierungsabkommen mit Marokko ist in acht Titel untergliedert, die jeweils den freien Warenverkehr, das Niederlassungsrecht und den Dienstleistungsverkehr, „Zahlungen, [den] Kapitalverkehr, [den] Wettbewerb und sonstige wirtschaftliche Bestimmungen“, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Zusammenarbeit im sozialen und kulturellen Bereich, die finanzielle Zusammenarbeit und schließlich Bestimmungen über die Organe, allgemeine und Schlussbestimmungen zum Gegenstand haben. Das Assoziierungsabkommen mit Marokko hat außerdem sieben Anhänge; in den ersten sechs Anhängen werden die Waren aufgelistet, die in bestimmten Vorschriften der Art. 10, 11 und 12 des Assoziierungsabkommens (die alle zum Titel über den freien Warenverkehr gehören) genannt werden, während der siebte Anhang das geistige, gewerbliche und kommerzielle Eigentum zum Gegenstand hat. Darüber hinaus sind dem Assoziierungsabkommen mit Marokko fünf Protokolle beigefügt, und zwar über die Regelung der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit Ursprung in Marokko in die Gemeinschaft, über die Regelung der Einfuhr von Fischereierzeugnissen mit Ursprung in Marokko in die Gemeinschaft, über die Regelung der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit Ursprung in der Gemeinschaft nach Marokko, über die Bestimmungen des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in“ oder „Ursprungserzeugnisse“ und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen und schließlich über die Amtshilfe im Zollbereich. Die Protokolle Nr. 1, 4 und 5 haben eigene Anhänge, die im Fall des Protokolls Nr. 4 über die Bestimmungen des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in“ oder „Ursprungserzeugnisse“ sehr umfangreich sind.

19

Das Assoziierungsabkommen mit Marokko, die Protokolle, die ihm als Anhänge beigefügt sind, und die der Schlussakte beigefügten Erklärungen und Briefwechsel wurden mit dem Beschluss 2000/204/EG, EGKS des Rates und der Kommission vom 24. Januar 2000 über den Abschluss des Assoziierungsabkommens mit Marokko (ABl. L 70, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl genehmigt.

20

Mit dem Beschluss 2012/497/EU des Rates vom 8. März 2012 zum Abschluss des Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko mit Maßnahmen zur gegenseitigen Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen, zur Ersetzung der Protokolle Nrn. 1, 2 und 3 und ihrer Anhänge sowie zur Änderung des Assoziierungsabkommens mit Marokko (ABl. L 241, S. 2, im Folgenden: angefochtener Beschluss) hat der Rat der Europäischen Union das Abkommen in Form eines Briefwechsels zwischen der Union und dem Königreich Marokko zur gegenseitigen Liberalisierung, zur Ersetzung der Protokolle Nrn. 1 bis 3 und ihrer Anhänge sowie zur Änderung des Assoziierungsabkommens mit Marokko im Namen der Europäischen Union genehmigt.

21

In der mit dem angefochtenen Beschluss genehmigten Fassung des Abkommens, die im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, wurde Art. 10 des Assoziierungsabkommens mit Marokko, der zu Titel II („Freier Warenverkehr“) gehört, gestrichen und wurden die Art. 7, 15, 17 und 18 dieses Titels sowie die Überschrift von Kapitel II, das ebenfalls zu diesem Titel gehört, geändert. Außerdem wurden in dem mit dem angefochtenen Beschluss genehmigten Abkommen die Protokolle Nr. 1 bis 3 des Assoziierungsabkommens mit Marokko ersetzt.

Verfahren und Anträge der Parteien

22

Mit Klageschrift, die am 19. November 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. Auf eine Aufforderung zur Behebung eines Mangels hat die Klägerin am 2. und 31. Januar 2013 u. a. einen Nachweis dafür, dass die Prozessvollmacht ihres Anwalts von einer Person erteilt worden war, die berechtigt war, im Namen der Front Polisario zu handeln, und die Satzung der Front Polisario vorgelegt.

23

Nach der Einreichung der Klagebeantwortung des Rates am 16. April 2013 hat das Gericht die Klägerin im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme aufgefordert, verschiedene Fragen zu beantworten. In diesem Zusammenhang hat es sie insbesondere gebeten, anhand von Beweisen klarzustellen, ob sie eine juristische Person nach dem Recht eines international anerkannten Staates ist. Außerdem wurde sie aufgefordert, zu den Ausführungen des Rates in seiner Klagebeantwortung Stellung zu nehmen, denen zufolge die Klage als unzulässig abzuweisen sei.

24

Mit Schriftsatz, der am 26. September 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin auf die Fragen des Gerichts geantwortet.

25

Mit Beschluss des Präsidenten der Achten Kammer des Gerichts vom 6. November 2013 ist die Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden. Sie hat ihren Streithilfeschriftsatz am 17. Dezember 2013 eingereicht. Der Rat und die Klägerin haben am 24. Januar bzw. 20. Februar 2014 ihre Stellungnahmen zu diesem Schriftsatz eingereicht.

26

Das Gericht (Achte Kammer) hat auf Vorschlag des Berichterstatters beschlossen, das mündliche Verfahren zu eröffnen. Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen hat es den Rat und die Kommission aufgefordert, eine Frage zu beantworten. Diese haben innerhalb der gesetzten Frist geantwortet.

27

Mit Schriftsatz, der am 2. Juni 2015 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin beantragt, drei bis dahin nicht vorgelegte, von ihr für die Entscheidung des Rechtsstreits als erheblich angesehene Dokumente zu den Akten geben zu dürfen. Mit Beschluss vom 12. Juni 2015 hat der Präsident der Achten Kammer des Gerichts entschieden, diesen Antrag und die ihm als Anhang beigefügten Unterlagen zu den Akten zu nehmen.

28

Der Beklagte und die Streithelferin haben in der mündlichen Verhandlung zu den fraglichen Dokumenten Stellung genommen. In diesem Zusammenhang hat der Rat geltend gemacht, sie seien verspätet vorgelegt worden und enthielten jedenfalls keine neuen Gesichtspunkte für die Erörterung. Die Kommission hat ihrerseits Vorbehalte hinsichtlich der Relevanz dieser Dokumente für die Entscheidung des Rechtsstreits geäußert.

29

Die Klägerin beantragt, den angefochtenen Beschluss „und infolgedessen alle Durchführungsmaßnahmen“ für nichtig zu erklären.

30

In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Klägerin jedoch erklärt, bei der Bezugnahme auf „alle Durchführungsmaßnahmen“ handle es sich um einen Schreibfehler und der Antrag der Klägerin sei dahin zu verstehen, dass sie nur die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses begehre. Diese Erklärung ist im Sitzungsprotokoll vermerkt worden.

31

Im Übrigen hat die Klägerin in ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz der Kommission insbesondere beantragt, dem Rat und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

32

Der Rat beantragt,

die Klage als unzulässig abzuweisen;

für den Fall, dass das Gericht die Klage für zulässig erachtet, diese als unbegründet abzuweisen;

der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

33

Die Kommission unterstützt den Antrag des Rates, die Klage als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet abzuweisen, und beantragt außerdem, der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

Zur Zulässigkeit

Zur Parteifähigkeit der Front Polisario

34

Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV kann jede natürliche oder juristische Person unter den Bedingungen nach den Abs. 1 und 2 gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben.

35

Art. 44 § 5 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991, die zum Zeitpunkt der Klageerhebung anwendbar war, lautete:

„Juristische Personen des Privatrechts haben mit der Klageschrift ferner

a)

ihre Satzung oder einen neueren Auszug aus dem Handelsregister oder einen neueren Auszug aus dem Vereinsregister oder einen anderen Nachweis ihrer Rechtspersönlichkeit einzureichen;

b)

den Nachweis vorzulegen, dass die Prozessvollmacht ihres Anwalts von einem hierzu Berechtigten ordnungsgemäß ausgestellt ist.“

36

Gemäß Art. 44 § 6 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 setzt außerdem der Kanzler, wenn die Klageschrift nicht den §§ 3 bis 5 dieser Vorschrift entspricht, dem Kläger eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels oder zur Beibringung der vorgeschriebenen Unterlagen.

37

Die Klägerin trägt in ihrer Klageschrift vor, sie sei „ein Völkerrechtssubjekt, das über Völkerrechtspersönlichkeit verfügt, wie sie nationalen Befreiungsbewegungen nach dem Völkerrecht zuerkannt wird“. Unter Bezugnahme auf verschiedene Texte, die sie der Klageschrift beigefügt hat, macht sie außerdem geltend, sie sei „von den Organen der UNO und der Europäischen Union sowie [vom Königreich] Marokko für die Verhandlungen als Vertreterin des saharauischen Volkes anerkannt“. Außerdem hätten sowohl der Sicherheitsrat als auch die Generalversammlung der UNO die Gültigkeit des Friedensabkommens, das sie im August 1979 mit Mauretanien geschlossen habe (siehe oben, Rn. 13), anerkannt. Zuletzt beruft sie sich auf den Umstand, dass das Europäische Parlament in zwei Entschließungen sowohl sie als auch das Königreich Marokko aufgefordert habe, umfassend mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und der UNO zusammenzuarbeiten.

38

Die Klägerin hatte ihrer Klageschrift keine Dokumente beigefügt, wie sie in Art. 44 § 5 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 vorgeschrieben sind. Nachdem die Kanzlei ihr eine Frist zur Behebung des Mangels der Klageschrift gesetzt hat, hat die Klägerin Auszüge aus ihrer Satzung, die Prozessvollmacht ihres Anwalts, die von einer hierzu aufgrund dieser Satzung berechtigten Person, nämlich von ihrem Generalsekretär, erteilt worden war, und einen Nachweis dafür, dass dieser gewählt war, vorgelegt. Sie hat dagegen keine weiteren Dokumente vorgelegt, um nachzuweisen, dass sie über Rechtspersönlichkeit verfügt.

39

Unter diesen Umständen hat das Gericht die oben in Rn. 23 genannten prozessleitenden Maßnahmen beschlossen.

40

Die Klägerin hat die Fragen des Gerichts wie folgt beantwortet:

„Die Front Polisario ist nicht als eine juristische Person nach dem Recht eines international anerkannten oder nicht anerkannten Staates gegründet. Genauso wenig wie ein ausländischer Staat oder die Europäische Union selbst kann die Front Polisario ihre rechtliche Existenz auf das nationale Recht eines Staates stützen.“

41

Sie hat außerdem erklärt, sie sei ein „Völkerrechtssubjekt“, und hinzugefügt:

„[D]ie Front Polisario muss in keiner Weise nachweisen, dass sie nach dem nationalen Recht eines international anerkannten Staates gegründet wurde. Als Verkörperung der Souveränität des saharauischen Volkes kann sie ihre Existenz nicht von der Rechtsordnung der einstigen Kolonialmacht, dem Königreich Spanien, abhängig machen, die seit 40 Jahren gegen alle ihre internationalen Verpflichtungen verstößt, und erst recht nicht von der Besatzungsmacht, Marokko, die ihre Rechtsordnung rechtswidrig mit Waffengewalt aufzwingt …“.

42

Der Rat macht geltend, die Klägerin habe „nicht nachgewiesen, dass sie die für die Erhebung der vorliegenden Klage erforderliche Parteifähigkeit besitzt“. Er ist der Ansicht, die Klägerin setze ihre Eigenschaft als Vertreterin des Volkes der Westsahara mit der Rechtspersönlichkeit nach dem Völkerrecht gleich, die souveränen Staaten zukomme. Der Rat bestreitet, dass diese beiden Ansätze vergleichbar sind und die Klägerin einem Staat gleichgestellt werden kann.

43

Der Rat führt weiter aus, selbst wenn die Klägerin als nationale Befreiungsbewegung anerkannt wäre und daher Rechtspersönlichkeit besäße, bedeutete dies nicht automatisch, dass sie parteifähig wäre und vor den Unionsgerichten Klage erheben könnte. Der Umstand, dass die UNO die Klägerin als Vertreterin des Volkes der Westsahara anerkenne, berechtige diese höchstens, an den von der UNO geführten Verhandlungen über den Status der Westsahara teilzunehmen und zwar, zusammen mit dem Königreich Marokko, in der Rolle eines Gesprächspartners der UNO. Diese Anerkennung gewähre ihr jedoch nicht Zugang zu Gerichten (locus standi), die nicht mit Fragen im Zusammenhang mit der UNO befasst und für die Lösung des internationalen Konflikts zwischen ihr und dem Königreich Marokko nicht zuständig seien.

44

Die Kommission erklärt, sie bestreite nicht „die Rolle der Front Polisario als Vertreterin des saharauischen Volkes, die ihr von der Generalversammlung der UNO zuerkannt worden ist“.

45

Sie fügt jedoch hinzu:

„[D]ie Rechtspersönlichkeit der Front Polisario ist zweifelhaft. Als Vertreterin des saharauischen Volkes hat sie allenfalls eine funktionale und vorübergehende Rechtspersönlichkeit.“

46

Zum Vorbringen der Parteien ist zunächst klarzustellen, dass es im vorliegenden Fall weder um die Feststellung geht, ob die Front Polisario als „nationale Befreiungsbewegung“ angesehen werden kann, noch darum, ob eine solche Einstufung, deren Richtigkeit vorausgesetzt, ausreicht, um ihr Rechtspersönlichkeit zu verleihen. Die Frage, die das Gericht zu entscheiden hat, ist, ob die Front Polisario vor ihm Partei sein kann, um gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zu beantragen.

47

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Wortlaut des Art. 263 Abs. 4 AEUV hervorgeht, dass nur natürliche Personen und Einheiten mit Rechtspersönlichkeit nach dieser Bestimmung eine Nichtigkeitsklage erheben können. In seinem Urteil vom 27. November 1984, Bensider u. a./Kommission (50/84, Slg, EU:C:1984:365, Rn. 9), hat der Gerichtshof der Europäischen Union daher eine Klage als unzulässig abgewiesen, da sie von einer Handelsgesellschaft erhoben worden war, die zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch keine Rechtspersönlichkeit erlangt hatte.

48

In seinem Urteil vom 28. Oktober 1982, Groupement des Agences de voyages/Kommission (135/81, Slg, EU:C:1982:371, Rn. 10), hat der Gerichtshof jedoch ausgeführt, dass der Begriff der „juristischen Person“, wie er in Art. 263 Abs. 4 AEUV verwendet wird, nicht notwendigerweise mit den Begriffen übereinstimmt, die in den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verwendet werden. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hat der Gerichtshof daher die Klage einer „Gelegenheitsvereinigung von zehn Reiseagenturen, die sich zusammengeschlossen hatten, um sich gemeinsam an einer Ausschreibung zu beteiligen“, gegen eine Entscheidung der Kommission, diese Vereinigung bei einer Ausschreibung nicht zu berücksichtigen, für zulässig erklärt. Hierzu hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Kommission selbst das von der betreffenden Vereinigung eingereichte Angebot als zulässig anerkannt und nach einer vergleichenden Prüfung aller Bieter abgelehnt hat. Dem Gerichtshof zufolge konnte die Kommission infolgedessen nicht die Klagebefugnis einer Vereinigung bestreiten, die sie zur Teilnahme an einer Ausschreibung zugelassen und an die sie nach einer vergleichenden Prüfung aller Bieter eine ablehnende Entscheidung gerichtet hat (Urteil Groupement des Agences de voyages/Kommission, EU:C:1982:371, Rn. 9 bis 12).

49

In seinen Urteilen vom 8. Oktober 1974, Gewerkschaftsbund/Rat (175/73, Slg, EU:C:1974:95, Rn. 9 bis 17) und Allgemeine Gewerkschaft der Europäischen Beamten/Kommission (18/74, Slg, EU:C:1974:96, Rn. 5 bis 13), hat der Gerichtshof ebenfalls mehrere Aspekte genannt – nämlich erstens die Tatsache, dass die Unionsbeamten Vereinigungsfreiheit haben und insbesondere Gewerkschaften oder Berufsverbänden angehören können, zweitens den Umstand, dass es sich bei den Klägern der beiden Rechtssachen um Gewerkschaften handelte, der eine große Zahl von Beamten und Bediensteten der Unionsinstitutionen angehörten, drittens die Tatsache, dass sie nach ihrer Satzung so verfasst waren, dass sie die erforderliche Autonomie besaßen, um im Rechtsverkehr als verantwortliche Einheiten aufzutreten, und viertens den Umstand, dass die Kommission sie bei Verhandlungen als Gesprächspartner anerkannt hat –, aufgrund derer er zu dem Ergebnis gelangt ist, dass diesen Klägern die Parteifähigkeit vor den Unionsgerichten für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gemäß den in Art. 263 Abs. 4 AEUV vorgesehenen Bedingungen nicht abgesprochen werden kann.

50

Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 18. Januar 2007, PKK und KNK/Rat (C‑229/05 P, Slg, EU:C:2007:32, Rn. 109 bis 112), die Nichtigkeitsklage einer Körperschaft, die restriktiven Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus unterlegen war, für zulässig erklärt hat, ohne die Frage zu erörtern, ob diese Körperschaft über Rechtspersönlichkeit verfügte. Wie der Gerichtshof unter Hinweis auf die Rechtsprechung, wonach die Union eine Rechtsunion ist, ausgeführt hat, gebieten, wenn der Unionsgesetzgeber die Auffassung vertreten hat, dass die betreffende Körperschaft in ausreichendem Maß besteht, um den in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen unterworfen zu werden, die Kohärenz und die Gerechtigkeit es, festzustellen, dass diese Einheit diese Entscheidung anfechten kann. Andernfalls könnte eine Organisation in die fragliche Liste aufgenommen werden, ohne dagegen Klage erheben zu können.

51

Die vorstehend genannte Rechtsprechung zeigt zwar, dass die Unionsgerichte eine Einheit als vor ihnen parteifähig ansehen können, die nicht über eine Parteifähigkeit verfügt, wie sie nach dem Recht eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats gewährt wird, oder die im Hinblick auf dieses Recht noch nicht einmal Rechtspersönlichkeit hat, doch hat der Gerichtshof in seinem Beschluss vom 14. November 1963, Lassalle/Parlament (15/63, Slg, EU:C:1963:47, S. 107, 110), ausgeführt, dass zu den Merkmalen, an die die Parteifähigkeit vor den Unionsgerichten anknüpft, vornehmlich eine, wenn auch beschränkte, Autonomie und Verantwortlichkeit zu rechnen sind, und er hat den Antrag der Personalvertretung des Parlaments auf Zulassung als Streithelferin als unzulässig abgewiesen, da sie ihm zufolge diese Merkmale nicht erfüllte. Diese Überlegung spiegelt sich auch in der oben in Rn. 49 genannten Rechtsprechung wider, da sie die Feststellung des Gerichtshofs erklärt, dass die Gewerkschaften, die in den betreffenden Rechtssachen Klage eingereicht hatten, nach ihrer Satzung so verfasst waren, dass sie die erforderliche Autonomie besaßen, um im Rechtsverkehr als verantwortliche Einheiten aufzutreten.

52

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass in bestimmten Einzelfällen eine Einheit, die nicht über Rechtspersönlichkeit nach dem Recht eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats verfügt, dennoch als „juristische Person“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV angesehen werden und befugt sein kann, auf der Grundlage dieser Bestimmung eine Nichtigkeitsklage zu erheben (vgl. in diesem Sinne Urteile Groupement des Agences de voyages/Kommission, oben in Rn. 48 angeführt, EU:C:1982:371, Rn. 9 bis 12, sowie PKK und KNK/Rat, oben in Rn. 50 angeführt, EU:C:2007:32, Rn. 109 bis 112). Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Union und ihre Organe bei ihren Entscheidungen oder Handlungen die betreffende Einheit als ein eigenständiges Subjekt behandeln, das eigene Rechte haben oder Verpflichtungen oder Beschränkungen unterliegen kann.

53

Dies setzt jedoch voraus, dass die betreffende Einheit nach ihrer Satzung und internen Struktur so verfasst ist, dass sie die erforderliche Autonomie besitzt, um im Rechtsverkehr als verantwortliche Einheit aufzutreten (vgl. in diesem Sinne Beschluss Lassalle/Parlament, oben in Rn. 51 angeführt, EU:C:1963:47, S. 110, und Urteile Gewerkschaftsbund/Rat, oben in Rn. 49 angeführt, EU:C:1974:95, Rn. 9 bis 17, und Allgemeine Gewerkschaft der Europäischen Beamten/Kommission, oben in Rn. 49 angeführt, EU:C:1974:96, Rn. 5 bis 13).

54

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die vorstehend in Rn. 53 genannten Voraussetzungen in Bezug auf die Front Polisario erfüllt sind. Diese hat nämlich eine eigene Satzung, von der sie eine Kopie vorgelegt hat, und verfügt über eine feste interne Struktur, zu der insbesondere ein Generalsekretär gehört, der ihrem Rechtsbeistand für die Erhebung der vorliegenden Klage das Mandat erteilt hat. Offensichtlich erlaubt ihr diese Struktur, im Rechtsverkehr als verantwortliche Einheit aufzutreten, zumal sie, wie die verschiedenen von ihr angeführten Dokumente belegen, an den unter Federführung der UNO geführten Verhandlungen teilgenommen und sogar mit einem international anerkannten Staat, nämlich der Islamischen Republik Mauretanien, ein Friedensabkommen geschlossen hat.

55

Was die oben in Rn. 52 genannten Erwägungen anbelangt, war die Front Polisario zwar nicht Adressat von Entscheidungen der Union oder ihrer Organe, die denjenigen vergleichbar wären, die Gegenstand der Rechtssachen waren, die zu den Urteilen Groupement des Agences de voyages/Kommission, oben in Rn. 48 angeführt (EU:C:1982:371), und PKK und KNK/Rat, oben in Rn. 50 angeführt (EU:C:2007:32), geführt haben. Die beiden von ihr angeführten Entschließungen des Parlaments (siehe oben, Rn. 37) sind anderer Art und erzeugen, zumindest in Bezug auf sie, keine verbindlichen Rechtswirkungen.

56

Gleichwohl ist die Westsahara, wie aus den oben in den Rn. 1 bis 16 wiedergegebenen Informationen hervorgeht, ein Territorium, dessen internationaler Status gegenwärtig ungeklärt ist. Sowohl das Königreich Marokko als auch die Klägerin beanspruchen das Gebiet für sich, und die UNO arbeitet seit Langem an einer friedlichen Lösung dieses Konflikts. Wie aus den Schriftsätzen des Rates und der Kommission hervorgeht, sehen sowohl die Union als auch ihre Mitgliedstaaten von jeglicher Einmischung und Parteinahme in dieser Auseinandersetzung ab und werden gegebenenfalls jede Lösung akzeptieren, die gemäß dem Völkerrecht unter Federführung der UNO vereinbart wird. Die Kommission merkt hierzu an, sie unterstütze die Bemühungen des Generalsekretärs der UNO um eine gerechte, dauerhafte und für beide Seiten akzeptable politische Lösung, die die Selbstbestimmung der Bevölkerung der Westsahara ermöglicht. Sie führt weiter aus, dass „[b]is dahin … die Westsahara ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung [ist], das de facto vom Königreich Marokko verwaltet wird“.

57

Erstens ist daher festzustellen, dass die Klägerin eine der Parteien ist, die an der Auseinandersetzung hinsichtlich des Schicksals dieses Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung beteiligt sind, und dass sie als Partei dieser Streitigkeit in den damit zusammenhängenden Dokumenten, einschließlich der oben in Rn. 37 angeführten Entschließungen des Parlaments, namentlich genannt wird.

58

Zweitens ist auch festzustellen, dass sich die Front Polisario gegenwärtig nicht formell als juristische Person des Rechts der Westsahara konstituieren kann, da dieses Recht noch nicht existiert. Zwar verwaltet das Königreich Marokko, wie die Kommission ausführt, de facto praktisch das gesamte Gebiet der Westsahara, dies sind jedoch tatsächliche Umstände, gegen die sich die Front Polisario wendet und die dem Konflikt zwischen ihr und dem Königreich Marokko, den die UNO zu lösen sucht, gerade zugrunde liegen. Die Front Polisario könnte sich zwar nach dem Recht eines Drittstaats als juristische Person konstituieren, doch kann auch dies nicht von ihr verlangt werden.

59

Drittens ist schließlich darauf hinzuweisen, dass der Rat und die Kommission selbst anerkennen, dass der internationale Status und die rechtliche Situation der Westsahara die oben in Rn. 58 genannten Besonderheiten aufweisen, und sie der Ansicht sind, dass der endgültige Status dieses Gebiets und damit das dort anwendbare Recht im Rahmen eines Friedensprozesses unter der Aufsicht der UNO festzulegen sind. Gerade die UNO ist aber der Ansicht, dass der Front Polisario als Beteiligte an einem solchen Prozess eine wesentliche Rolle zukommt.

60

Angesichts dieser ganz außergewöhnlichen Umstände ist zu folgern, dass die Front Polisario als eine „juristische Person“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV anzusehen ist und vor den Unionsgerichten eine Nichtigkeitsklage erheben kann, obwohl sie nicht über Rechtspersönlichkeit nach dem Recht eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats verfügt. Wie oben ausgeführt, kann sie eine solche Rechtspersönlichkeit nämlich nur nach dem Recht der Westsahara erlangen, die jedoch gegenwärtig keinen von der Union und ihren Mitgliedstaaten anerkannten Staat darstellt und nicht über ein eigenes Recht verfügt.

Zur unmittelbaren und individuellen Betroffenheit der Front Polisario durch den angefochtenen Beschluss

61

Die Klägerin macht geltend, sie sei von dem angefochtenen Beschluss „wegen ihrer besonderen rechtlichen Eigenschaften individuell betroffen, denn sie sei die rechtmäßige Vertreterin des saharauischen Volkes und als solche von der UNO und der Union anerkannt“. Sie fügt hinzu, „nur sie allein kann die Bevölkerung vertreten“, die im Gebiet der Westsahara lebe.

62

Sie führt weiter aus, der angefochtene Beschluss „wirkt sich unmittelbar auf die rechtliche Situation des saharauischen Volkes aus, da er den Mitgliedstaaten keinerlei Ermessen in Bezug auf die Anwendung“ des Abkommens lasse, auf das sich der Beschluss beziehe. Die Klägerin ist der Ansicht, die Umsetzung des Abkommens erfordere nicht den Erlass von Umsetzungsmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten und jeder Mitgliedstaat, das Königreich Marokko und jedes Unternehmen könne sich auf die unmittelbare Wirkung des angefochtenen Beschlusses berufen.

63

Der Rat, unterstützt durch die Kommission, bestreitet, dass die Klägerin durch den angefochtenen Beschluss unmittelbar und individuell betroffen ist.

64

Zur unmittelbaren Betroffenheit macht der Rat geltend, es sei schwierig zu verstehen, wie sich der angefochtene Beschluss, der den Abschluss eines internationalen Abkommens zwischen der Union und dem Königreich Marokko betreffe, unmittelbar auf die Rechtsstellung der Klägerin auswirken könne. Der Rat ist der Ansicht, der Beschluss könne seiner Art nach keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugen, da mit ihm lediglich ein internationales Abkommen im Namen der Union genehmigt werde. Rechtliche Wirkungen entfalte er nur in Bezug auf die Union und ihre Organe und nicht in Bezug auf Dritte.

65

Zur individuellen Betroffenheit der Klägerin trägt der Rat vor, mit dem angefochtenen Beschluss solle ein Abkommen zwischen dem Königreich Marokko und der Union geschlossen werden und er betreffe nur diese beiden Rechtssubjekte individuell.

66

Außerdem hänge das Bestehen eines Konflikts zwischen der Klägerin und dem Königreich Marokko nicht mit dem angefochtenen Beschluss zusammen und sei auch sonst nicht von dem mit ihm geschlossenen Abkommen betroffen.

67

Es ist daran zu erinnern, dass Art. 263 Abs. 4 AEUV zwei Fälle anführt, in denen einer natürlichen oder juristischen Person die Befugnis zuerkannt wird, gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung Klage zu erheben. Zum einen kann eine derartige Klage erhoben werden, wenn diese Handlung die Person unmittelbar und individuell betrifft. Zum anderen kann eine solche Person gegen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, klagen, sofern dieser Rechtsakt sie unmittelbar betrifft (Urteile vom 19. Dezember 2013, Telefónica/Kommission,C‑274/12 P, Slg, EU:C:2013:852, Rn. 19, und vom 27. Februar 2014, Stichting Woonlinie u. a./Kommission,C‑133/12 P, Slg, EU:C:2014:105, Rn. 31).

68

Nach der Rechtsprechung ist der Begriff „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV dahin zu verstehen, dass er mit Ausnahme der Gesetzgebungsakte jede Handlung mit allgemeiner Geltung erfasst (Urteil vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, Slg, EU:C:2013:625, Rn. 60 und 61).

69

Die Unterscheidung zwischen einem Gesetzgebungsakt und einem Rechtsakt mit Verordnungscharakter beruht nach dem AEU-Vertrag auf dem Kriterium, ob er im Gesetzgebungsverfahren ergangen ist (Beschluss vom 6. September 2011, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, T‑18/10, Slg, EU:T:2011:419, Rn. 65).

70

Hierzu ist anzumerken, dass in Art. 289 Abs. 3 AEUV klargestellt wird, dass Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, Gesetzgebungsakte sind. Es wird zwischen dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unterschieden, das, wie in Art. 289 Abs. 1 Satz 2 AEUV ausgeführt, in Art. 294 AEUV festgelegt ist, und den besonderen Gesetzgebungsverfahren. Hierzu heißt es in Art. 289 Abs. 2 AEUV, dass in bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen als besonderes Gesetzgebungsverfahren die Annahme insbesondere eines Beschlusses durch den Rat mit Beteiligung des Parlaments erfolgt.

71

Im vorliegenden Fall wurde der angefochtene Beschluss, wie aus seiner Einleitung hervorgeht, nach dem in Art. 218 Abs. 6 Buchst. a AEUV festgelegten Verfahren erlassen, dem zufolge der Rat auf Vorschlag des Verhandlungsführers, im vorliegenden Fall der Kommission, den Beschluss über den Abschluss einer Übereinkunft nach Zustimmung des Parlaments erlässt. Dieses Verfahren erfüllt die in Art. 289 Abs. 2 AEUV festgelegten Kriterien und ist folglich ein besonderes Gesetzgebungsverfahren.

72

Daraus folgt, dass der angefochtene Beschluss ein Gesetzgebungsakt ist und damit kein Rechtsakt mit Verordnungscharakter. Daher ist vorliegend der erste der beiden oben in Rn. 67 genannten Fälle einschlägig. Da der angefochtene Beschluss nicht an die Klägerin gerichtet ist, ist folglich, damit die vorliegende Klage zulässig ist, nachzuweisen, dass der betreffende Beschluss sie unmittelbar und individuell betrifft.

73

Für die Prüfung dieser Frage ist festzustellen, ob das Abkommen, dessen Abschluss mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt wurde, auf das Gebiet der Westsahara Anwendung findet, da die Klägerin als Partei des Prozesses zur Regelung des Schicksals des fraglichen Gebiets (siehe oben, Rn. 57) und aufgrund ihres Anspruchs, die rechtmäßige Vertreterin des saharauischen Volkes zu sein (siehe oben, Rn. 61), von der angefochtenen Handlung unmittelbar und individuell betroffen sein könnte.

74

Hierzu machen der Rat und die Kommission geltend, das Assoziierungsabkommen mit Marokko gelte gemäß seinem Art. 94 für das Gebiet des Königreichs Marokko. Der Rat ist der Ansicht, das Assoziierungsabkommen mit Marokko greife, da in diesem Artikel das Gebiet des Königreichs Marokko nicht definiert werde, dem rechtlichen Status der Westsahara nicht vor und führe nicht zu einer formellen Anerkennung der Ansprüche, die das Königreich Marokko hinsichtlich dieses Gebiets geltend mache. In keiner Bestimmung des angefochtenen Beschlusses oder des mit ihm genehmigten Abkommens sei vorgesehen, dass sich der Anwendungsbereich des Abkommens auch auf die Westsahara erstrecke.

75

Die Kommission verweist hierzu auf die Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, die mit der Resolution 2625 (XXV) der Generalversammlung der UNO vom 24. Oktober 1970 gebilligt wurde, nach der „[d]as Gebiet einer Kolonie oder eines anderen Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung … nach der Charta [der Vereinten Nationen] einen vom Hoheitsgebiet des Staates, von dem es verwaltet wird, gesonderten und unterschiedlichen Status [hat]“ und nach der „dieser gesonderte und unterschiedliche Status nach [dieser] Charta … so lange bestehen [bleibt], bis das Volk der Kolonie oder des Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung sein Recht auf Selbstbestimmung im Einklang mit der Charta [der Vereinten Nationen] und insbesondere mit ihren Zielen und Grundsätzen ausgeübt hat“. Nach Ansicht der Kommission folgt hieraus, dass ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung nicht Teil des Staates ist, der es verwaltet, sondern einen eigenen völkerrechtlichen Status hat. Internationale Abkommen, die die Verwaltungsmacht eines Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung geschlossen habe, würden nicht auf dieses Gebiet angewandt, es sei denn, dies wäre ausdrücklich vereinbart. Die Kommission macht daher geltend, im vorliegenden Fall gelte das Assoziierungsabkommen mit Marokko mangels einer solchen Ausweitung nur für Ursprungswaren des Königreichs Marokko, einem Staat, zu dem nach dem Völkerrecht die Westsahara nicht gehöre.

76

Die Front Polisario entgegnet, das Königreich Marokko verwalte die Westsahara nicht gemäß Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen, sondern halte sie militärisch besetzt. Aus Sicht der UNO sei nach wie vor das Königreich Spanien die Verwaltungsmacht der Westsahara. Das Königreich Marokko sei eine Besatzungsmacht im Sinne des humanitären Völkerrechts.

77

Die Front Polisario fügt hinzu, das Königreich Marokko wende auf die Westsahara die mit der Union geschlossenen Abkommen an, einschließlich des Assoziierungsabkommens mit Marokko. Dies sei eine offenkundige Tatsache, die sowohl dem Rat als auch der Kommission bekannt sei. Die Front Polisario führt mehrere Belege hierfür an.

78

Erstens nennt sie die gemeinsame Antwort der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Kommission, Frau Catherine Ashton, im Namen der Kommission auf die schriftlichen Anfragen E-001004/11, P-001023/11 und E-002315/11 von Abgeordneten des Parlaments (ABl. 2011, C 286 E, S. 1).

79

Zweitens gehe aus verschiedenen Dokumenten hervor, die auf der Internetseite der Generaldirektion „Gesundheit und Lebensmittelsicherheit“ der Kommission abrufbar seien, dass das zu dieser Generaldirektion gehörende Lebensmittel- und Veterinäramt nach dem Abschluss des Assoziierungsabkommens mit Marokko mehrere Besuche in der Westsahara unternommen habe, um sich zu vergewissern, dass die marokkanischen Behörden die von der Union festgelegten Gesundheitsstandards einhielten.

80

Drittens enthalte die auf der Internetseite der Kommission veröffentlichte Liste der aufgrund des Assoziierungsabkommens mit Marokko ermächtigten marokkanischen Ausführer insgesamt 140 Unternehmen, die in der Westsahara ansässig seien.

81

Der Rat, der im Rahmen prozessleitender Maßnahmen aufgefordert wurde, zu den vorstehenden Ausführungen der Front Polisario Stellung zu nehmen, erklärte, er unterstütze ohne Einschränkung die Bemühungen der UNO um eine tragfähige und dauerhafte Lösung der Westsahara-Frage und kein Unionsorgan habe bisher de facto oder de iure eine wie auch immer geartete Souveränität Marokkos über das Gebiet der Westsahara anerkannt.

82

Die Organe der Union könnten jedoch, so der Rat, nicht die tatsächlichen Verhältnisse übergehen, dass nämlich das Königreich Marokko die Staatsmacht sei, die de facto die Westsahara verwalte. In Bezug auf das Gebiet der Westsahara bedeute dies daher, dass sich die Union an die marokkanischen Behörden wenden müsse, die einzigen Behörden, die die Bestimmungen des Abkommens in diesem Gebiet – unter Berücksichtigung der Interessen und Rechte des saharauischen Volkes – umsetzen könnten. Dies begründe jedoch keinerlei Anerkennung, weder de facto noch de iure, einer wie auch immer gearteten Souveränität des Königreichs Marokko über das Gebiet der Westsahara.

83

Die Kommission gab in diesem Zusammenhang insbesondere an, dass die gemeinsame Antwort auf die schriftlichen Anfragen E-1004/11, P-1023/11 und E-2315/11 von Abgeordneten des Parlaments zeige, dass für Ausfuhren aus der Westsahara „tatsächlich“ (und nicht rechtlich) Handelspräferenzen gewährt würden, und dass sie auf die Verpflichtungen des Königreichs Marokko als „tatsächlicher Verwaltungsmacht“ des Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung hinweise. Der Kommission zufolge kann darin keine wie auch immer geartete Anerkennung einer Annexion der Westsahara durch das Königreich Marokko oder einer Souveränität Marokkos über dieses Gebiet gesehen werden.

84

Zu den oben in Rn. 79 genannten Dokumenten führte die Kommission aus, es handle sich um Berichte rein technischer Art ihres Lebensmittel- und Veterinäramts. Sie fügte hinzu, solche Hygieneuntersuchungen seien für jedes Erzeugnis erforderlich, das in die Union eingeführt werden solle, unabhängig davon, ob für das Erzeugnis ein Assoziierungsabkommen gelte. Fehlten solche Untersuchungen, könnten keine Erzeugnisse aus dem betreffenden Gebiet in die Union ausgeführt werden, was nicht im Interesse der dort lebenden Bevölkerung sei. Dass die marokkanischen Behörden in diesen Berichten als „zuständige Behörden“ bezeichnet würden, gebe nur den Status des Königreichs Marokko als Staatsmacht wieder, die de facto die Westsahara verwalte, und bedeute keinerlei Anerkennung seiner Oberhoheit.

85

Die Kommission ist der Ansicht, die Front Polisario könne nicht ernsthaft behaupten – es sei denn, sie wolle jegliche Ausfuhr aus der Westsahara ausschließen –, dass das Lebensmittel- und Veterinäramt im Bereich der öffentlichen Gesundheit in der Westsahara nur sie als Gesprächspartner betrachten müsse. Die Front Polisario übe in dem betreffenden Gebiet keine tatsächliche Macht aus und könne nicht sicherstellen, dass bei den Ausfuhren die Bestimmungen über die öffentliche Gesundheit eingehalten würden.

86

Schließlich bestätigte die Kommission im Wesentlichen, dass die in der Westsahara ansässigen Unternehmen in der oben in Rn. 80 genannten Liste der ermächtigten Ausführer aufgeführt seien. Sie gab jedoch an, aus „Gründen der Zweckmäßigkeit“ nehme die fragliche Liste auf die Regionen Bezug, wie sie vom Königreich Marokko festgelegt worden seien, ohne dass dies ein Zeichen für eine wie auch immer geartete Anerkennung einer Annexion sei.

87

In der mündlichen Verhandlung haben darüber hinaus sowohl der Rat als auch die Kommission auf eine Frage des Gerichts erklärt, dass das Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss beziehe, de facto auf das Gebiet der Westsahara angewandt werde. Diese Erklärung wurde im Sitzungsprotokoll vermerkt.

88

Die oben in Rn. 73 gestellte Frage verlangt letztlich eine Auslegung des Abkommens, dessen Abschluss mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt wurde.

89

Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein vom Rat gemäß den Art. 217 AEUV und 218 AEUV geschlossenes Abkommen mit einem Drittstaat für die Union eine Handlung eines Unionsorgans im Sinne von Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV darstellt, sodann, dass die Bestimmungen eines solchen Abkommens ab dessen Inkrafttreten Bestandteil des Unionsrechts sind, und schließlich, dass die Gerichte der Union in dem durch diese Rechtsordnung gesteckten Rahmen zur Entscheidung über die Auslegung dieses Abkommens befugt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2010, Brita,C‑386/08, Slg, EU:C:2010:91, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

90

Im Übrigen wird das zwischen zwei Völkerrechtssubjekten geschlossene Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, durch das Völkerrecht, und zwar, im Hinblick auf seine Auslegung, durch das Völkervertragsrecht geregelt (vgl. in diesem Sinne Urteil Brita, oben in Rn. 89 angeführt, EU:C:2010:91, Rn. 39).

91

Das Völkervertragsrecht wurde im Wesentlichen im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 kodifiziert (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331) (im Folgenden: Wiener Übereinkommen).

92

Die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens sind auf ein zwischen einem Staat und einer internationalen Organisation geschlossenes Abkommen wie das Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, anzuwenden, soweit diese Bestimmungen eine Ausprägung des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Brita, oben in Rn. 89 angeführt, EU:C:2010:91, Rn. 41). Das Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, ist daher nach diesen Bestimmungen auszulegen.

93

Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Wiener Übereinkommen zwar weder die Union noch alle Mitgliedstaaten bindet, eine Reihe seiner Bestimmungen jedoch die Regeln des Völkergewohnheitsrechts wiedergibt, die als solche die Organe der Union binden und Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind (vgl. Urteil Brita, oben in Rn. 89 angeführt, EU:C:2010:91, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94

Nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen. Dabei ist außer dem Zusammenhang in gleicher Weise jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz zu berücksichtigen.

95

Im Urteil Brita, oben in Rn. 89 angeführt (EU:C:2010:91, Rn. 44 bis 53), hat der Gerichtshof entschieden, dass das Assoziierungsabkommen zwischen der Union und dem Staat Israel, das seinem Wortlaut nach für das „Gebiet des Staates Israel“ gilt, dahin auszulegen ist, dass es nicht auf Erzeugnisse mit Ursprung im Westjordanland anwendbar ist, einem Gebiet, das sich außerhalb des Hoheitsgebiets des Staates Israel befindet, wie er international anerkannt ist, in dem sich jedoch israelische Siedlungen befinden, die vom Staat Israel kontrolliert werden.

96

Der Gerichtshof kam allerdings zu diesem Ergebnis, indem er einerseits den völkerrechtlichen Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen berücksichtigt hat, dem zufolge die Verträge Dritten weder schaden noch nützen dürfen (pacta tertiis nec nocent nec prosunt) und der dem Gerichtshof zufolge in Art. 34 des Wiener Übereinkommens eine besondere Ausprägung gefunden hat, wonach ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte begründet (Urteil Brita, oben in Rn. 89 angeführt, EU:C:2010:91, Rn. 44), und andererseits die Tatsache, dass die Union auch mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zugunsten der Palästinensischen Behörde für das Westjordanland und den Gaza-Streifen ein Abkommen geschlossen hatte, das seinem Wortlaut zufolge u. a. für das Westjordanland galt (Urteil Brita, oben in Rn. 89 angeführt, EU:C:2010:91, Rn. 46 und 47).

97

Die Umstände der vorliegenden Rechtssache sind anders gelagert, da die Union im vorliegenden Fall weder mit der Front Polisario noch mit einem anderen Staat oder einer anderen Einheit ein Assoziierungsabkommen über Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara geschlossen hat.

98

Das Abkommen, dessen Abschluss mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt wurde, ist daher gemäß Art. 31 des Wiener Übereinkommens auszulegen (siehe oben, Rn. 94).

99

Nach dieser Bestimmung ist insbesondere der Zusammenhang zu berücksichtigen, in den sich ein internationaler Vertrag wie das Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, einfügt. Die oben in den Rn. 77 bis 87 genannten Belege sind alle Teil dieses Zusammenhangs und zeigen, dass die Unionsorgane sich bewusst waren, dass die marokkanischen Behörden die Bestimmungen des Assoziierungsabkommens mit Marokko auch auf den Teil der Westsahara anwenden, der vom Königreich Marokko kontrolliert wird, und die Unionsorgane diese Anwendung nicht ablehnten. Im Gegenteil: Die Kommission hat in gewisser Weise mit den marokkanischen Behörden im Hinblick auf diese Anwendung zusammengearbeitet und deren Ergebnis anerkannt, indem sie die in der Westsahara ansässigen Unternehmen zu den in der oben in Rn. 74 genannten Liste aufgeführten Unternehmen hinzugenommen hat.

100

Es ist auch darauf hinzuweisen, dass zwischen der Union und dem Königreich Marokko unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf den internationalen Status der Westsahara bestehen. Der Rat und die Kommission haben die Auffassung der Union ausreichend und zutreffend wiedergegeben (siehe oben, Rn. 74 und 75), wohingegen das Königreich Marokko unstreitig einen völlig anderen Standpunkt vertritt. Ihm zufolge ist die Westsahara Bestandteil seines Staatsgebiets.

101

Die Bezugnahme in Art. 94 des Assoziierungsabkommens mit Marokko auf das Gebiet des Königreichs Marokko konnte daher von den marokkanischen Behörden dahin verstanden werden, dass hierzu auch die Westsahara oder zumindest deren größerer, vom Königreich Marokko kontrollierte Teil zählt. Obwohl sich die Organe der Union, wie ausgeführt wurde, dieser vom Königreich Marokko vertretenen Auffassung bewusst waren, enthält das Assoziierungsabkommen mit Marokko keine Auslegungsklausel und keine sonstige Bestimmung, die zum Ergebnis hätte, dass das Gebiet der Westsahara vom Anwendungsbereich des Abkommens ausgenommen ist.

102

Zu bedenken ist auch, dass das Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, zwölf Jahre nach der Genehmigung des Assoziierungsabkommens mit Marokko geschlossen wurde, welches aber in dieser ganzen Zeit angewandt wurde. Wenn die Organe der Union einer Anwendung des Assoziierungsabkommens in der durch den angefochtenen Beschluss geänderten Fassung auf die Westsahara hätten entgegentreten wollen, hätten sie darauf bestehen können, dass in den durch diesen Beschluss genehmigten Text des Abkommens eine Bestimmung aufgenommen wird, die eine solche Anwendung ausschließt. Ihre Untätigkeit in diesem Punkt zeigt, dass sie die Auslegung des Assoziierungsabkommens mit Marokko und des durch den angefochtenen Beschluss genehmigten Abkommens, nach der diese Abkommen auch für den vom Königreich Marokko kontrollierten Teil der Westsahara gelten, zumindest stillschweigend akzeptieren.

103

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das Abkommen, dessen Abschluss mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt wurde, in dem oben dargelegten Kontext gesehen auch auf das Gebiet der Westsahara oder, genauer gesagt, auf den größeren, vom Königreich Marokko kontrollierten Teil dieses Gebiets Anwendung findet.

104

Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses ist die unmittelbare und individuelle Betroffenheit der Front Polisario durch den angefochtenen Beschluss zu prüfen.

105

Was die unmittelbare Betroffenheit angeht, ist nach ständiger Rechtsprechung die Voraussetzung, dass eine natürliche oder juristische Person von dem mit der Klage angefochtenen Rechtsakt „unmittelbar betroffen“ sein muss, nur dann erfüllt, wenn zwei Kriterien kumulativ erfüllt sind, nämlich erstens, dass die beanstandete Maßnahme sich auf die Rechtsstellung dieser Person unmittelbar auswirkt, und zweitens, dass sie ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihre Umsetzung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ohne Anwendung anderer Durchführungsvorschriften ergibt (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Kommission/Ente per le Ville Vesuviane und Ente per le Ville Vesuviane/Kommission, C‑445/07 P und C‑455/07 P, Slg, EU:C:2009:529, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

106

Hierzu ist festzustellen, dass der vom Rat angeführte Umstand (siehe oben, Rn. 63), dass der angefochtene Beschluss den Abschluss eines internationalen Abkommens zwischen der Union und dem Königreich Marokko zum Gegenstand hat, nicht ausschließt, dass er Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugt.

107

Nach ständiger Rechtsprechung hat nämlich eine Bestimmung eines von der Union und ihren Mitgliedstaaten mit Drittstaaten geschlossenen Übereinkommens unmittelbare Wirkung, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Zweck und die Natur dieses Übereinkommens eine klare und präzise Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Rechtsakts abhängen (vgl. Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie,C‑240/09, Slg, EU:C:2011:125, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

108

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das durch den angefochtenen Beschluss geschlossene Abkommen in Form eines Briefwechsels Bestimmungen enthält, die klare und präzise Verpflichtungen enthalten, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass weiterer Rechtsakte abhängen. Das Protokoll Nr. 1 des Assoziierungsabkommens mit Marokko über die Regelung der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen mit Ursprung im Königreich Marokko in die Union enthält z. B. einen Art. 2, der aufgrund des Abkommens, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, ersetzt wurde und in seinem Abs. 1 vorsieht, dass die Zölle auf Einfuhren von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen mit Ursprung in Marokko in die Union beseitigt werden, vorbehaltlich anders lautender Bestimmungen gemäß den Abs. 2 und 3 dieses Artikels für landwirtschaftliche Erzeugnisse und gemäß Art. 5 dieses Protokolls für landwirtschaftliche Verarbeitungserzeugnisse. Zu erwähnen ist auch, dass das Protokoll Nr. 2 des Assoziierungsabkommens mit Marokko über die Regelung der Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen mit Ursprung in der Union in das Königreich Marokko einen Art. 2 enthält, der aufgrund des mit dem angefochtenen Beschluss genehmigten Abkommens ersetzt wurde und besondere Zollvorschriften enthält, die für die Einfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen mit Ursprung in der Union gelten.

109

Diese Bestimmungen wirken sich auf die rechtliche Situation des gesamten Gebiets, für das das Abkommen gilt (und damit auf das vom Königreich Marokko kontrollierte Gebiet der Westsahara) insoweit aus, als sie die Bedingungen festlegen, unter denen landwirtschaftliche und Fischereierzeugnisse aus diesem Gebiet in die Union ausgeführt oder aus der Union in das betreffende Gebiet eingeführt werden können.

110

Diese Wirkungen betreffen nicht nur das Königreich Marokko, sondern auch die Front Polisario unmittelbar, da, wie aus den oben in den Rn. 1 bis 16 genannten Umständen hervorgeht, der endgültige internationale Status dieses Gebiets noch nicht festgelegt ist und im Rahmen von Verhandlungen festgelegt werden muss, die unter Federführung der UNO zwischen dem Königreich Marokko und eben der Front Polisario geführt werden.

111

Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die Front Polisario von dem angefochtenen Beschluss individuell betroffen ist.

112

Nach ständiger Rechtsprechung erfüllen natürliche oder juristische Personen die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit nur dann, wenn sie von der angefochtenen Handlung wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder aufgrund von Umständen betroffen sind, die sie aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben und sie dadurch in ähnlicher Weise individualisieren wie einen Adressaten (Urteile vom 15. Juli 1963, Plaumann/Kommission,25/62, Slg, EU:C:1963:17, S. 237, und Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, oben in Rn. 68 angeführt, EU:C:2013:625, Rn. 72).

113

Die oben in Rn. 110 genannten Gegebenheiten sind Umstände, die die Front Polisario aus dem Kreis aller übrigen Personen herausheben und ihr eine bestimmte Eigenschaft verleihen. Die Front Polisario ist nämlich der einzige andere Gesprächspartner, der an den Verhandlungen teilnimmt, die unter Federführung der UNO zwischen ihr und dem Königreich Marokko zur Festlegung des endgültigen internationalen Status der Westsahara geführt werden.

114

Da die Front Polisario von dem angefochtenen Beschluss unmittelbar und individuell betroffen ist, ist somit davon auszugehen, dass in dieser Hinsicht, entgegen dem Vorbringen des Rates und der Kommission, keine Zweifel an der Zulässigkeit der Klage bestehen.

Zur Begründetheit

115

Die Front Polisario stützt ihre Klage auf elf Klagegründe:

erstens eine unzureichende Begründung des angefochtenen Beschlusses,

zweitens eine Nichtbeachtung des „Anhörungsgrundsatzes“,

drittens eine Verletzung der Grundrechte,

viertens einen „Verstoß gegen den Grundsatz der Kohärenz der Unionspolitik durch Nichtbeachtung des Prinzips der … Souveränität“,

fünftens eine „Verletzung der Werte, auf die sich die … Union gründet, und der Grundsätze, die ihr auswärtiges Handeln leiten“,

sechstens einen „Verstoß gegen das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung“,

siebtens einen „Verstoß“ des angefochtenen Beschlusses gegen „die Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit“,

achtens einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes,

neuntens einen „Verstoß“ des angefochtenen Beschlusses „gegen mehrere von der Union geschlossene Übereinkünfte“,

zehntens einen „Verstoß“ des angefochtenen Beschlusses gegen das „allgemeine Völkerrecht“,

und schließlich elftens die „Anwendbarkeit des Rechts der völkerrechtlichen Haftung der Union“.

116

Zunächst ist festzustellen, dass aus dem Vorbringen der Front Polisario, auf das sie alle ihre Klagegründe stützt, hervorgeht, dass sie mit ihrer Klage die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses begehrt, soweit dieser die Anwendung des Abkommens, auf das sich der Beschluss bezieht, auf die Westsahara genehmigt. Wie sich aus den obigen Ausführungen zur unmittelbaren und individuellen Betroffenheit der Front Polisario durch den angefochtenen Beschluss ergibt, führt nämlich gerade die Tatsache, dass dieses Abkommen auch auf die Westsahara Anwendung findet, dazu, dass die Front Polisario von dem angefochtenen Beschluss unmittelbar und individuell betroffen ist.

117

Festzustellen ist auch, dass die Front Polisario verschiedene Klagegründe anführt, von denen die ersten beiden die formelle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses betreffen, während die anderen dessen materielle Rechtmäßigkeit zum Gegenstand haben. Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, der angefochtene Beschluss sei rechtswidrig, da er gegen das Unionsrecht und gegen das Völkerrecht verstoße. Tatsächlich steht hinter allen diesen Klagegründen die Frage, ob es eine absolutes Verbot gibt, im Namen der Union ein internationales Abkommen zu schließen, das auf ein Gebiet angewandt werden könnte, das de facto von einem Drittstaat kontrolliert wird, dessen Souveränität über dieses Gebiet aber von der Union und ihren Mitgliedstaaten oder, allgemeiner, von allen anderen Staaten nicht anerkannt wird (im Folgenden: umstrittenes Gebiet), und gegebenenfalls, ob die Unionsorgane diesbezüglich ein Ermessen haben, wo die Grenzen dieses Ermessens liegen und wie es auszuüben ist.

118

Nach diesen Klarstellungen sind zunächst die ersten beiden Klagegründe zu prüfen, die, wie die Klägerin selbst ausführt, die formelle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses betreffen.

Zum ersten Klagegrund

119

Die Front Polisario macht geltend, der angefochtene Beschluss sei unzureichend begründet. Im ersten Erwägungsgrund des Beschlusses werde lediglich eine „schrittweise stärkere Liberalisierung des Handels“ genannt und in seinem zweiten Erwägungsgrund werde nur der im Juli 2005 vom Assoziationsrat EU–Marokko genehmigte „Aktionsplan im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik“ angeführt, „der eine spezielle Bestimmung mit dem Ziel der weiteren Liberalisierung des Handels … enthält“. Die Europa-Mittelmeer-Politik habe jedoch nicht nur die Liberalisierung des Handels zum Gegenstand, sondern umfasse auch andere Grundwerte der Union.

120

Außerdem habe der Rat nicht einmal eine Folgenabschätzung vor dem Abschluss des Abkommens vorgenommen. Eine solche Abschätzung sei zwar, so die Klägerin, fakultativ, unter den Umständen des vorliegenden Falles jedoch zwingend. Es zeige sich daher, dass sich der Rat weder wegen der Westsahara noch der „internationalen Legalität“ Gedanken gemacht habe.

121

Es ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein muss. Sie muss die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und der Unionsrichter seine Rechtmäßigkeitskontrolle durchführen kann. In der Begründung brauchen jedoch nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil vom 7. September 2006, Spanien/Rat,C‑310/04, Slg, EU:C:2006:521, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

122

Handelt es sich außerdem wie im vorliegenden Fall um einen Rechtsakt, der allgemein gelten soll, so kann sich die Begründung darauf beschränken, die Gesamtlage anzugeben, die zu seinem Erlass geführt hat, und die allgemeinen Ziele zu bezeichnen, die mit ihm erreicht werden sollen (Urteile vom 22. November 2001, Niederlande/Rat,C‑301/97, Slg, EU:C:2001:621, Rn. 189, und Spanien/Rat, oben in Rn. 121 angeführt, EU:C:2006:521, Rn. 59).

123

Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass der angefochtene Beschluss rechtlich hinreichend begründet ist. Zum einen gibt er die Gesamtlage an, die zu seinem Erlass geführt hat, nämlich das Vorliegen des Assoziierungsabkommens mit Marokko, dessen Art. 16 eine schrittweise stärkere Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen vorsieht (erster Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses), und der im Juli 2005 vom Assoziationsrat EU-Marokko angenommene Aktionsplan im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik, der eine spezielle Bestimmung mit dem Ziel der weiteren Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen vorsieht (zweiter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Zum anderen bezeichnet der Beschluss die allgemeinen Ziele, die mit ihm erreicht werden sollen, nämlich eine stärkere Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen zwischen der Union und dem Königreich Marokko.

124

Die Argumente der Front Polisario, dass der Rat sich wegen der Westsahara keine Gedanken gemacht habe, vor dem Abschluss des Abkommens, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, keine Folgenabschätzung vorgenommen habe und, wenn er sich mit der Frage der Anwendbarkeit des Abkommens, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, auf das Gebiet der Westsahara befasst hätte, dessen Abschluss abgelehnt hätte, haben mit der geltend gemachten Verletzung der Begründungspflicht nichts zu tun.

125

In Wirklichkeit rügt die Front Polisario mit diesem Vorbringen, dass der Rat vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses die relevanten Gesichtspunkte des vorliegenden Falles nicht untersucht habe. Für die Prüfung dieses Vorbringens ist zunächst festzustellen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Rat den Abschluss eines Abkommens mit dem Königreich Marokko genehmigen konnte, das auch auf das Gebiet der Westsahara Anwendung finden würde.

126

Dieses Vorbringen wird daher unten in den Rn. 223 ff. geprüft, zusammen mit den anderen Argumenten der Klägerin zur Ausübung und Beachtung des Ermessens der Unionsorgane durch dieselben.

127

Vorbehaltlich der Prüfung dieses Vorbringens ist der erste Klagegrund zurückzuweisen.

Zum zweiten Klagegrund

128

Die Front Polisario macht geltend, der angefochtene Beschluss sei „wegen der Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift nichtig“, da der Rat sie vor dem Abschluss des Abkommens, auf das sich dieser Beschluss bezieht, nicht angehört habe, obwohl sie die einzige „rechtmäßige Vertreterin des saharauischen Volkes“ sei.

129

Die Front Polisario ist der Ansicht, die Verpflichtung des Rates, sie anzuhören, folge aus Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. In demselben Zusammenhang führt sie Art. 220 Abs. 1 AEUV an, der wie folgt lautet:

„Die Union betreibt jede zweckdienliche Zusammenarbeit mit den Organen der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen, dem Europarat, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Die Union unterhält ferner, soweit zweckdienlich, Beziehungen zu anderen internationalen Organisationen.“

130

Schließlich macht sie eine „auf internationalen Vorschriften beruhende Verpflichtung zur Anhörung“ geltend, die der Rat ihrer Ansicht nach ihr gegenüber habe.

131

Der Rat und die Kommission wenden gegen das Vorbringen der Klägerin insbesondere ein, der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gelte nicht für Verfahren mit normativem Charakter.

132

Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte bestimmt zwar, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden, doch sieht Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte vor, dass dieses Recht insbesondere das Recht jeder Person umfasst, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird. Nach ihrem Wortlaut bezieht sich diese Bestimmung daher nur auf individuelle Maßnahmen.

133

Im Übrigen hat das Gericht mehrfach entschieden, dass die Rechtsprechung zum Anspruch auf rechtliches Gehör nicht auf ein Gesetzgebungsverfahren erstreckt werden kann, das zum Erlass von Rechtsvorschriften oder von Maßnahmen allgemeiner Geltung führt, die eine wirtschaftspolitische Entscheidung einschließen und für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten (Urteile vom 11. Dezember 1996, Atlanta u. a./EG,T‑521/93, Slg, EU:T:1996:184, Rn. 70, vom 11. September 2002, Alpharma/Rat,T‑70/99, Slg, EU:T:2002:210, Rn. 388, und vom 11. Juli 2007, Sison/Rat,T‑47/03, EU:T:2007:207, Rn. 144).

134

Der Umstand, dass der Betroffene von der Rechtsvorschrift oder der Maßnahme allgemeiner Geltung unmittelbar und individuell betroffen ist, ändert nichts an dieser Feststellung (vgl. Urteil Alpharma/Rat, oben in Rn. 133 angeführt, EU:T:2002:210, Rn. 388 und die dort angeführte Rechtsprechung).

135

Im Fall von Handlungen von allgemeiner Geltung, die restriktive Maßnahmen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber natürlichen Personen oder Einrichtungen vorsehen, wurde zwar entschieden, dass die Verteidigungsrechte grundsätzlich in vollem Umfang zu gewährleisten sind und der Betroffene zu den ihm zur Last gelegten Umständen sachgerecht Stellung nehmen können muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2006, Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat,T‑228/02, Slg, EU:T:2006:384, Rn. 91 bis 108, und Sison/Rat, oben in Rn. 133 angeführt, EU:T:2007:207, Rn. 139 bis 155).

136

Der Grund für diese Erwägung ist jedoch, dass diese Handlungen den von ihnen speziell erfassten Personen oder Einheiten wirtschaftlich und finanziell restriktive Maßnahmen auferlegen (Urteile Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat, oben in Rn. 135 angeführt, EU:T:2006:384, Rn. 98, und Sison/Rat, oben in Rn. 133 angeführt, EU:T:2007:207, Rn. 146). Diese Rechtsprechung ist daher nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar.

137

Da der angefochtene Beschluss nach einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurde, um den Abschluss eines allgemein geltenden und anwendbaren Abkommens zu genehmigen, war der Rat entgegen dem Vorbringen der Front Polisario daher nicht verpflichtet, sie vor Erlass des Abkommens anzuhören.

138

Eine Verpflichtung, die Front Polisario vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses anzuhören, ergibt sich im Übrigen auch nicht aus dem Völkerrecht. Hierzu ist festzustellen, dass die Klägerin keinerlei Angaben zum Ursprung und zur Reichweite der „auf internationalen Vorschriften beruhenden Verpflichtung zur Anhörung“ gemacht hat, auf die sie sich mit vagen Andeutungen in ihren Schriftsätzen beruft.

139

Somit ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.

Zu den anderen Klagegründen

140

Die Klagegründe drei bis elf der Front Polisario haben alle die materielle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beschlusses zum Gegenstand. Wie bereits oben in Rn. 117 ausgeführt, macht die Front Polisario im Wesentlichen geltend, der angefochtene Beschluss des Rates sei rechtswidrig, da der Rat den Abschluss eines Abkommens mit dem Königreich Marokko genehmigt habe, das auch auf den von diesem kontrollierten Teil der Westsahara Anwendung finde, obwohl die von Marokko in Bezug auf dieses Gebiet geltend gemachten Ansprüche nicht international anerkannt seien. Die Rechtswidrigkeit beruhe sowohl auf einem Verstoß gegen Unionsrecht – aus den im Rahmen der Klagegründe drei bis acht genannten Gründen – als auch auf einem Verstoß gegen das Völkerrecht – aus den im Rahmen der Klagegründe neun bis elf genannten Gründen.

141

Daher ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Union mit einem Drittstaat ein Abkommen schließen kann, wie das mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte Abkommen, das auch auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung findet.

Zum Vorliegen eines absoluten Verbots, ein Abkommen abzuschließen, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte

142

Zunächst ist zu prüfen, ob die von der Front Polisario angeführten Klagegründe und Argumente den Schluss zulassen, dass es dem Rat in jedem Fall verboten ist, den Abschluss eines Abkommens mit einem Drittstaat zu genehmigen, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte.

– Zum dritten Klagegrund

143

Im Rahmen ihres dritten Klagegrundes nimmt die Klägerin auf die Vorschriften und die Rechtsprechung zur Beachtung der Grundrechte durch die Union Bezug und macht geltend, mit dem Beschluss, „ein Abkommen zu verkünden, welches das Selbstbestimmungsrecht des saharauischen Volkes missachtet und unmittelbar dazu führt, dass die Besatzungsmacht Marokko in ihrer Annexionspolitik bestärkt wird, verstößt der Rat gegen die Grundsätze der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und wendet sich von der Achtung der Grundrechte und der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ab“.

144

Der Front Polisario zufolge „wird die Freiheit beeinträchtigt, denn die Freiheit eines Volkes wird missachtet und – schlimmer noch – mit diesem Beschluss bekämpft, der die wirtschaftliche Dominanz stärkt und darauf gerichtet ist, die Bevölkerungsstrukturen zu verändern, um die Aussicht auf ein Referendum über die Selbstbestimmung noch schwieriger zu machen“. Die Front Polisario macht auch einen „Verstoß gegen die Sicherheit und die Rechtssicherheit“ geltend, da durch ein „annexionistisches Regime“ die „individuellen Rechte“ des „saharauischen Volkes“ verletzt würden und die von den marokkanischen Behörden für die Ausfuhr von Waren aus der Westsahara ausgestellten Ursprungszeugnisse ihrer Ansicht nach wertlos seien. Schließlich beruft sie sich auf eine „Verletzung von Freiheitsrechten, sei es die kollektive Freiheit des saharauischen Volkes … oder durch eine Verletzung des Eigentums, der Bewegungsfreiheit, der Freiheit der Meinungsäußerung, der Verteidigungsrechte oder des Grundsatzes der Menschenwürde“.

145

Festzustellen ist, dass nach Art. 6 EUV, wie die Front Polisario vorträgt, die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta der Grundrechte niedergelegt sind, während gemäß Art. 67 AEUV die Union einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bildet, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geachtet werden.

146

Jedoch folgt weder aus diesen Bestimmungen noch aus denen der Charta der Grundrechte, dass für die Union ein absolutes Verbot gilt, mit einem Drittstaat ein Abkommen über den wirtschaftlichen Austausch im Bereich der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnisse, Fisch und Fischereierzeugnisse zu schließen, das auch auf ein von diesem Drittstaat kontrolliertes Gebiet Anwendung finden könnte, ohne dass dessen Souveränität über dieses Gebiet international anerkannt ist.

147

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein solches Abkommen geschlossen werden kann, ohne dass gegen die Verpflichtung der Union zur Anerkennung der Grundrechte verstoßen wird, wird zusammen mit dem weiteren Vorbringen der Klägerin zur Umsetzung und Beachtung des Ermessens der Unionsorgane durch dieselben unten in den Rn. 223 ff. geprüft.

148

Vorbehaltlich dieser Prüfung ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen, soweit dem Rat vorgeworfen wird, gegen das behauptete absolute Verbot verstoßen zu haben, ein Abkommen wie das im vorliegenden Fall in Rede stehende zu schließen.

– Zum vierten Klagegrund

149

Mit ihrem vierten Klagegrund macht die Front Polisario geltend, der angefochtene Beschluss sei für nichtig zu erklären, da er gegen den Grundsatz der Kohärenz der Unionspolitik in Art. 7 AEUV verstoße, wonach „[d]ie Union … auf die Kohärenz zwischen ihrer Politik und ihren Maßnahmen in den verschiedenen Bereichen [achtet] und … dabei … ihren Zielen in ihrer Gesamtheit Rechnung [trägt]“. Die Klägerin ist der Ansicht, der angefochtene Beschluss „billigt die tatsächliche Souveränität [des Königreichs Marokko] über das Gebiet der Westsahara“ und „bietet [dem Königreich] Marokko eine politische und wirtschaftliche Unterstützung, die gegen das Recht der UNO und gegen das Souveränitätsprinzip verstößt“, obwohl keiner der Europäischen Staaten die Souveränität des Königreichs Marokko über die Westsahara anerkannt habe und die Union als beobachtendes Mitglied der UNO anerkannt worden sei.

150

Die Front Polisario ist daher der Ansicht, der „Grundsatz der Kohärenz“ verbiete es der Union, Rechtsakte zu erlassen, die unmittelbar eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts nach sich zögen, obwohl die Mitgliedstaaten dieses Recht beachteten, indem sie es ablehnten, die Souveränität des Königreichs Marokko über die Westsahara anzuerkennen.

151

Schließlich macht die Front Polisario geltend, es zeige sich „noch ein offenkundiger Widerspruch“. Nach ihrer Ansicht „kann [die Union] nicht bestimmte Rechtsverletzungen ahnden, wie sie es z. B. in Syrien getan hat, und andere billigen, insbesondere wenn es sich um Normen des ius cogens handelt“.

152

In ihrer Erwiderung nennt die Front Polisario einen „dritten Widerspruch auf Seiten der Union“. Sie macht geltend, der Dienst der Kommission für humanitäre Hilfe gewähre den saharauischen Flüchtlingen, die in Lagern lebten (siehe oben, Rn. 16), erhebliche Hilfen, während gleichzeitig der Rat mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses „dazu beiträgt, die Kontrolle [des Königreichs Marokko] über die Westsahara zu stärken und letztlich einen Strom von saharauischen Flüchtlingen zu produzieren“.

153

Festzustellen ist, dass das Vorbringen der Front Polisario nicht auf Art. 7 AEUV gestützt werden kann. Die unterschiedlichen Unionspolitiken fallen unter unterschiedliche Bestimmungen der Gründungsverträge und der zu ihrer Durchführung erlassenen Rechtsakte. Ein geltend gemachter „Widerspruch“ eines Rechtsakts mit der Politik der Union in einem bestimmten Bereich setzt notwendig voraus, dass der betreffende Rechtsakt gegen eine Bestimmung, eine Regelung oder einen Grundsatz verstößt, die bzw. der diese Politik bestimmt. Dieser Umstand wäre, sofern er bewiesen ist, für sich allein ausreichend, um die Nichtigerklärung des fraglichen Rechtsakts herbeizuführen, ohne dass ein Rückgriff auf Art. 7 AEUV erforderlich wäre.

154

Im vorliegenden Fall geht die Front Polisario für die Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Kohärenz von der Annahme aus, dass der angefochtene Beschluss durch die Genehmigung des in Rede stehenden Abkommens zwischen der Union und dem Königreich Marokko die „Souveränität“ Marokkos über die Westsahara „billigt“. Diese Annahme geht jedoch fehl: Das fragliche Abkommen enthält keine Bestimmung, die eine solche Wirkung hat, und die alleinige Tatsache, dass die Union zulässt, dass das Königreich Marokko die Regelungen des Abkommens auf landwirtschaftliche oder Fischereierzeugnisse anwendet, die aus dem von Marokko kontrollierten Teil der Westsahara ausgeführt werden, oder auf Waren, die in dieses Gebiet eingeführt werden, steht einer Anerkennung der Souveränität Marokkos über dieses Gebiet nicht gleich.

155

Das Vorbringen, dass die Union gegen das „Recht der UNO“ oder gegen ius cogens verstoße, hat keinen Bezug zu dem geltend gemachten Verstoß gegen Art. 7 AEUV. Damit werden nur die Argumente wiederholt, die zur Stützung des zehnten Klagegrundes vorgebracht worden sind, der unten geprüft wird.

156

Das Argument, dass die Union im Hinblick auf die Lage in anderen Ländern restriktive Maßnahmen erlassen habe, genügt ebenfalls nicht als Nachweis für einen angeblichen „Widerspruch“ der Politik der Union. Wie insbesondere aus der Rechtsprechung zum Erlass restriktiver Maßnahmen im Hinblick auf die Lage in Syrien hervorgeht, verfügt der Rat in diesem Bereich über ein Ermessen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2013, Makhlouf/Rat,T‑383/11, Slg, EU:T:2013:431, Rn. 63). Daher kann ihm kein widersprüchliches Verhalten zum Vorwurf gemacht werden, weil er in einem Land angesichts der dortigen Lage restriktive Maßnahmen erlassen hat und in einem anderen Land nicht.

157

Was schließlich den von der Front Polisario in ihrer Erwiderung angeführten „dritten Widerspruch“ anbelangt, ist festzustellen, dass die Tatsache, dass die Union den saharauischen Flüchtlingen, die in Lagern leben, Hilfen gewährt und gleichzeitig mit dem Königreich Marokko Abkommen wie das mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte Abkommen schließt, keineswegs einen Widerspruch in ihrer Politik darstellt, sondern vielmehr zeigt, dass sie in dem Konflikt zwischen der Klägerin und dem Königreich Marokko für keine Seite Partei ergreifen will, aber gleichzeitig die Bemühungen der UNO für eine gerechte und dauerhafte Lösung dieses Konflikts im Wege von Verhandlungen unterstützt.

158

Folglich ist der vierte Klagegrund zurückzuweisen.

– Zum fünften Klagegrund

159

Zur Stützung ihres fünften Klagegrundes führt die Front Polisario Art. 2 EUV, Art. 3 Abs. 5 EUV und Art. 21 EUV sowie Art. 205 AEUV an. Sie macht geltend, der angefochtene Beschluss widerspreche den Grundwerten der Union, die ihr auswärtiges Handeln leiteten. Durch die Genehmigung des Abkommens, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, missachte der Rat „die UNO-Resolutionen und die zwischen [dem Königreich] Marokko und der Front Polisario getroffene Vereinbarung über die Organisation eines Referendums über die Selbstbestimmung, indem er die rechtswidrige Annexionspolitik [des Königreichs Marokko] unterstützt“. Die Front Polisario ist der Ansicht, es genüge, „das Abkommen auszusetzen“, da dem Rat „völlig klar ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung [des Königreichs Marokko] im Gebiet der Westsahara dazu dient, die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern und das Vorhaben eines Referendums zu stören“.

160

Art. 2 EUV bestimmt:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

161

In Art. 3 Abs. 5 EUV ist festgelegt:

„In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“

162

Art. 21 EUV, der zu Titel V Kapitel 1 des EU-Vertrags gehört, lautet:

„(1)   Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.

Die Union strebt an, die Beziehungen zu Drittländern und zu regionalen oder weltweiten internationalen Organisationen, die die in Unterabsatz 1 aufgeführten Grundsätze teilen, auszubauen und Partnerschaften mit ihnen aufzubauen. Sie setzt sich insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen für multilaterale Lösungen bei gemeinsamen Problemen ein.

(2)   Die Union legt die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest, führt diese durch und setzt sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen Gebieten der internationalen Beziehungen ein, um

a)

ihre Werte, ihre grundlegenden Interessen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Unversehrtheit zu wahren;

b)

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern;

c)

nach Maßgabe der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen sowie der Prinzipien der Schlussakte von Helsinki und der Ziele der Charta von Paris, einschließlich derjenigen, die die Außengrenzen betreffen, den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit zu stärken;

d)

die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen;

e)

die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler Handelshemmnisse;

f)

zur Entwicklung von internationalen Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Qualität der Umwelt und der nachhaltigen Bewirtschaftung der weltweiten natürlichen Ressourcen beizutragen, um eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen;

(3)   …

Die Union achtet auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen ihres auswärtigen Handelns sowie zwischen diesen und ihren übrigen Politikbereichen. Der Rat und die Kommission, die vom Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik unterstützt werden, stellen diese Kohärenz sicher und arbeiten zu diesem Zweck zusammen.“

163

Art. 205 AEUV, der zum Fünften Teil Titel I („Allgemeine Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union“) des AEU-Vertrags gehört, lautet: „Das Handeln der Union auf internationaler Ebene im Rahmen dieses Teils wird von den Grundsätzen bestimmt, von den Zielen geleitet und an den allgemeinen Bestimmungen ausgerichtet, die in Titel V Kapitel 1 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind.“

164

Nach der Rechtsprechung verfügen die Unionsorgane auf dem Gebiet der Außenwirtschaftsbeziehungen, zu dem das Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, gehört, über einen weiten Ermessensspielraum (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 1995, Odigitria/Rat und Kommission, T‑572/93, Slg, EU:T:1995:131, Rn. 38).

165

Folglich kann nicht angenommen werden, dass aus den „Grundwerten der Union“ oder den von der Front Polisario im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes angeführten Bestimmungen hervorgeht, dass es dem Rat in jedem Fall verboten ist, mit einem Drittstaat ein Abkommen zu schließen, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte.

166

Im Übrigen wird die Frage, wie der Rat sein weites Ermessen, das ihm nach der oben in Rn. 164 genannten Rechtsprechung zukommt, ausgeübt hat und welche relevanten Gesichtspunkte er in diesem Zusammenhang berücksichtigen musste, unten geprüft (siehe unten, Rn. 223 ff.).

167

Vorbehaltlich dieser Prüfung ist der fünfte Klagegrund zurückzuweisen.

– Zum sechsten Klagegrund

168

Im Rahmen ihres sechsten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, der angefochtene Beschluss laufe dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zuwider, „da er es der Besatzungsmacht erlaubt, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen eines autonomen Volkes auszuweiten“. Sie bezieht sich hierbei auf Art. 11 AEUV, dem zufolge „[d]ie Erfordernisse des Umweltschutzes … bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und ‑maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden [müssen]“. Außerdem führt sie verschiedene Dokumente der UNO und der Organisation der Vereinten Nationen für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) an.

169

Die Klägerin fügt hinzu, das Königreich Marokko „betreibt eine Annexionspolitik, wobei es die Angelegenheiten der Westsahara durch sein Innenministerium regelt und es ablehnt, … gegenüber der UNO über seine Verwaltung Rechenschaft abzulegen“. Die Front Polisario folgert daraus, dass der angefochtene Beschluss „nicht nur dem saharauischen Volk sein Recht auf Entwicklung [entzieht], sondern auch eine Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung [fördert], deren Hauptziel darin besteht, die saharauische Gesellschaft zu zerstören“.

170

Die Front Polisario führt in ihrer Erwiderung weiter aus, dass „große, von Marokko kontrollierte Unternehmen die Ressourcen [der Westsahara] aus[beuten], mit dem ausdrücklichen Ziel, das saharauische Volk auszuplündern, um die marokkanische Wirtschaft zu stärken und die marokkanische Annexion faktisch zu festigen“.

171

In diesem Stadium genügt es, festzustellen, dass weder aus dem oben wiedergegebenen Vorbringen der Front Polisario noch aus den von ihr angeführten Vorschriften hervorgeht, dass für den Rat ein absolutes Verbot gilt, mit einem Drittstaat ein Abkommen zu schließen, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte.

172

Folglich ist dieser Klagegrund, soweit er dahin zu verstehen ist, dass mit ihm ein Verstoß gegen ein solches Verbot geltend gemacht wird, zurückzuweisen. Im Übrigen ist das Vorbringen der Front Polisario im Rahmen der Untersuchung der Frage zu prüfen, wie der Rat sein Ermessen ausgeübt hat (siehe unten, Rn. 223 ff.).

– Zum siebten Klagegrund

173

Mit dem siebten Klagegrund wird, wie aus der von der Klägerin gewählten Überschrift hervorgeht, ein „Verstoß des [angefochtenen] Beschlusses gegen die Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns der Union im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit“ geltend gemacht. Die Klägerin bezieht sich auf Art. 208 Abs. 2 AEUV, dem zufolge „[d]ie Union und die Mitgliedstaaten … den im Rahmen der [UNO] und anderer zuständiger internationaler Organisationen gegebenen Zusagen nach[kommen] und … die in diesem Rahmen gebilligten Zielsetzungen [berücksichtigen]“. Sie führt auch Art. 220 AEUV an (siehe oben, Rn. 129).

174

Konkret behauptet die Front Polisario, dass „aufgrund des Wortlauts von Art. [208 Abs. 2 AEUV], bei dem der Begriff ‚gebilligt‘ verwendet wird, der Union … die Verpflichtungen und Zielsetzungen entgegengehalten werden [können], die in den Resolutionen der [UNO], darunter die Millenniumserklärung und die Resolutionen, an deren Ausarbeitung die [Union] beteiligt war, genannt werden“.

175

Das oben in Rn. 174 wiedergegebene Vorbringen der Klägerin lässt in keiner Weise erkennen, was sie dem Rat vorwirft und weshalb der angefochtene Beschluss „den Grundsätzen und Zielen des auswärtigen Handelns der Union“ oder den Dokumenten der UNO, darunter die Millenniumserklärung, zuwiderlaufen soll. Der vorliegende Klagegrund ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

– Zum achten Klagegrund

176

Der achte Klagegrund stützt sich auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Nach dem Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung macht die Front Polisario geltend, sie habe berechtigterweise davon ausgehen dürfen, dass die Union und ihre Organe das Völkerrecht einhalten würden.

177

Wie die Klägerin selbst ausführt, kann sich nach ständiger Rechtsprechung auf den Vertrauensschutz jeder berufen, bei dem die Unionsverwaltung durch bestimmte Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat. Präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite stellen unabhängig von der Form ihrer Mitteilung solche Zusicherungen dar. Dagegen kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine bestimmten Zusicherungen gegeben hat (vgl. Urteil vom 19. November 2009, Denka International/Kommission,T‑334/07, Slg, EU:T:2009:453, Rn. 148 und die dort angeführte Rechtsprechung).

178

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Klägerin keine bestimmten Zusicherungen nennt, die ihr die Unionsverwaltung in Bezug auf ihr Verhalten in diesem Bereich gegeben hätte, so dass der vorliegende Klagegrund, der auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes gestützt ist, nicht durchgreifen kann. Das Vorbringen, wonach der angefochtene Beschluss gegen das Völkerrecht verstoße, ist im Rahmen der Prüfung des elften Klagegrundes zu prüfen, mit dem gerade ein Verstoß gegen das Völkerrecht geltend gemacht wird.

– Vorbemerkungen zum Einfluss des Völkerrechts

179

Da die Front Polisario sowohl einen Verstoß gegen mehrere von der Union geschlossene internationale Übereinkünfte (neunter Klagegrund) als auch einen Verstoß gegen das „allgemeine Völkerrecht“ (zehnter Klagegrund) geltend macht, sind die folgenden Erwägungen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts im Hinblick auf das Völkerrecht maßgeblich.

180

Gemäß Art. 3 Abs. 5 EUV leistet die Union einen Beitrag zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts. Beim Erlass eines Rechtsakts ist sie daher verpflichtet, das gesamte Völkerrecht zu beachten, auch das die Organe der Union bindende Völkergewohnheitsrecht (vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a.,C‑366/10, Slg, EU:C:2011:864, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).

181

Im Übrigen bleibt es den Organen der Union, die für das Aushandeln und den Abschluss eines internationalen Abkommens zuständig sind, nach den Grundsätzen des Völkerrechts unbenommen, mit den betreffenden Drittländern zu vereinbaren, welche Wirkungen die Bestimmungen dieses Abkommens in der internen Rechtsordnung der Vertragsparteien haben sollen. Nur wenn diese Frage im Abkommen nicht geregelt ist, haben die zuständigen Gerichte der Union über diese Frage ebenso wie über jede andere Auslegungsfrage zu entscheiden, die sich im Zusammenhang mit der Anwendung des Abkommens in der Union stellt (vgl. Urteil Air Transport Association of America u. a., oben in Rn. 180 angeführt, EU:C:2011:864, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

182

Nach Art. 216 Abs. 2 AEUV sind die Organe der Union, wenn von der Union Übereinkünfte geschlossen werden, an solche Übereinkünfte gebunden; die Übereinkünfte haben daher gegenüber den Rechtsakten der Union Vorrang. Daraus folgt, dass die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts durch die Unvereinbarkeit mit derartigen völkerrechtlichen Regeln berührt wird (vgl. Urteil Air Transport Association of America u. a., oben in Rn. 180 angeführt, EU:C:2011:864, Rn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

183

Zunächst allerdings muss die Union, wie der Gerichtshof auch entschieden hat, an diese Normen gebunden sein (vgl. Urteil Air Transport Association of America u. a., oben in Rn. 180 angeführt, EU:C:2011:864, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

184

Sodann kann nach Ansicht des Gerichtshofs ein Unionsgericht die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts nur dann an einem völkerrechtlichen Vertrag messen, wenn dessen Art und Struktur dem nicht entgegenstehen (vgl. Urteil Air Transport Association of America u. a., oben in Rn. 180 angeführt, EU:C:2011:864, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

185

Schließlich ist, wenn Art und Struktur des betreffenden Vertrags der Kontrolle der Gültigkeit des Unionsrechtsakts anhand der Bestimmungen dieses Vertrags nicht entgegenstehen, noch erforderlich, dass die für die Prüfung der Gültigkeit des Unionsrechtsakts geltend gemachten Bestimmungen des Vertrags inhaltlich unbedingt und hinreichend genau erscheinen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die geltend gemachte Bestimmung eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen (vgl. Urteil Air Transport Association of America u. a., oben in Rn. 180 angeführt, EU:C:2011:864, Rn. 54 und 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

186

Die vorstehenden Erwägungen sind bei der nachfolgenden Prüfung der Klagegründe neun bis elf zu berücksichtigen.

– Zum neunten Klagegrund

187

Im Rahmen des neunten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, der angefochtene Beschluss sei für nichtig zu erklären, „da er im Widerspruch zu verschiedenen internationalen Übereinkünften steht, die für die Union verbindlich sind“.

188

Als Erstes nennt die Klägerin das Assoziierungsabkommen mit Marokko und insbesondere dessen Einleitung, in der auf die Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen Bezug genommen wird, sowie dessen Art. 2, dem zufolge die Achtung der demokratischen Grundsätze und der Menschrechte die Innen- und die Außenpolitik der Union und des Königreichs Marokko leitet und ein wesentliches Element dieses Abkommens ist.

189

Nach Ansicht der Klägerin steht der angefochtene Beschluss im Widerspruch zu diesen Grundsätzen, da er „gegen das Selbstbestimmungsrecht und die sich daraus ergebenden Rechte, insbesondere die Souveränität über die natürlichen Ressourcen und den Vorrang der Interessen der Bewohner der Westsahara, verstößt“. Die Klägerin fügt hinzu, „[das Königreich] Marokko verstößt gegen das Selbstbestimmungsrecht, das die conditio sine qua non für die Achtung der Menschenrechte und der politischen und wirtschaftlichen Freiheiten ist“, und nimmt erneut auf die „Annexionspolitik [des Königreichs Marokko]“ Bezug, die „darauf abzielt, die Organisation eines Referendums über die Selbstbestimmung zu verhindern“.

190

Als Zweites führt die Klägerin das am 10. Dezember 1982 in Montego Bay unterzeichnete Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen an (im Folgenden: Seerechtsübereinkommen), das am 16. November 1994 in Kraft getreten ist und mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 über den Abschluss des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 und des Übereinkommens vom 28. Juli 1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens durch die Europäische Gemeinschaft (ABl. L 179, S. 1) im Namen der Union genehmigt wurde. Die Klägerin macht geltend, gemäß den Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens habe die Bevölkerung der Westsahara die souveränen Rechte über die an die Küste der Westsahara angrenzenden Gewässer. Als „Besatzungsmacht“ müsse das Königreich Marokko die Rechte des Volkes der Westsahara unter Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs der Interessen dieses Volkes ausüben. Es missachte diese Regeln jedoch systematisch und nutze seine Kontrolle über die Gewässer, um seine Präsenz in der Westsahara zu festigen. Der Rat wiederum verstoße mit dem angefochtenen Beschluss gegen „diese Bestimmungen“, da er „durch eine zunehmende Liberalisierung des Handels mit Marokko im Fischereibereich Marokko stärkt, das unberechtigterweise Rechte in Bezug auf diesen Teil des Meeres ausübt“. Die Klägerin fügt hinzu, das Königreich Marokko „nutzt diese Gewässer ausschließlich in seinem Interesse, um einen schnellen Gewinn zu erzielen und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Durchführung eines Referendums über die Selbstbestimmung erschweren“.

191

Als Drittes macht die Klägerin einen Verstoß gegen das „Ursprungskriterium“ geltend, das ihrer Ansicht nach aus dem Seerechtsübereinkommen, dem Assoziierungsabkommen mit Marokko und dessen Protokoll Nr. 4, dem Partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Marokko, das mit der Verordnung (EG) Nr. 764/2006 des Rates vom 22. Mai 2006 (ABl. L 141, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigt wurde, und dem Abkommen in Form eines Briefwechsels über die vorläufige Anwendung des am 13. November 1995 in Brüssel paraphierten Abkommens über die Zusammenarbeit in der Seefischerei zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Marokko, das mit dem Beschluss 95/540/EG des Rates vom 7. Dezember 1995 (ABl. L 306, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigt wurde, folgt.

192

Nach Ansicht der Klägerin ist „[f]ür die Festlegung des Anwendungsbereichs der einzelnen Abkommen, die die [Union] und ihre Mitgliedstaaten mit [dem Königreich] Marokko geschlossen haben, das maßgebliche Referenzabkommen das [Seerechtsübereinkommen], das diesen Anwendungsbereich ganz eindeutig als das Gebiet [des Königreichs Marokko] festlegt“.

193

Selbst unabhängig davon, ob die verschiedenen von der Klägerin angeführten Abkommen und Übereinkommen im Hinblick auf die oben in den Rn. 184 und 185 genannte Rechtsprechung für die Prüfung der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts berücksichtigt werden können, ist festzustellen, dass die von der Klägerin genannten Abkommen, mit Ausnahme des Seerechtsübereinkommens, zwischen der Union und dem Königreich Marokko geschlossen wurden, d. h. von denselben Parteien, die das mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte Abkommen geschlossen haben. Eines dieser Abkommen ist nämlich das Assoziierungsabkommen mit Marokko, das mit dem Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, gerade geändert werden soll.

194

Unter diesen Umständen führt selbst ein möglicher Widerspruch zwischen einzelnen Bestimmungen des Abkommens, dessen Abschluss mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt wurde, und den Bestimmungen der von der Klägerin genannten früheren Abkommen zwischen der Union und dem Königreich Marokko nicht zur Rechtswidrigkeit, da es der Union und dem Königreich Marokko jederzeit freisteht, die zwischen ihnen geschlossenen Abkommen durch ein neues Abkommen wie dasjenige, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, zu ändern.

195

Was das Seerechtsübereinkommen anbelangt, lassen es dessen Art und Struktur, wie der Gerichtshof entschieden hat, nicht zu, dass die Unionsgerichte die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts an ihm messen (Urteil vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a.,C‑308/06, Slg, EU:C:2008:312, Rn. 65).

196

Die Klägerin führt dieses Übereinkommen jedoch im Wesentlichen für die Behauptung an, dass die Fischereierzeugnisse, die aus den an die Küste der Westsahara angrenzenden Gewässern stammen, zu den natürlichen Ressourcen der Westsahara gehörten.

197

Hierzu wurde bereits festgestellt, dass das Abkommen, dessen Abschluss mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt wurde, auch Anwendung findet auf die Westsahara und die Waren, die aus diesem Gebiet stammen und auf dessen natürlichen Ressourcen beruhen, welche Ressourcen dies auch immer sein mögen und unabhängig davon, ob diese Ressourcen gemäß dem Seerechtsübereinkommen festgelegt werden müssen oder nicht.

198

Den von der Klägerin im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes vorgetragenen Argumenten lässt sich jedoch kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass es dem Rat in jedem Fall verboten ist, mit einem Drittstaat ein Abkommen abzuschließen, das sich auf ein umstrittenes Gebiet bezieht.

199

Da der vorliegende Klagegrund dahin zu verstehen ist, dass mit ihm ein Verstoß gegen ein solches absolutes Verbot geltend gemacht wird, ist er folglich zurückzuweisen. Sofern das Vorbringen der Klägerin ganz oder teilweise dahin zu verstehen ist, dass damit ein offensichtlicher Beurteilungsfehler des Rates geltend gemacht wird, genügt der Hinweis, dass die Frage, wie der Rat sein Ermessen ausgeübt hat, über das er in diesem Bereich verfügt, unten in den Rn. 223 ff. untersucht wird.

– Zum zehnten Klagegrund

200

Mit ihrem zehnten Klagegrund macht die Front Polisario geltend, der angefochtene Beschluss sei für nichtig zu erklären, da er gegen das Selbstbestimmungsrecht – einer zwingenden Norm des Völkerrechts – und die sich daraus ergebenden Rechte verstoße. Der angefochtene Beschluss bestärke das Königreich Marokko bei seiner Politik der Besetzung und „wirtschaftlichen Kolonialisierung“ der Westsahara.

201

Die Front Polisario macht auch geltend, der angefochtene Beschluss schaffe Verpflichtungen, denen sie nicht zugestimmt habe, was gegen den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen verstoße. Außerdem sei die Union gehalten, für die Beachtung des „humanitären Völkerrechts“ Sorge zu tragen; hierzu gehörten die Landkriegsordnung, die dem am 18. Oktober 1907 in Den Haag unterzeichneten Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs als Anlage beigefügt ist, das am 12. August 1949 in Genf unterzeichnete Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten und der am 17. Juli 1998 in Rom unterzeichnete Vertrag zur Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs. Sie macht geltend, durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses „ermöglicht [der Rat] dem Königreich Marokko, seine Politik der Kolonialisierung der Westsahara auf wirtschaftlichem Wege zu festigen“.

202

Zunächst ist festzustellen, dass sich aus dem angefochtenen Beschluss oder dem Abkommen, dessen Abschluss mit ihm genehmigt wurde, keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Union die von Marokko in Bezug auf die Westsahara geltend gemachten Ansprüche anerkennt. Die alleinige Tatsache, dass das betreffende Abkommen auch auf Waren Anwendung findet, die aus dem vom Königreich Marokko kontrollierten Teil der Westsahara ausgeführt oder in dieses Gebiet eingeführt werden, steht einer solchen Anerkennung nicht gleich.

203

Was das auf die relative Wirkung von Verträgen gestützte Argument anbelangt, so betrifft das Abkommen, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, die Front Polisario zwar unmittelbar und individuell, doch entgegen ihrem Vorbringen verpflichtet es sie nicht, da dieses Abkommen nur auf den Teil der Westsahara Anwendung findet, der von Marokko kontrolliert wird, und solange diese Kontrolle besteht. Sollte die Front Polisario eventuell nach dem geplanten Referendum über die Selbstbestimmung ihre Kontrolle auf das gesamte Gebiet der Westsahara ausdehnen, ist sie natürlich nicht an die Bestimmungen des fraglichen, zwischen dem Königreich Marokko und der Union geschlossenen Abkommens gebunden.

204

Hinsichtlich des Arguments eines Verstoßes gegen humanitäres Recht ist festzustellen, dass die Ausführungen der Klägerin lapidar sind und nicht erkennen lassen, inwiefern und wodurch der Abschluss des Abkommens, auf das sich der angefochtene Beschluss bezieht, gegen dieses Recht verstoßen soll.

205

Ganz allgemein lässt sich dem Vorbringen der Klägerin oder den von ihr genannten Umständen nicht entnehmen, dass es eine Regel des Völkergewohnheitsrechts gibt, die den Abschluss eines internationalen Vertrags, der auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte, verbieten würde.

206

Der Internationale Gerichtshof war mit dieser Frage befasst, hat sie aber in seinem Urteil zu Osttimor (Portugal/Australien, ICJ Reports 1995, S. 90) nicht entschieden, da er für die Entscheidung dieser Frage über die Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Republik Indonesien ohne Zustimmung dieses Staates hätte entscheiden müssen (Urteil Portugal/Australien, Rn. 35).

207

Die Klägerin hat auch ein Schreiben vom 29. Januar 2002 vorgelegt, das der Untergeneralsekretär für Rechtsfragen und Rechtsberater der UNO als Antwort auf eine Bitte der Mitglieder des Sicherheitsrats um eine Stellungnahme zur Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, die die marokkanischen Behörden hinsichtlich des Angebots und der Unterzeichnung von Verträgen mit ausländischen Unternehmen über die Prospektion mineralischer Rohstoffe der Westsahara getroffen hatten, an den Präsidenten des Sicherheitsrats gerichtet hatte.

208

In diesem Schreiben hat der Rechtsberater der UNO die Regeln des Völkerrechts, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs und die Praxis der Staaten in diesem Bereich geprüft. In Nr. 24 seines Schreibens hat er insbesondere ausgeführt:

„Die jüngste, wenn auch begrenzte Praxis der Staaten zeigt, dass sowohl die Staaten [die ein Gebiet verwalten] als auch die Drittstaaten folgende Rechtsüberzeugung (opinio iuris) haben: Wenn die Ressourcen der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung zugunsten der Bevölkerung dieser Gebiete und in ihrem Namen oder in Absprache mit ihren Vertretern genutzt werden, wird davon ausgegangen, dass diese Nutzung mit den Verpflichtungen, die den [Verwaltungsmächten] aufgrund der [Charta der Vereinten Nationen] obliegen, vereinbar ist und mit den Resolutionen der Generalversammlung sowie dem darin verankerten Grundsatz der ‚ständigen Souveränität über natürliche Ressourcen‘ im Einklang steht.“

209

Auf dieser Grundlage hat er die ihm gestellte Frage wie folgt beantwortet:

„Obwohl die Verträge, die Gegenstand der Anfrage des Sicherheitsrats sind, für sich gesehen nicht rechtswidrig sind, würden Tätigkeiten im Bereich der Prospektion und der Nutzung, wenn sie unter Missachtung der Interessen und des Willens der Bevölkerung der Westsahara durchgeführt würden, gegen die Grundsätze des Völkerrechts verstoßen, die auf Tätigkeiten im Zusammenhang mit den mineralischen Rohstoffen der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung anwendbar sind“ (Nr. 25 seines Schreibens).

210

Daraus folgt, dass auch der Rechtsberater der UNO nicht der Ansicht war, dass der Abschluss eines internationalen Abkommens, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte, in jedem Fall durch das Völkerrecht verboten ist.

211

Da der vorliegende Klagegrund dahin zu verstehen ist, dass mit ihm ein Verstoß des Rates gegen eine Regel des „allgemeinen Völkerrechts“ geltend gemacht wird, aus der sich ein absolutes Verbot ergebe, internationale Übereinkünfte abzuschließen, die auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnten, ist er folglich zurückzuweisen. Soweit die von der Klägerin im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes vorgebrachten Argumente die Frage betreffen, wie der Rat sein Ermessen ausgeübt hat, werden sie unten in den Rn. 223 ff. geprüft.

– Zum elften Klagegrund

212

Im Rahmen ihres elften und letzten Klagegrundes führt die Klägerin verschiedene Bestimmungen der Artikelentwürfe über die Verantwortlichkeit internationaler Organisationen für völkerrechtswidrige Handlungen an, wie sie im Jahr 2011 von der Völkerrechtskommission der UNO angenommen wurden, um geltend zu machen, dass der Rat mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses die völkerrechtliche Haftung der Union wegen völkerrechtswidriger Handlungen auslöse.

213

Dieser Klagegrund enthält jedoch nichts Neues im Vergleich zum sonstigen Vorbringen der Klägerin. Die vorliegende Klage ist eine Nichtigkeitsklage und keine Schadensersatzklage. Die Frage ist nicht, ob die Union durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses ihre außervertragliche Haftung ausgelöst hat, was voraussetzt, dass der Beschluss rechtswidrig ist. Die Frage ist vielmehr, ob der angefochtene Beschluss rechtswidrig ist. Zu diesem Punkt trägt die Klägerin keine neuen Argumente vor, sondern beschränkt sich darauf, das Vorbringen zu wiederholen, mit dem sie im Wesentlichen geltend macht, dass der Rat, indem er den angefochtenen Beschluss im Namen der Union genehmigt habe, gegen das Völkerrecht verstoßen habe.

214

Der Klagegrund ist daher zurückzuweisen.

– Schlussfolgerung hinsichtlich des Vorliegens eines absoluten Verbots, internationale Übereinkünfte abzuschließen, die auf ein umstrittenes Gebiet anwendbar sind

215

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass sich aus den Klagegründen und dem Vorbringen der Klägerin keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es nach dem Unionsrecht oder Völkerrecht in jedem Fall verboten wäre, mit einem Drittstaat ein Abkommen abzuschließen, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte.

216

Diese Schlussfolgerung wird auch von der Rechtsprechung des Gerichts bestätigt.

217

In der Rechtssache, in der das Urteil Odigitria/Rat und Kommission (oben in Rn. 164 angeführt, EU:T:1995:131) erging, hatte das Gericht über die Frage der Rechtmäßigkeit eines zwischen der Union und einem Drittstaat geschlossenen internationalen Abkommens, das auch auf ein umstrittenes Gebiet hätte Anwendung finden können, zu entscheiden.

218

Das Urteil betraf die Schadensersatzklage einer Firma, der ein unter griechischer Flagge fahrendes Fischereischiff gehörte, das von den Behörden von Guinea-Bissau angehalten wurde, weil es ohne Lizenz im Meeresgebiet dieses Staates fischte. Es stellte sich heraus, dass das fragliche Schiff über eine von den senegalesischen Behörden erteilte Fischereilizenz verfügte, jedoch in Gewässern fischte, die sowohl von der Republik Senegal als auch von der Republik Guinea-Bissau als Teil ihres jeweiligen Meeresgebiets beansprucht wurden. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie damals bestand, hatte sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen dieser Drittstaaten Fischereiabkommen geschlossen, die in beiden Fällen deren jeweiliges gesamtes Meeresgebiet betrafen. Die Klägerin in jener Rechtssache begehrte von der Gemeinschaft den Ersatz des Schadens, den sie wegen des Anhaltens ihres Schiffes erlitten zu haben behauptete, und berief sich in diesem Zusammenhang darauf, es sei rechtswidrig gewesen, dass das Meeresgebiet, das Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen den betreffenden Drittstaaten war, nicht vom Anwendungsbereich der zwischen der Gemeinschaft und dem jeweiligen Drittstaat geschlossenen Fischereiabkommen ausgenommen worden war (Urteil Odigitria/Rat und Kommission, oben in Rn. 164 angeführt, EU:T:1995:131, Rn. 1 bis 13 und 25).

219

Das Gericht war der Ansicht, dass dieses Unterlassen nicht als rechtswidrig eingestuft werden konnte. Es stellte im Wesentlichen fest, dass die Unionsorgane bei der Ausübung des weiten Ermessens, über das sie auf dem Gebiet der Außenwirtschaftsbeziehungen und dem der gemeinsamen Agrarpolitik (zu der auch die Fischerei gehört) verfügten, ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen, entscheiden konnten, dass die fragliche Zone nicht aus den mit den beiden genannten Staaten geschlossenen Fischereiabkommen auszunehmen sei, obwohl zwischen diesen ein Streit hinsichtlich der Gewässer bestand, die sie als Teil ihres Meeresgebiets beanspruchten (vgl. in diesem Sinne Urteil Odigitria/Rat und Kommission, oben in Rn. 164 angeführt, EU:T:1995:131, Rn. 38).

220

Im Umkehrschluss ergibt sich daher aus dem betreffenden Urteil, dass der Abschluss zwischen der Union und einem Drittstaat eines Abkommens, das auch auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte, nicht in jedem Fall gegen das Unionsrecht oder das Völkerrecht, das die Union zu beachten hat, verstößt.

221

Wäre dies nämlich der Fall, hätte das Gericht in Rn. 38 des Urteils Odigitria/Rat und Kommission, (oben in Rn. 164 angeführtEU:T:1995:131) nicht auf einen Ermessensspielraum der Unionsorgane hinsichtlich der Frage verweisen können, ob die zwischen der Republik Senegal und der Republik Guinea-Bissau streitige Zone in den Anwendungsbereich der mit diesen beiden Staaten geschlossenen Fischereiabkommen einzubeziehen war oder nicht. Widerspräche eine solche Einbeziehung in jedem Fall dem Unionsrecht oder dem von den Unionsorganen zu beachtenden Völkerrecht, verfügten diese ganz offensichtlich über keinerlei Ermessen in Bezug auf diese Frage.

222

Außerdem sei darauf hingewiesen, dass sich auch aus den Erwägungen des oben in den Rn. 207 bis 210 genannten Schreibens des Rechtsberaters der UNO kein absolutes Verbot ergibt, ein Abkommen abzuschließen, das sich auf ein umstrittenes Gebiet bezieht. Der Rechtsberater der UNO hat nämlich im Wesentlichen ausgeführt, nur wenn die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Westsahara „unter Missachtung der Interessen und des Willens der Bevölkerung“ dieses Gebiets durchgeführt würde, verstieße sie „gegen die Grundsätze des Völkerrechts“.

Zum Ermessen der Unionsorgane und den von ihnen zu berücksichtigenden Gesichtspunkten

223

Angesichts der vorstehenden Erwägungen und aufgrund der oben in Rn. 164 genannten Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass die Unionsorgane hinsichtlich der Frage, ob mit einem Drittstaat ein Abkommen geschlossen werden soll, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden wird, über einen weiten Ermessensspielraum verfügen.

224

Dass ihnen ein solches Ermessen eingeräumt wird, ist umso mehr gerechtfertigt, als die einschlägigen Regeln und Grundsätze des Völkerrechts, wie sich im Übrigen aus dem oben genannten Schreiben des Rechtsberaters der UNO ergibt, komplex und ungenau sind. Die gerichtliche Kontrolle muss sich daher zwangsläufig auf die Frage beschränken, ob das zuständige Unionsorgan, im vorliegenden Fall der Rat, durch die Genehmigung eines Abkommens wie das mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte Abkommen offensichtliche Beurteilungsfehler begangen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 1998, Racke,C‑162/96, Slg, EU:C:1998:293, Rn. 52).

225

Allerdings hat der Unionsrichter, insbesondere wenn ein Unionsorgan über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, bei der Prüfung, ob das Unionsorgan einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, zu kontrollieren, ob es sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht hat, auf die die daraus gezogenen Schlussfolgerungen gestützt sind (Urteile vom 21. November 1991, Technische Universität München,C‑269/90, Slg, EU:C:1991:438, Rn. 14, und vom 22. Dezember 2010, Gowan Comércio Internacional e Serviços,C‑77/09, Slg, EU:C:2010:803, Rn. 57).

226

Wie oben in Rn. 125 ausgeführt, wirft die Front Polisario dem Rat im Wesentlichen gerade vor, er habe – was insbesondere die mögliche Anwendung des Abkommens, dessen Abschluss mit dem angefochtenen Beschluss genehmigt wurde, auf die Westsahara und auf die aus diesem Gebiet ausgeführten Waren anbelangt –, vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht die relevanten Gesichtspunkte des vorliegenden Falles untersucht.

227

Aus der Charta der Grundrechte, die die Klägerin im Rahmen ihres dritten Klagegrundes angeführt hat, folgt hierbei zwar nicht, wie oben in Rn. 146 dargelegt, dass für die Union ein absolutes Verbot gilt, ein Abkommen abzuschließen, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte. Gleichwohl kommt dem Schutz der Grundrechte der Bevölkerung eines solchen Gebiets eine besondere Bedeutung zu und dieser stellt folglich eine Frage dar, mit der sich der Rat vor der Genehmigung eines solchen Abkommens auseinandersetzen muss.

228

Was vor allem ein Abkommen anbelangt, das insbesondere die Ausfuhr bestimmter Waren aus dem betreffenden Gebiet in die Union erleichtern soll, hat der Rat alle relevanten Gesichtspunkte sorgfältig und unparteiisch zu prüfen, um sicherzustellen, dass die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Herstellung der für die Ausfuhr bestimmten Waren weder zum Nachteil der Bevölkerung des fraglichen Gebiets durchgeführt werden noch gegen deren Grundrechte verstoßen, insbesondere die Menschenwürde, das Recht auf Leben und das Recht auf Unversehrtheit (Art. 1 bis 3 der Charta der Grundrechte), das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 5 der Charta der Grundrechte), die Berufsfreiheit (Art. 15 der Charta der Grundrechte), die unternehmerische Freiheit (Art. 16 der Charta der Grundrechte), das Eigentumsrecht (Art. 17 der Charta der Grundrechte), das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen sowie das Verbot der Kinderarbeit und der Schutz von Jugendlichen am Arbeitsplatz (Art. 31 und 32 der Charta der Grundrechte).

229

Die oben in den Rn. 208 und 209 wiedergegebenen Erwägungen des Rechtsberaters der UNO zu den sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen führen zu demselben Ergebnis.

230

Hierzu macht der Rat geltend, „[d]er Umstand, dass die Union mit einem Drittstaat ein Abkommen geschlossen hat, führt nicht dazu, dass sie für mögliche Handlungen dieses Staates verantwortlich ist oder werden kann, unabhängig davon, ob es sich um Grundrechtsverletzungen handelt“.

231

Diese Ansicht ist zutreffend, berücksichtigt jedoch nicht, dass die Union, wenn sie gestattet, dass von diesem anderen Land Waren in ihre Mitgliedstaaten ausgeführt werden, die unter Bedingungen hergestellt oder erlangt wurden, die die Grundrechte der Bevölkerung des Gebiets, aus dem sie stammen, missachten, Gefahr läuft, solche Verstöße indirekt zu fördern oder von ihnen zu profitieren.

232

Diese Überlegung ist insbesondere in dem Fall von Bedeutung, in dem ein Gebiet wie die Westsahara de facto von einem Drittstaat, im vorliegenden Fall dem Königreich Marokko, verwaltet wird, jedoch nicht innerhalb der international anerkannten Grenzen dieses Drittstaats liegt.

233

Zu berücksichtigen ist auch, dass das Königreich Marokko nicht über ein von der UNO oder einer anderen internationalen Einrichtung erteiltes Mandat für die Verwaltung dieses Gebiets verfügt, und unstreitig ist, dass es der UNO keine Informationen zu diesem Gebiet übermittelt, wie sie in Art. 73 Buchst. e der Charta der Vereinten Nationen vorgesehen sind.

234

Dieser Artikel bestimmt:

„Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben, bekennen sich zu dem Grundsatz, da[ss] die Interessen der Einwohner dieser Hoheitsgebiete Vorrang haben; sie übernehmen als heiligen Auftrag die Verpflichtung, im Rahmen des durch diese Charta errichteten Systems des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit das Wohl dieser Einwohner aufs [Ä]ußerste zu fördern; zu diesem Zweck verpflichten sie sich,

e)

dem Generalsekretär mit der durch die Rücksichtnahme auf Sicherheit und Verfassung gebotenen Einschränkung zu seiner Unterrichtung regelmäßig statistische und sonstige Informationen technischer Art über das Wirtschafts-, Sozial- und Erziehungswesen in den nicht unter die Kapitel XII [über das internationale Treuhandsystem] und XIII [über den Treuhandrat] fallenden Hoheitsgebieten zu übermitteln, für die sie verantwortlich sind.“

235

Der Umstand, dass das Königreich Marokko die in Art. 73 Buchst. e der Charta der Vereinten Nationen vorgesehenen Informationen bezüglich der Westsahara nicht übermittelt hat, kann zumindest Zweifel daran aufkommen lassen, ob das Königreich Marokko den Grundsatz des Vorrangs der Interessen der Bewohner dieses Gebiets und die Verpflichtung, deren Wohl aufs Äußerste zu fördern, wie dies in dieser Bestimmung vorgesehen ist, anerkennt. Darüber hinaus ergibt sich aus den Akten und insbesondere einem von der Klägerin vorgelegten Text, nämlich einer Rede des marokkanischen König vom 6. November 2004, dass das Königreich Marokko die Westsahara als Teil seines Staatsgebiets betrachtet.

236

Der Rat hat geltend gemacht, keine der Regelungen des angefochtenen Beschlusses oder des mit ihm genehmigten Abkommens „führt zu dem Schluss, dass die Ressourcen der Westsahara zum Nachteil der Bewohner dieses Gebiets genutzt werden, oder hält [das Königreich] Marokko davon ab, sicherzustellen, dass die Nutzung der natürlichen Ressourcen zugunsten und im Interesse der Bewohner der Westsahara erfolgt“.

237

Richtig ist, dass die Front Polisario dem Rat nicht vorgeworfen hat, dass er in den angefochtenen Beschluss Bestimmungen aufgenommen habe, die zu einer Nutzung der Ressourcen der Westsahara zum Nachteil ihrer Bewohner führen würden.

238

Jedoch wird, wie oben in Rn. 231 dargelegt, mit dem fraglichen Abkommen die Ausfuhr von insbesondere aus der Westsahara stammenden Waren in die Union erleichtert. Dies gehört nämlich zu den Zielen des Abkommens. Sollte sich herausstellen, dass das Königreich Marokko die Ressourcen der Westsahara zum Nachteil ihrer Bewohner nutzt, könnte diese Nutzung durch den Abschluss des mit dem angefochtenen Beschluss genehmigten Abkommens folglich indirekt gefördert werden.

239

Was das Argument anbelangt, dass die Bestimmungen des Abkommens das Königreich Marokko nicht daran hinderten, sicherzustellen, dass die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Westsahara zugunsten ihrer Bewohner erfolgt, genügt die Feststellung, dass das Abkommen auch nicht gewährleistet, dass die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Westsahara dem Wohl ihrer Bewohner dient. In diesem Punkt ist es völlig neutral und beschränkt sich darauf, die Ausfuhr von aus der Westsahara stammenden Waren in die Union zu erleichtern, unabhängig davon, ob sie eine Nutzung voraussetzen, die dem Wohl der Bewohner der Westsahara dient.

240

Tatsächlich zeigt dieses Argument des Rates, dass es aus seiner Sicht allein dem Königreich Marokko obliegt, sicherzustellen, dass die Nutzung der natürlichen Ressourcen dem Wohl der Bewohner des von ihm kontrollierten Teils der Westsahara dient.

241

Angesichts insbesondere der Tatsache, dass die Souveränität des Königreichs Marokko über die Westsahara weder von der Union und ihren Mitgliedstaaten noch ganz allgemein von der UNO anerkannt ist, und dass die Präsenz Marokkos in diesem Gebiet nicht durch ein internationales Mandat gerechtfertigt ist, hätte sich der Rat bei der Untersuchung aller relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls im Hinblick auf die Ausübung seines weiten Ermessens in Bezug auf den Abschluss eines Abkommens mit dem Königreich Marokko, das auch auf die Westsahara Anwendung finden könnte, selbst davon überzeugen müssen, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass die Nutzung der natürlichen Ressourcen des von Marokko kontrollierten Gebiets der Westsahara zum Nachteil ihrer Bewohner erfolgen und deren Grundrechte verletzen könnte. Er hätte sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen dürfen, dass es dem Königreich Marokko obliegt, sicherzustellen, dass es nicht zu einer solchen Nutzung kommt.

242

Hierzu ist festzustellen, dass die Front Polisario die Nutzung der natürlichen Ressourcen der von Marokko kontrollierten Westsahara als „wirtschaftliche Ausbeutung [bezeichnet], deren Ziel darin besteht, die Struktur der saharauischen Gesellschaft zu verändern“. Sie fügt hinzu, sie habe der UNO ihren Protest in Bezug auf das geplante und mit dem angefochtenen Beschluss genehmigte Abkommen mitgeteilt. Ihre im Rahmen des fünften und des sechsten Klagegrundes (siehe oben, Rn. 159, 169 und 170) vorgebrachten Argumente gehen ebenfalls in diese Richtung.

243

Die Front Polisario hat auch einen detaillierten Bericht ihres Rechtsbeistands zu den Akten gereicht, in dem insbesondere behauptet wird, die landwirtschaftlichen Betriebe in der Westsahara würden von ausländischen, nicht einheimischen Personen und Unternehmen kontrolliert, seien allein auf die Ausfuhr ausgerichtet und beruhten auf der Entnahme von Wasser aus nicht erneuerbaren Wasserreserven in der Tiefe. In diesem Bericht wird auf einen von einer Nichtregierungsorganisation veröffentlichten Bericht verwiesen, der diese Behauptungen bestätige.

244

Weder aus dem Vorbringen des Rates noch aus den von ihm zu den Akten gegebenen Unterlagen geht hervor, dass er eine Untersuchung, wie sie oben in Rn. 241 beschrieben ist, vorgenommen hat. Zu den vorstehend in den Rn. 242 und 243 genannten Behauptungen der Front Polisario hat sich der Rat nicht geäußert und sie auch nicht dementiert, was darauf hindeutet, dass er nicht geprüft hat, ob die Nutzung der natürlichen Ressourcen der von Marokko kontrollierten Westsahara zugunsten der Bevölkerung dieses Gebiets erfolgt.

245

Aus den von der Front Polisario angeführten Umständen geht allerdings hervor, dass diese Behauptungen eine gewisse Verbreitung gefunden hatten und sie insbesondere von ihr der UNO zur Kenntnis gebracht wurden. Der Rat konnte sie daher nicht übergehen und hätte sie auf ihre Plausibilität überprüfen sollen.

246

Die oben in den Rn. 230 und 236 wiedergegebenen Argumente des Rates zeigen stattdessen, dass er der Ansicht ist, dass die Frage, ob die Nutzung der Ressourcen der Westsahara zum Nachteil der lokalen Bevölkerung erfolgt, nur die marokkanischen Behörden angehe. Aus den oben in den Rn. 227 bis 233 genannten Gründen kann dieser Auffassung jedoch nicht zugestimmt werden.

247

Daraus folgt, dass der Rat seine Verpflichtung verletzt hat, vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Daher ist der Klage stattzugeben und der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er die Anwendung des Abkommens, auf das er sich bezieht, auf die Westsahara genehmigt.

248

In Anbetracht dieses Ergebnisses ist es nicht erforderlich, über die Zulässigkeit der oben in Rn. 27 genannten Dokumente zu entscheiden, da deren Berücksichtigung im vorliegenden Fall nicht notwendig ist.

Kosten

249

Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Außerdem sieht Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung vor, dass die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen.

250

Im vorliegenden Fall sind der Rat und die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen. Die Front Polisario hat zwar erst in ihrer Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz der Kommission beantragt, ihnen die Kosten aufzuerlegen (siehe oben, Rn. 31), doch können nach der Rechtsprechung die Beteiligten auch nach der Erhebung der Klage und sogar in der mündlichen Verhandlung Kostenanträge stellen, selbst wenn sie in der Klageschrift keine Kostenanträge gestellt haben (vgl. Urteil vom 14. Dezember 2006, Mast-Jägermeister/HABM – Licorera Zacapaneca [VENADO mit Rahmen u. a.], T‑81/03, T‑82/03 und T‑103/03, Slg, EU:T:2006:397, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung).

251

Daher sind der Rat und die Kommission zur Tragung ihrer eigenen Kosten sowie der Kosten der Front Polisario zu verurteilen.

 

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Achte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Der Beschluss 2012/497/EU des Rates vom 8. März 2012 zum Abschluss des Abkommens in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko mit Maßnahmen zur gegenseitigen Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen, zur Ersetzung der Protokolle Nrn. 1, 2 und 3 und ihrer Anhänge sowie zur Änderung des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits wird für nichtig erklärt, soweit er die Anwendung dieses Abkommens auf die Westsahara genehmigt.

 

2.

Der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Front populaire pour la libération de la saguia-el-hamra et du rio de oro (Front Polisario).

 

Gratsias

Kancheva

Wetter

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Dezember 2015.

Unterschriften

Inhaltsverzeichnis

 

Vorgeschichte des Rechtsstreits

 

Zum internationalen Status der Westsahara

 

Zum angefochtenen Beschluss und den Vorgängerbeschlüssen

 

Verfahren und Anträge der Parteien

 

Zur Zulässigkeit

 

Zur Parteifähigkeit der Front Polisario

 

Zur unmittelbaren und individuellen Betroffenheit der Front Polisario durch den angefochtenen Beschluss

 

Zur Begründetheit

 

Zum ersten Klagegrund

 

Zum zweiten Klagegrund

 

Zu den anderen Klagegründen

 

Zum Vorliegen eines absoluten Verbots, ein Abkommen abzuschließen, das auf ein umstrittenes Gebiet Anwendung finden könnte

 

– Zum dritten Klagegrund

 

– Zum vierten Klagegrund

 

– Zum fünften Klagegrund

 

– Zum sechsten Klagegrund

 

– Zum siebten Klagegrund

 

– Zum achten Klagegrund

 

– Vorbemerkungen zum Einfluss des Völkerrechts

 

– Zum neunten Klagegrund

 

– Zum zehnten Klagegrund

 

– Zum elften Klagegrund

 

– Schlussfolgerung hinsichtlich des Vorliegens eines absoluten Verbots, internationale Übereinkünfte abzuschließen, die auf ein umstrittenes Gebiet anwendbar sind

 

Zum Ermessen der Unionsorgane und den von ihnen zu berücksichtigenden Gesichtspunkten

 

Kosten


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 10. Dez. 2015 - T-512/12

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