Europäischer Gerichtshof Urteil, 02. Okt. 2018 - C-73/17

ECLI:ECLI:EU:C:2018:787
bei uns veröffentlicht am02.10.2018

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

2. Oktober 2018 ( *1 )

„Nichtigkeitsklage – Institutionelles Recht – Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union – Europäisches Parlament – Begriff der ‚Haushaltstagung‘, die in Straßburg (Frankreich) stattfindet – Art. 314 AEUV – Ausübung der Haushaltsbefugnis im Rahmen einer zusätzlichen Plenartagung in Brüssel (Belgien)“

In der Rechtssache C‑73/17

betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 9. Februar 2017,

Französische Republik, vertreten durch F. Alabrune, D. Colas, B. Fodda und E. de Moustier als Bevollmächtigte,

Klägerin,

unterstützt durch

Großherzogtum Luxemburg, vertreten durch D. Holderer und C. Schiltz als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch R. Crowe und U. Rösslein als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Rosas, der Richter E. Juhász und D. Šváby, der Richterin A. Prechal, des Richters F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und M. Vilaras,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2018,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juni 2018

folgendes

Urteil

1

Die Französische Republik beantragt mit ihrer Klage die Nichtigerklärung von vier Handlungen des Europäischen Parlaments, die mit der Annahme des Jahreshaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2017 zusammenhängen:

die Tagesordnung der Plenarsitzung des Parlaments vom 30. November 2016 (Dokument P8_OJ [2016]11‑30), soweit sie eine Aussprache über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 vorsieht;

die Tagesordnung der Plenarsitzung des Parlaments vom 1. Dezember 2016 (Dokument P8_OJ [2016]12‑01), soweit sie eine Abstimmung gefolgt von Erklärungen zur Abstimmung über diesen gemeinsamen Entwurf vorsieht;

die legislative Entschließung des Parlaments vom 1. Dezember 2016 (Dokument T8‑0475/2016, P8_TA-PROV[2016]0475) zu diesem gemeinsamen Entwurf und

die Handlung vom 1. Dezember 2016, mit der der Präsident des Parlaments festgestellt hat, dass der Jahreshaushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen ist.

Rechtlicher Rahmen

2

Am 12. Dezember 1992 fassten die Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 216 des EWG-Vertrags, Art. 77 des EGKS-Vertrags und Art. 189 des EAG-Vertrags im gegenseitigen Einvernehmen den Beschluss über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen und Dienststellen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1992, C 341, S. 1, im Folgenden: Beschluss von Edinburgh).

3

Auf der Regierungskonferenz, die zur Annahme des Vertrags von Amsterdam geführt hat, wurde der Text des Beschlusses von Edinburgh dem EU-, dem EG-, dem EGKS- und dem EAG-Vertrag als Protokoll beigefügt.

4

Derzeit sieht der einzige Artikel Buchst. a des Protokolls über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, das dem EU-Vertrag, dem AEU-Vertrag und dem EAG-Vertrag beigefügt ist (im Folgenden: Protokoll über die Sitze der Organe), nahezu wortgleich mit Art. 1 Buchst. a des Beschlusses von Edinburgh vor:

„Das Europäische Parlament hat seinen Sitz in Straßburg; dort finden die 12 monatlichen Plenartagungen einschließlich der Haushaltstagung statt. Zusätzliche Plenartagungen finden in Brüssel statt. Die Ausschüsse des Europäischen Parlaments treten in Brüssel zusammen. Das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments und dessen Dienststellen verbleiben in Luxemburg.“

5

Art. 314 AEUV bestimmt u. a.:

„Das Europäische Parlament und der Rat legen den Jahreshaushaltsplan der Union im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens nach den folgenden Bestimmungen fest:

(3)   Der Rat legt seinen Standpunkt zu dem Entwurf des Haushaltsplans fest und leitet ihn spätestens am 1. Oktober des Jahres, das dem entsprechenden Haushaltsjahr vorausgeht, dem Europäischen Parlament zu. …

(4)   Hat das Europäische Parlament binnen 42 Tagen nach der Übermittlung

c)

mit der Mehrheit seiner Mitglieder Abänderungen angenommen, so wird die abgeänderte Fassung des Entwurfs dem Rat und der Kommission zugeleitet. Der Präsident des Europäischen Parlaments beruft im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Rates umgehend den Vermittlungsausschuss ein. …

(5)   Der Vermittlungsausschuss, der aus den Mitgliedern des Rates oder deren Vertretern und ebenso vielen das Europäische Parlament vertretenden Mitgliedern besteht, hat die Aufgabe, binnen 21 Tagen nach seiner Einberufung auf der Grundlage der Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates mit der qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Rates oder deren Vertretern und der Mehrheit der das Europäische Parlament vertretenden Mitglieder eine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf zu erzielen.

(6)   Einigt sich der Vermittlungsausschuss innerhalb der in Absatz 5 genannten Frist von 21 Tagen auf einen gemeinsamen Entwurf, so verfügen das Europäische Parlament und der Rat ab dieser Einigung über eine Frist von 14 Tagen, um den gemeinsamen Entwurf zu billigen.

(7)   Wenn innerhalb der in Absatz 6 genannten Frist von 14 Tagen

a)

der gemeinsame Entwurf sowohl vom Europäischen Parlament als auch vom Rat gebilligt wird oder beide keinen Beschluss fassen oder eines dieser Organe den gemeinsamen Entwurf billigt, während das andere Organ keinen Beschluss fasst, so gilt der Haushaltsplan als entsprechend dem gemeinsamen Entwurf endgültig erlassen, oder

b)

der gemeinsame Entwurf sowohl vom Europäischen Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder als auch vom Rat abgelehnt wird oder eines dieser Organe den gemeinsamen Entwurf ablehnt, während das andere Organ keinen Beschluss fasst, so legt die Kommission einen neuen Entwurf für den Haushaltsplan vor, oder

d)

der gemeinsame Entwurf vom Europäischen Parlament gebilligt wird, während er vom Rat abgelehnt wird, so kann das Europäische Parlament binnen 14 Tagen ab dem Tag der Ablehnung durch den Rat mit der Mehrheit seiner Mitglieder und drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen beschließen, alle oder einige der in Absatz 4 Buchstabe c genannten Abänderungen zu bestätigen. Wird eine Abänderung des Europäischen Parlaments nicht bestätigt, so wird der im Vermittlungsausschuss vereinbarte Standpunkt zu dem Haushaltsposten, der Gegenstand der Abänderung ist, übernommen. Der Haushaltsplan gilt als auf dieser Grundlage endgültig erlassen.

(9)   Nach Abschluss des Verfahrens dieses Artikels stellt der Präsident des Europäischen Parlaments fest, dass der Haushaltsplan endgültig erlassen ist.

(10)   Jedes Organ übt die ihm aufgrund dieses Artikels zufallenden Befugnisse unter Wahrung der Verträge und der Rechtsakte aus, die auf der Grundlage der Verträge insbesondere im Bereich der Eigenmittel der Union und des Gleichgewichts von Einnahmen und Ausgaben erlassen wurden.“

6

Art. 156 („Fristen“) der auf den Rechtsstreit anwendbaren Fassung der Geschäftsordnung des Parlaments (im Folgenden: Geschäftsordnung) sieht vor:

„Außer in den in den Artikeln 135 und 154 vorgesehenen Dringlichkeitsfällen können die Aussprache und die Abstimmung über einen Text nur stattfinden, wenn dieser den Mitgliedern mindestens 24 Stunden zuvor zur Verfügung gestellt wurde.“

7

Nach Art. 158 Abs. 1 der Geschäftsordnung sind „[a]lle Schriftstücke des Parlaments … in den Amtssprachen abzufassen“.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

8

Am 20. Mai 2015 nahm das Parlament den Sitzungskalender für das Jahr 2016 an und sah u. a. vor, dass vom 24. bis 27. Oktober 2016, vom 21. bis 24. November 2016 und vom 12. bis 15. Dezember 2016 ordentliche Plenartagungen in Straßburg (Frankreich) sowie am 30. November und 1. Dezember 2016 eine zusätzliche Plenartagung in Brüssel (Belgien) stattfinden.

9

Am 18. Juli 2016 veröffentlichte die Kommission einen Entwurf für den Jahreshaushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017. Am 14. September 2016 übermittelte der Rat dem Parlament seine Stellungnahme zu diesem Entwurf. Nach einer Abstimmung im Haushaltsausschuss und Aussprachen während der ordentlichen Plenartagung, die vom 24. bis 27. Oktober 2016 in Straßburg stattfand, nahm das Parlament am 26. Oktober 2016 eine legislative Entschließung an, die Änderungen an diesem Entwurf enthielt. Am 27. Oktober 2016 begann das Vermittlungsverfahren zwischen dem Parlament und dem Rat. Es führte am 17. November 2016 zu einer Einigung über einen gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017, der am selben Tag dem Parlament und dem Rat zugeleitet wurde. Der Text dieser Einigung wurde von den Dienststellen der Kommission in technischer Hinsicht überarbeitet, um ihn in Haushalts- und Rechtsbegriffe umzusetzen. Der so überarbeitete gemeinsame Entwurf des Haushaltsplans wurde dem Parlament am Nachmittag des 24. November 2016 übermittelt.

10

Am 28. November 2016 billigte der Rat den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017. Das Parlament setzte die Aussprache und die Abstimmung über diesen Entwurf nicht auf die Tagesordnung der ordentlichen Plenartagung, die vom 21. bis 24. November 2016 in Straßburg stattfand, sondern auf die Tagesordnung der zusätzlichen Plenartagung, die am 30. November und 1. Dezember 2016 in Brüssel stattfand. Das Parlament billigte diesen Entwurf mit der legislativen Entschließung vom 1. Dezember 2016. Am selben Tag stellte der Präsident des Parlaments in der Plenarsitzung fest, dass der Jahreshaushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen sei.

Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

11

Die Französische Republik beantragt,

die angefochtenen Handlungen für nichtig zu erklären;

die Wirkungen der Handlung, mit der der Präsident des Europäischen Parlaments die endgültige Annahme des Jahreshaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2017 festgestellt hat, aufrechtzuerhalten, bis dieser Haushaltsplan mit einer mit den Verträgen in Einklang stehenden Handlung innerhalb einer angemessenen Frist ab Verkündung des Urteils endgültig erlassen wird, und

dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.

12

Das Parlament beantragt,

die Klage, soweit sie sich auf die beiden Tagesordnungen der Plenarsitzungen des Parlaments vom 30. November und 1. Dezember 2016 und die legislative Entschließung des Parlaments vom 1. Dezember 2016 bezieht, für unzulässig zu erklären;

die Klage abzuweisen;

der Französischen Republik die Kosten aufzuerlegen;

hilfsweise, die Wirkungen der Handlung, mit der der Präsident des Parlaments festgestellt hat, dass der Jahreshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen ist, aufrechtzuerhalten, bis diese Handlung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine neue ersetzt wird.

13

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 7. Juni 2017 ist das Großherzogtum Luxemburg als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Französischen Republik zugelassen worden.

Zur Klage

Zur Zulässigkeit

14

Das Parlament trägt vor, dass die Klage, soweit sie sich auf die beiden Tagesordnungen der Plenarsitzungen des Parlaments vom 30. November und 1. Dezember 2016 und auf die legislative Entschließung des Parlaments vom 1. Dezember 2016 beziehe, unzulässig sei. Diese Tagesordnungen seien rein interne organisatorische Maßnahmen, die keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalteten, und die legislative Entschließung sei nur eine vorbereitende Handlung für die Handlung, mit der der Präsident des Europäischen Parlaments festgestellt habe, dass der Jahreshaushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen sei.

15

Dazu ist festzustellen, dass das Parlament sich dadurch, dass es die Aussprache und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 auf die Tagesordnung der Plenarsitzungen vom 30. November und 1. Dezember 2016 gesetzt hat, dafür entschieden hat, seine Haushaltsbefugnisse nach Art. 314 Abs. 6 AEUV in einer zusätzlichen Plenartagung in Brüssel auszuüben. Die Frage, ob die angefochtenen Tagesordnungen ausschließlich die interne Organisation des Parlaments betreffen oder ob sie Rechtswirkungen Dritten gegenüber haben, weil sich solche Wirkungen daraus ergeben, dass dieses Organ seine Befugnisse ausübt, ist aber untrennbar mit der Prüfung ihres Inhalts, also mit der Untersuchung der Begründetheit der Klage, verbunden, so dass diese Frage nicht im Rahmen der Zulässigkeit der Klage beurteilt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Februar 1983, Luxemburg/Parlament, 230/81, EU:C:1983:32, Rn. 30, vom 28. November 1991, Luxemburg/Parlament, C‑213/88 und C‑39/89, EU:C:1991:449, Rn. 16, sowie vom 13. Dezember 2012, Frankreich/Parlament, C‑237/11 und C‑238/11, EU:C:2012:796, Rn. 20).

16

Was die legislative Entschließung des Parlaments vom 1. Dezember 2016 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Beschluss des Parlaments über den Entwurf des Jahreshaushaltsplans in zweiter Lesung gemäß Art. 203 Abs. 6 EWG-Vertrag Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein kann. Nach Art. 203 Abs. 10 EWG-Vertrag (später Art. 203 Abs. 10 EG-Vertrag, danach Art. 272 Abs. 10 EG, dann Art. 314 Abs. 10 AEUV) übt jedes Organ die ihm im Haushaltsbereich übertragenen Befugnisse unter Beachtung der Vorschriften des Vertrags aus. Wären die verschiedenen Handlungen der Haushaltsbehörde der Überwachung durch den Gerichtshof entzogen, könnten die Organe, die zusammen die Haushaltsbehörde bilden, in die Befugnisse der Mitgliedstaaten oder der anderen Organe eingreifen oder die Grenzen ihrer Befugnisse überschreiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 1986, Rat/Parlament, 34/86, EU:C:1986:291, Rn. 12). Diese Erwägungen gelten entsprechend für die legislative Entschließung des Parlaments vom 1. Dezember 2016, mit der der gemeinsame Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 in zweiter Lesung gemäß Art. 314 Abs. 6 AEUV gebilligt wurde.

17

Folglich ist die Klage zulässig.

Zur Begründetheit

Vorbringen der Parteien

18

Die Französische Republik, unterstützt vom Großherzogtum Luxemburg, macht einen einzigen Klagegrund geltend, nämlich die Verletzung des Protokolls über die Sitze der Organe durch die angefochtenen Handlungen. Nach dem einzigen Artikel Buchst. a dieses Protokolls habe das Parlament die ihm durch Art. 314 AEUV zugewiesenen Haushaltsbefugnisse zur Gänze während der ordentlichen Plenartagungen auszuüben, die in Straßburg stattfänden. Im vorliegenden Fall habe dieses Organ diese Regel missachtet, indem es die Aussprache und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 nach Art. 314 Abs. 6 AEUV auf die Tagesordnung seiner zusätzlichen Plenartagung vom 30. November und 1. Dezember 2016 in Brüssel gesetzt habe und indem es in derselben zusätzlichen Plenartagung durch eine auf Art. 314 Abs. 9 AEUV gestützte Handlung des Präsidenten des Parlaments festgestellt habe, dass der Jahreshaushaltsplan der Union endgültig erlassen sei.

19

Die Regel des einzigen Artikels Buchst. a dieses Protokolls sehe nämlich keine Ausnahme vor. Die Französische Republik habe zwar keine Einwände dagegen erhoben, dass bestimmte Handlungen in Bezug auf die Ausführung des Haushaltsplans in zusätzlichen Plenartagungen erlassen würden, insbesondere um bestimmten unvorhergesehenen Ereignissen Rechnung zu tragen, diese Praxis könne aber in Bezug auf das durch Art. 314 AEUV geregelte Haushaltsverfahren nicht toleriert werden, das zur Annahme des Jahreshaushaltsplans der Union führe und ein Schlüsselereignis im demokratischen Leben der Union darstelle.

20

Die Französische Republik ist der Ansicht, die Bestimmungen dieses Art. 314 müssten mit den Regeln über den Sitz des Parlaments im Sinne des Protokolls über die Sitze der Organe in Einklang gebracht werden, die nach Art. 51 EUV einen integralen Bestandteil der Verträge darstellten und auf der gleichen rechtlichen Stufe stünden wie Art. 314 AEUV. So dürften die Verpflichtungen, die sich aus den in dieser Bestimmung vorgesehenen Fristen ergäben, den in diesem Protokoll niedergelegten Pflichten in Bezug auf den Sitz des Parlaments nicht vorgehen, umso mehr, als sie miteinander in Einklang gebracht werden könnten.

21

Das Parlament müsse den Sitzungskalender für die ordentlichen Plenartagungen in Straßburg so festsetzen, dass eine von ihnen für die Abstimmung des Parlaments über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans, der sich aus dem Vermittlungsverfahren ergeben habe, innerhalb der in Art. 314 Abs. 6 AEUV festgelegten Frist von 14 Tagen vorgesehen sei. Da der Vermittlungsausschuss den in Art. 314 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Vermittlungszeitraum von 21 Tagen im Allgemeinen ausschöpfe, sei es möglich, den Zeitpunkt der Einigung über diesen gemeinsamen Entwurf vorherzusehen. Sollte der Vermittlungsausschuss vor diesem Zeitpunkt eine Einigung erzielen, könne die „Formalisierung“ dieser Einigung und demnach der Zeitpunkt, zu dem die oben angeführte Frist von 14 Tagen zu laufen beginne, hinausgeschoben werden.

22

Zudem sei es dem Parlament im vorliegenden Fall möglich gewesen, die Aussprache und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 auf die Tagesordnung einer Sitzung der ordentlichen Plenartagung, die vom 21. bis 24. November 2016 in Straßburg stattgefunden habe, zu setzen und dabei die in Art. 314 Abs. 6 AEUV vorgesehene Frist von 14 Tagen einzuhalten. Diese ordentliche Plenartagung habe nämlich vollständig während dieser Frist stattgefunden und vier Tage nach der Einigung über diesen gemeinsamen Entwurf, die am 17. November 2016 erfolgt sei, begonnen. Somit sei das Parlament unter Berücksichtigung der einzigen verbindlichen Frist vor Eröffnung der Debatte über einen Text, nämlich die in Art. 156 der Geschäftsordnung vorgesehene Frist der Zurverfügungstellung von mindestens 24 Stunden, jedenfalls in der Lage gewesen, die Aussprache und die Abstimmung über diesen gemeinsamen Entwurf auf die Tagesordnung dieser ordentlichen Plenartagung zu setzen. Vor diesem Hintergrund bestreitet die Französische Republik, dass die vom Parlament geltend gemachten Herausforderungen in Bezug auf die Überarbeitung in technischer Hinsicht, die Übersetzung und die Fertigstellung der Haushaltsakte es ihm nicht ermöglicht hätten, über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 in der ordentlichen Plenartagung, die vom 21. bis 24. November 2016 in Straßburg stattgefunden habe, zu entscheiden.

23

Was schließlich die Handlung, mit der der Präsident des Parlaments festgestellt habe, dass der Haushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen sei, betreffe, habe das Parlament nichts daran gehindert, die nächste ordentliche Plenartagung abzuwarten, die vom 12. bis 15. Dezember 2016 stattgefunden habe.

24

Das Parlament macht geltend, dass der Begriff „Haushaltstagung“ dahin auszulegen sei, dass er sich auf eine einzige spezifische Plenartagung beziehe, nämlich die Tagung, während der das Parlament seine ihm ursprünglich nach Art. 203 EWG-Vertrag eingeräumten Befugnisse ausübe, zum ursprünglichen Haushaltsentwurf in der vom Rat abgeänderten Fassung Änderungen vorzuschlagen. Der Beschluss von Edinburgh bestätige die frühere Praxis des Parlaments, nach der Ende Oktober oder Anfang November zu diesem Zweck eine Plenartagung in Straßburg stattfinde. Diese Plenartagung, die sogenannte „Oktober‑II-Tagung“, habe wegen der Praxis des Parlaments, keine Plenartagung im August abzuhalten, zusätzlich zu der ordentlichen Plenartagung im Oktober stattgefunden, und zwar im Wesentlichen für die erste Lesung des Haushaltsplans.

25

Dagegen deute entgegen dem Vorbringen der Französischen Republik im Protokoll über die Sitze der Organe nichts darauf hin, dass die späteren Aussprachen und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans, der sich aus dem Vermittlungsverfahren ergeben habe, ebenfalls im Rahmen einer ordentlichen Plenartagung in Straßburg stattfinden müssten. Die von der Französischen Republik vertretene Auslegung bringe entweder mit sich, dass in der zweiten Jahreshälfte mehr als sechs monatliche Plenartagungen in Straßburg stattfänden, was der in diesem Protokoll vorgesehenen Verpflichtung widerspräche, die zwölf monatlichen Tagungen in Straßburg in regelmäßigen Zeitabständen abzuhalten, oder dass es mit der praktischen Wirksamkeit von Art. 314 AEUV unvereinbare Folgen gebe.

26

In Anbetracht der in Art. 314 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist von 14 Tagen für die Billigung des gemeinsamen Entwurfs des Jahreshaushaltsplans macht das Parlament geltend, diese Auslegung würde den Vermittlungsausschuss verpflichten, diesen Entwurf systematisch innerhalb von 14 Tagen vor einer Plenartagung in Straßburg anzunehmen, und ihm somit die Freiheit nehmen, diesen Entwurf zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb der in Art. 314 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Vermittlungsfrist von 21 Tagen anzunehmen. Außerdem hindere diese Auslegung das Parlament daran, eine Aussprache über den Jahreshaushaltsplan der Union abzuhalten und nach der zwölften ordentlichen Plenartagung in Straßburg über diesen abzustimmen, und berücksichtige nicht den in Art. 314 Abs. 7 Buchst. b und d AEUV vorgesehenen Fall, dass der Haushaltsplan im Rahmen eines neuen Haushaltsverfahrens oder durch eine Abstimmung des Parlaments, die alle oder einige der Abänderungen bestätige, angenommen werden müsse. Werde am Ende des Haushaltsjahrs kein Haushaltsplan erlassen, komme Art. 315 AEUV über den vorläufigen Haushaltsplan zur Anwendung.

27

Im Übrigen sei es im vorliegenden Fall nicht möglich gewesen, die Aussprache und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 auf die Tagesordnung einer Sitzung im Rahmen der ordentlichen Plenartagung, die vom 21. bis 24. November 2016 in Straßburg stattgefunden habe, zu setzen. Bevor dieser gemeinsame Entwurf dem Parlament und dem Rat zur Billigung vorgelegt worden sei, sei es nämlich notwendig gewesen, die politische Einigung, die den Übermittlungsschreiben des Vermittlungsausschusses beigelegt worden sei, in juristische Haushaltstexte zu übertragen und sie in alle Amtssprachen der Union zu übersetzen. Die Überarbeitung in technischer Hinsicht des gemeinsamen Entwurfs nehme immer ungefähr eine Arbeitswoche in Anspruch und werde üblicherweise den Dienststellen der Kommission übertragen. Im vorliegenden Fall habe die Kommission erst 18 Minuten vor dem Ende der ordentlichen Plenartagung im November 2016 dem Parlament und dem Rat mitgeteilt, dass dieser überarbeitete gemeinsame Entwurf zur Verfügung stehe, und das auch nur in englischer Sprache.

Würdigung durch den Gerichtshof

28

Das Parlament hat die ihm zufallenden Haushaltsbefugnisse, wie Art. 314 Abs. 10 AEUV bekräftigt, unter Wahrung der Verträge und der Rechtsakte, die auf der Grundlage der Verträge erlassen wurden, auszuüben.

29

Erstens muss dieses Organ das Protokoll über die Sitze der Organe beachten, das nach Art. 51 EUV ein integraler Bestandteil der Verträge ist. Der einzige Artikel Buchst. a dieses Protokolls bestimmt: „Das Europäische Parlament hat seinen Sitz in Straßburg; dort finden die 12 monatlichen Plenartagungen einschließlich der Haushaltstagung statt.“

30

Die Französische Republik trägt vor, dass das Parlament nach dieser letzten Bestimmung verpflichtet sei, seine Haushaltsbefugnisse zur Gänze in Straßburg auszuüben. Nach Ansicht des Parlaments bezieht sich diese Bestimmung dagegen auf eine spezifische Plenartagung, nämlich diejenige, die den Haushaltsentwurf in erster Lesung betreffe, was die angefochtenen Handlungen vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausschließe.

31

Dazu ist festzustellen, dass der einzige Artikel Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe auf die „Haushaltstagung“ verweist, ohne jedoch einen konkreten Zeitraum der ordentlichen Plenartagung oder die Handlungen zu nennen, die im Rahmen des Haushaltsverfahrens in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments fallen und während dieser Plenartagung beschlossen werden müssten. Nach Art. 314 AEUV kann es sein, dass das Parlament mehrmals und angesichts der in diesem Artikel vorgesehenen Termine und Fristen während verschiedener ordentlicher Plenartagungen über den Jahreshaushaltsplan der Union entscheiden muss.

32

Mangels Konkretisierung im einzigen Artikel Buchst. a dieses Protokolls ist der Begriff „Haushaltstagung“ als Bezugnahme auf alle Plenartagungen, während deren das Parlament seine Haushaltsbefugnisse ausübt, und auf alle Handlungen zu verstehen, die dieses Organ zu diesem Zweck erlässt.

33

Was Art. 1 Buchst. a des Beschlusses von Edinburgh, der nahezu mit dem einzigen Artikel Buchst. a dieses Protokolls identisch ist, angeht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass diese Bestimmung den Sitz des Parlaments als den Ort definiert, an dem in regelmäßigen Zeitabständen zwölf ordentliche Plenartagungen dieses Organs einschließlich derjenigen, auf denen das Parlament die ihm durch den Vertrag zugewiesenen Haushaltsbefugnisse auszuüben hat, abzuhalten sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Oktober 1997, Frankreich/Parlament, C‑345/95, EU:C:1997:450, Rn. 29, und vom 13. Dezember 2012, Frankreich/Parlament, C‑237/11 und C‑238/11, EU:C:2012:796, Rn. 40).

34

Zu ergänzen ist, dass der Ausübung der Haushaltsbefugnisse durch das Parlament in der Plenarsitzung eine besondere Bedeutung zukommt für die Transparenz und die demokratische Legitimation der Handlungen der Union, die auf ihrem jährlichen Haushaltsplan beruhen. Die Transparenz und die Legitimation können aber nicht allein durch die erste Lesung des Haushaltsentwurfs im Rahmen des Haushaltsverfahrens nach Art. 314 AEUV gewährleistet werden, wenn das Parlament gemäß Art. 314 Abs. 4 Buchst. c AEUV Abänderungen an diesem Entwurf annimmt.

35

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt die Ausübung seiner Haushaltszuständigkeit in Plenarsitzung durch das Parlament ein grundlegendes Element des demokratischen Lebens der Union dar und bedarf insbesondere einer öffentlichen Erörterung in Plenarsitzung, die es den Unionsbürgern ermöglicht, von den unterschiedlichen zum Ausdruck gebrachten politischen Ausrichtungen Kenntnis zu nehmen und sich damit eine politische Meinung über die Handlungen der Union zu bilden (Urteil vom 13. Dezember 2012, Frankreich/Parlament, C‑237/11 und C‑238/11, EU:C:2012:796, Rn. 68). Außerdem ist die Transparenz der parlamentarischen Beratung in Plenarsitzung geeignet, die demokratische Legitimation des Haushaltsverfahrens für die Unionsbürger und die Glaubwürdigkeit der Handlungen der Union zu stärken.

36

Das Vermittlungsverfahren nach Art. 314 Abs. 4 Buchst. c und Abs. 5 AEUV kann aber zu wesentlichen Änderungen des Entwurfs des Haushaltsplans führen, die vom Parlament in der ersten Lesung nicht geprüft worden sind und auch nicht Gegenstand einer öffentlichen Erörterung im Vermittlungsausschuss waren. Wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, sind die Sitzungen dieses Ausschusses nicht öffentlich und finden unter der Beteiligung von 28 Mitgliedern des Parlaments statt, was die Mehrheitsverhältnisse im Parlament widerspiegelt, ohne jedoch die politischen Interessen aller Mitglieder dieses Organs vollständig zu vertreten.

37

Unter diesen Voraussetzungen umfasst der Begriff „Haushaltstagung“ im einzigen Artikel Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe nicht nur die ordentliche Plenartagung, die der Prüfung des Entwurfs des Haushaltsplans in erster Lesung gewidmet ist, sondern auch die zweite Lesung gemäß Art. 314 Abs. 6 AEUV, die eine öffentliche Aussprache und Abstimmung in Plenarsitzung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans sicherstellt, der sich aus dem Vermittlungsverfahren ergeben hat.

38

Zweitens muss das Parlament die Anforderungen erfüllen, die ihm Art. 314 AEUV für die Ausübung seiner Haushaltsbefugnisse in Plenarsitzung auferlegt. Die in dieser Bestimmung niedergelegten Termine und Fristen sollen die Annahme des Jahreshaushaltsplans der Union vor dem Ende des Jahres, das dem fraglichen Haushaltsjahr vorausgeht, gewährleisten. Ihre Nichteinhaltung kann gegebenenfalls zur Anwendung von Art. 315 AEUV über den vorläufigen Haushaltsplan führen.

39

Somit geht aus Art. 314 Abs. 7 Buchst. b AEUV hervor, dass insbesondere in dem Fall, dass das Parlament innerhalb der in Art. 314 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist von 14 Tagen in zweiter Lesung keinen Beschluss über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans fasst oder der Rat diesen innerhalb dieser Frist ablehnt, die Kommission einen neuen Entwurf für den Haushaltsplan vorlegt und das Haushaltsverfahren demnach vollständig wiederholt werden muss. In eben diesem Fall verliert das Parlament außerdem seine Prärogative nach Art. 314 Abs. 7 Buchst. d AEUV, die es ihm ermöglicht, im Fall der Ablehnung des gemeinsamen Entwurfs des Jahreshaushaltsplans durch den Rat über den Erlass des Haushaltsplans durch eine zusätzliche Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit allein zu entscheiden.

40

Außerdem kann dieser Entwurf mangels einer Aussprache und einer Abstimmung des Parlaments über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans innerhalb der in Art. 314 Abs. 6 AEUV niedergelegten Frist von 14 Tagen unter den Voraussetzungen des Art. 314 Abs. 7 Buchst. a AEUV durch den Rat allein angenommen werden. Wie in den Rn. 34 bis 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ist es aber von besonderer Bedeutung für die Transparenz und die demokratische Legitimation der Handlungen der Union, die sich im Verfahren über den Erlass des Jahreshaushaltsplans offenbaren, dass das Parlament seine ihm nach Art. 314 Abs. 6 AEUV zustehende Befugnis ausübt und in Plenarsitzung über diesen gemeinsamen Entwurf entscheidet.

41

Folglich ist das Parlament gehalten, in diesem Bereich mit größter Aufmerksamkeit, Genauigkeit und allem Einsatz, den eine solche Verantwortung erfordert, zu handeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2012, Frankreich/Parlament, C‑237/11 und C‑238/11, EU:C:2012:796, Rn. 68), was voraussetzt, dass die parlamentarische Aussprache und Abstimmung auf Texten beruhen, die den Abgeordneten rechtzeitig und in alle Amtssprachen der Union übersetzt übermittelt werden. Die Union ist nämlich der Mehrsprachigkeit verbunden, deren Bedeutung in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV hervorgehoben wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Mai 2015, Spanien/Rat, C‑147/13, EU:C:2015:299, Rn. 42, sowie vom 6. September 2017, Slowakei und Ungarn/Rat, C‑643/15 und C‑647/15, EU:C:2017:631, Rn. 203).

42

Drittens können, da der einzige Artikel Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe und Art. 314 AEUV rechtlich gleichrangig sind, die Anforderungen aus der ersten dieser Bestimmungen als solche nicht denjenigen der zweiten vorgehen und umgekehrt. Ihre Anwendung muss auf Einzelfallbasis erfolgen, wobei darauf zu achten ist, dass diese Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht.

43

Im Übrigen liegen dem Protokoll über die Sitze der Organe nach ständiger Rechtsprechung die gegenseitige Achtung der jeweiligen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und des Parlaments sowie gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit zugrunde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. September 1988, Frankreich/Parlament, 358/85 und 51/86, EU:C:1988:431, Rn. 34 und 35, vom 1. Oktober 1997, Frankreich/Parlament, C‑345/95, EU:C:1997:450, Rn. 31 und 32, sowie vom 13. Dezember 2012, Frankreich/Parlament, C‑237/11 und C‑238/11, EU:C:2012:796, Rn. 41, 42 und 60).

44

Somit ist das Parlament verpflichtet, seine Haushaltsbefugnisse während einer ordentlichen Plenartagung in Straßburg auszuüben, ohne dass diese sich aus dem einzigen Artikel Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe ergebende Verpflichtung jedoch einer Aussprache und einer Abstimmung über den Jahreshaushaltsplan in einer zusätzlichen Plenartagung in Brüssel entgegensteht, wenn es für den reibungslosen Ablauf des Haushaltsverfahrens im Sinne von Art. 314 AEUV zwingend erforderlich ist. Ein Ablauf dieses Verfahrens, der der Beachtung des einzigen Artikels Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe absoluten Vorrang vor der vollständigen Teilnahme des Parlaments an diesem Verfahren gibt, wäre mit diesen Bestimmungen unvereinbar, wonach diese Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden müssen, wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt.

45

Was die richterliche Kontrolle der Einhaltung der aus den Rn. 42 bis 44 des vorliegenden Urteils folgenden Anforderungen angeht, ist festzustellen, dass das Parlament, wenn es die Anforderungen des einzigen Artikels Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe mit denjenigen des Art. 314 AEUV in Einklang bringt, über einen Ermessensspielraum verfügt, der sich aus den zwingenden Erfordernissen für den reibungslosen Ablauf des Haushaltsverfahrens ergibt. Also betrifft diese richterliche Kontrolle die Frage, ob das Parlament insofern Ermessensfehler begangen hat, als es einen Teil seiner Haushaltsbefugnisse während einer zusätzlichen Plenartagung ausgeübt hat.

46

Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die angefochtenen Handlungen die Anforderungen des einzigen Artikels Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe mit denjenigen des Art. 314 AEUV in Einklang bringen.

47

Die Französische Republik trägt dazu vor, dass eine Gestaltung des parlamentarischen Kalenders die Aussprache und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 in Straßburg innerhalb der in Art. 314 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist ermöglicht hätte, und dass eine solche Aussprache und Abstimmung jedenfalls während der ordentlichen Plenartagung im November 2016 möglich gewesen wäre. Außerdem hätte die Handlung, mit der der Präsident des Parlaments festgestellt habe, dass der Haushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen sei, auch noch in der nächsten ordentlichen Plenartagung vom 12. bis 15. Dezember 2016 erlassen werden können.

48

Was den parlamentarischen Sitzungskalender für das Jahr 2016 angeht, beruht das Vorbringen der Französischen Republik im Wesentlichen auf der Prämisse, dass der Zeitpunkt, zu dem der Vermittlungsausschuss zu einer Einigung über einen gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans gekommen sei, nämlich der 17. November 2016, zum Zeitpunkt, zu dem der Sitzungskalender festgelegt worden sei, für das Parlament realistischerweise vorhersehbar gewesen sei und dass das Parlament deshalb eine ordentliche Plenartagung für einen späteren Zeitpunkt als den 21. bis 24. November des gleichen Jahres hätte festsetzen müssen, um während dieser Tagung eine rechtzeitige Aussprache und Abstimmung über diesen Entwurf in zweiter Lesung zu ermöglichen.

49

Das Vorbringen der Französischen Republik lässt aber nicht die Feststellung zu, dass das Parlament bei der Festlegung des Sitzungskalenders für die ordentlichen Plenartagungen für das Jahr 2016 einen Ermessensfehler begangen hat.

50

Der in Rn. 48 des vorliegenden Urteils dargelegten Prämisse kann nämlich nicht gefolgt werden. So waren zum Zeitpunkt der Festlegung des Sitzungskalenders für die ordentlichen Plenartagungen sowohl die Inanspruchnahme des Vermittlungsverfahrens als auch der Zeitpunkt, zu dem dieses Verfahren beginnt und gegebenenfalls wegen einer Einigung über einen gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans endet, aus Prinzip ungewiss. Wie die Französische Republik einräumt, war es demnach zu diesem Zeitpunkt keineswegs ausgeschlossen, dass sich der Vermittlungsausschuss im Fall seiner Befassung zu einem früheren Zeitpunkt als dem 17. November 2016 über einen gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union einigt, was es dem Parlament ermöglicht hätte, die Aussprache und die Abstimmung über diesen Entwurf in zweiter Lesung in der ordentlichen Plenartagung vom 21. bis 24. November 2016 durchzuführen, und zwar ohne die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils aufgeführten Anforderungen der Aufmerksamkeit, der Genauigkeit und des Einsatzes zu vernachlässigen.

51

Diese letzte Feststellung kann durch das Vorbringen der Französischen Republik, wonach es vorstellbar sei, dass der Vermittlungsausschuss, wenn es dort vor Ablauf der in Art. 314 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Frist zu einer Einigung komme, die Formalisierung der Einigung hinausschiebe, nicht in Frage gestellt werden. Eine solche Vorgehensweise, die die künstliche Verschiebung des Zeitpunkts dieser Einigung voraussetzt, ist nämlich mit Art. 314 Abs. 6 AEUV nicht vereinbar, wonach die dem Parlament und dem Rat gesetzte Frist von 14 Tagen zur Billigung des gemeinsamen Entwurfs zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem sich der Vermittlungsausschuss einigt.

52

Demnach ist festzustellen, dass sich das Parlament innerhalb der Grenzen des in Rn. 45 des vorliegenden Urteils dargelegten Ermessensspielraums gehalten hat, als es seinen Sitzungskalender für die ordentlichen Plenartagungen im Jahr 2016 festgelegt hat.

53

Es ist noch zu überprüfen, ob das Parlament – in dem von diesem Kalender gesetzten Rahmen – seine Haushaltsbefugnisse durch die angefochtenen Handlungen während der zusätzlichen Plenartagung, die am 30. November und 1. Dezember 2016 in Brüssel stattgefunden hat, ausüben konnte, ohne einen Ermessensfehler zu begehen.

54

Was erstens die Tagesordnungen der Plenarsitzungen des Parlaments vom 30. November und 1. Dezember 2016 sowie die legislative Entschließung des Parlaments vom 1. Dezember 2016 über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2017 betrifft, steht fest, dass die Einigung des Vermittlungsausschusses auf diesen Entwurf am 17. November 2016 erzielt und dem Parlament und dem Rat an diesem Tage übermittelt worden ist. Das Parlament hat diesen Entwurf nicht auf die Tagesordnung der ordentlichen Plenartagung vom 21. bis 24. November 2016 in Straßburg, sondern auf die Tagesordnung der zusätzlichen Plenartagung gesetzt, die am 30. November und 1. Dezember 2016 in Brüssel stattgefunden hat.

55

Dazu ist festzustellen, dass der 1. Dezember 2016 im vorliegenden Fall der letzte Tag der in Art. 314 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist war. Da der Rat den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2017 bereits am 28. November 2016 gebilligt hatte, hätte die Überschreitung dieser Frist durch das Parlament zur Folge gehabt, dass der Jahreshaushaltsplan für dieses Haushaltsjahr gemäß Art. 314 Abs. 7 Buchst. a AEUV erlassen wird, ohne dass das Parlament an dem Haushaltsverfahren in zweiter Lesung teilnimmt.

56

Was das Vorbringen der Französischen Republik angeht, wonach das Parlament über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 zu einem früheren Zeitpunkt hätte entscheiden können, nämlich während der ordentlichen Plenartagung vom 21. bis 24. November 2016 in Straßburg, ist festzustellen, dass die vollständige Ausschöpfung der in Art. 314 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist durch das Parlament die Rechtmäßigkeit der Tagesordnungen der Plenarsitzungen des Parlaments am 30. November und 1. Dezember 2016 sowie der legislativen Entschließung des Parlaments vom 1. Dezember 2016 im Hinblick auf das Protokoll über die Sitze der Organe nicht in Frage stellen kann. Das Parlament hat nämlich das Recht, die ihm durch die Bestimmungen des Art. 314 AEUV gesetzten Fristen vollständig auszuschöpfen. Wie das Parlament in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausgeführt hat, nehmen die internen Debatten in den verschiedenen politischen Gruppen und in der Haushaltskommission erhebliche Zeit in Anspruch, die besonders wichtig ist, um die Haushaltsdebatte und ‑abstimmung in Plenarsitzung vorzubereiten und insbesondere, um eine Mehrheit zu bekommen.

57

Außerdem ist die Einigung des Vermittlungsausschusses über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 in technischer Hinsicht überarbeitet und in alle Amtssprachen der Union übersetzt worden, was aus Sicht der Parteien unstreitig notwendig war. Die Parteien wenden sich auch nicht gegen die Entscheidung, diese Überarbeitung in technischer Hinsicht durch eine gemeinsame Vereinbarung des Parlaments und des Rates und nach der Interinstitutionellen Vereinbarung vom 2. Dezember 2013 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Haushaltsdisziplin, die Zusammenarbeit im Haushaltsbereich und die wirtschaftliche Haushaltsführung (ABl. 2013, C 373, S. 1) den Dienststellen der Kommission anzuvertrauen.

58

Im vorliegenden Fall ist der gemeinsame Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 nach dieser Überarbeitung in technischer Hinsicht dem Parlament aber erst am Nachmittag des 24. November 2016 zur Verfügung gestellt worden, also am letzten Tag der ordentlichen Plenartagung im November 2016, und zwar nur in der englischen Sprachfassung. Unter diesen Umständen konnten die Aussprache und die Abstimmung über diesen Entwurf nach den Art. 156 und 158 der Geschäftsordnung nicht auf die Tagesordnung des 24. November 2016 gesetzt werden. Nach diesen Bestimmungen können die Aussprache und die Abstimmung nämlich nur über einen Text in den Amtssprachen der Union beginnen, der den Abgeordneten seit mindestens 24 Stunden zur Verfügung gestanden hat. Die Einhaltung dieser Mindestanforderungen ist für die Vorbereitung der Aussprache und der Abstimmung in Plenarsitzung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans mit der erforderlichen Aufmerksamkeit, Genauigkeit und allem Einsatz und insbesondere unter Berücksichtigung der Anforderungen im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit unumgänglich.

59

Die Französische Republik hat nicht nachgewiesen, dass die Dauer der Überarbeitung der Einigung des Vermittlungsausschusses über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 in technischer Hinsicht, im vorliegenden Fall sieben Tage, übermäßig lang gewesen ist. Das Parlament hat zwar sicherzustellen, dass alles getan wird, damit die Dauer dieser Überarbeitung gegebenenfalls die Einhaltung der Anforderungen aus dem einzigen Artikel Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe ermöglicht, jedoch hat dieser Mitgliedstaat nichts Konkretes vorgelegt, was die Annahme erlaubt, dass das Parlament diese Verpflichtung verletzt hat und dass folglich die Dauer dieser Überarbeitung hätte verkürzt werden können, so dass dieser gemeinsame Entwurf dem Parlament unter den nach seiner Geschäftsordnung verlangten Umständen vor dem 24. November 2016 hätte zur Verfügung gestellt werden können.

60

Selbst unter der Annahme, dass diese Dauer kürzer hätte sein können, ist die Zeit zu berücksichtigen, die über die Mindestanforderungen des Art. 156 der Geschäftsordnung hinaus erforderlich ist, um die Plenarsitzung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans vorzubereiten, nämlich die Zeit, die den Abgeordneten und insbesondere der parlamentarischen Minderheit, von der es keinen Vertreter im Vermittlungsverfahren gegeben hat, zur Verfügung stehen muss, damit sie von diesem Entwurf sachgerecht Kenntnis nehmen und ihn mit der erforderlichen Aufmerksamkeit, Genauigkeit und allem Einsatz erörtern und über ihn abstimmen können.

61

Demnach hat das Parlament keinen Ermessensfehler begangen, indem es die Aussprache und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union für das Haushaltsjahr 2017 auf die Tagesordnung der zusätzlichen Plenartagung gesetzt hat, die am 30. November und 1. Dezember 2016 in Brüssel stattgefunden hat, und indem es diesen Entwurf durch legislative Entschließung in der gleichen Plenartagung gebilligt hat.

62

Was zweitens die Handlung betrifft, mit der festgestellt worden ist, dass der Jahreshaushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen ist, ist festzustellen, dass der AEU-Vertrag dem Präsidenten des Parlaments keine Frist einräumt, um diese zu erlassen, da diese Handlung gemäß Art. 314 Abs. 9 AEUV nach Abschluss des Verfahrens dieses Artikels vorzunehmen ist.

63

Diese Handlung steht nämlich in engem Zusammenhang mit der Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans in zweiter Lesung. Die Handlung des Präsidenten des Parlaments, der nach Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens feststellt, dass der Jahreshaushaltsplan endgültig erlassen ist, stellt den letzten Schritt im Verfahren zum Erlass dieses Haushaltsplans dar und verleiht diesem Bindungswirkung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2013, Rat/Parlament, C‑77/11, EU:C:2013:559, Rn. 50). Wenn somit das Parlament in Anbetracht der notwendigen Vermittlung, auf die in Rn. 42 des vorliegenden Urteils hingewiesen wurde, das Recht hat, den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans in der zusätzlichen Plenartagung in Brüssel zu erörtern und darüber abzustimmen, trifft der Präsident dieses Organs diese Feststellung während derselben Plenartagung.

64

Im Übrigen kann angesichts der Bedeutung des Erlasses des Jahreshaushaltsplans für die Handlungen der Union nicht verlangt werden, dass der Präsident des Parlaments die nächste ordentliche Plenartagung in Straßburg abwartet, um den Abschluss des Haushaltsverfahrens festzustellen und dem Jahreshaushaltsplan der Union Bindungswirkung zu verleihen.

65

Folglich konnte der Präsident des Parlaments, ohne einen Ermessensfehler zu begehen, in der Plenarsitzung, die am 1. Dezember 2016 in Brüssel stattgefunden hat, feststellen, dass der Jahreshaushaltsplan der Union für das Haushaltsjahr 2017 endgültig erlassen ist.

66

Nach alledem ist der einzige Klagegrund der Französischen Republik zurückzuweisen und damit die vorliegende Klage insgesamt abzuweisen.

Kosten

67

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament beantragt hat, der Französischen Republik die Kosten aufzuerlegen, und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, hat sie neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Parlaments zu tragen. Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt das Großherzogtum Luxemburg, das dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten ist, seine eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klage wird abgewiesen.

 

2.

Die Französische Republik trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Europäischen Parlaments.

 

3.

Das Großherzogtum Luxemburg trägt seine eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 02. Okt. 2018 - C-73/17

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