Europäischer Gerichtshof Urteil, 06. Sept. 2017 - C-643/15,C-647/15

ECLI:ECLI:EU:C:2017:631
bei uns veröffentlicht am06.09.2017

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

6. September 2017 ( *1 )

Inhaltsverzeichnis

 

I. Der angefochtene Beschluss: Kontext, Entstehungsgeschichte und Inhalt

 

A. Kontext des angefochtenen Beschlusses

 

B. Entstehungsgeschichte des angefochtenen Beschlusses

 

C. Inhalt des angefochtenen Beschlusses

 

II. Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

 

III. Zu den Klagen

 

A. Übersicht über die Klagegründe

 

B. Vorbemerkung

 

C. Zu den Klagegründen, mit denen geltend gemacht wird, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei nicht die geeignete Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses

 

1. Zum zweiten Klagegrund der Slowakischen Republik und zum ersten Klagegrund Ungarns, die den Charakter des angefochtenen Beschlusses als Gesetzgebungsakt betreffen

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

2. Zum ersten Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum zweiten Klagegrund Ungarns, mit denen geltend gemacht wird, der angefochtene Beschluss sei keine vorläufige Maßnahme und seine Geltungsdauer sei zu lang

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

3. Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik, mit dem geltend gemacht wird, der angefochtene Beschluss erfülle nicht die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 78 Abs. 3 AEUV

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

D. Zu den die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens für den Erlass des angefochtenen Beschlusses betreffenden Klagegründen, mit denen die Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird

 

1. Zum ersten Klagegrund der Slowakischen Republik und zum siebten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung von Art. 68 AEUV gerügt wird

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

2. Zum dritten Teil des dritten Klagegrundes und zum ersten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik sowie zum fünften Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass der Rat entgegen seiner Verpflichtung aus Art. 78 Abs. 3 AEUV das Parlament nicht angehört habe

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

3. Zum zweiten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum dritten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass der Rat entgegen Art. 293 Abs. 1 AEUV nicht einstimmig entschieden habe

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

4. Zum ersten und zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum vierten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass das Recht der nationalen Parlamente auf Abgabe einer Stellungnahme gemäß den Protokollen Nrn. 1 und 2 nicht beachtet worden sei und dass der Rat das Erfordernis der öffentlichen Beratung und Abstimmung missachtet habe

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

5. Zum sechsten Klagegrund Ungarns, mit dem eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass der Rat beim Erlass des angefochtenen Beschlusses die Regeln des Unionsrechts über den Sprachengebrauch nicht beachtet habe

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

E. Zu den materiell-rechtlichen Klagegründen

 

1. Zum sechsten Klagegrund der Slowakischen Republik sowie zum neunten und zum zehnten Klagegrund Ungarns, mit denen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht wird

 

a) Vorbemerkungen

 

b) Zum sechsten Klagegrund der Slowakischen Republik, soweit mit ihm geltend gemacht wird, dass der angefochtene Beschluss nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels geeignet sei

 

1) Vorbringen der Parteien

 

2) Würdigung durch den Gerichtshof

 

c) Zum sechsten Klagegrund der Slowakischen Republik, soweit mit ihm geltend gemacht wird, dass der angefochtene Beschluss nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels erforderlich sei

 

1) Vorbringen der Parteien

 

2) Würdigung durch den Gerichtshof

 

d) Zum neunten Klagegrund Ungarns, mit dem geltend gemacht wird, dass der angefochtene Beschluss nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels erforderlich sei

 

1) Vorbringen der Parteien

 

2) Würdigung durch den Gerichtshof

 

e) Zum zehnten Klagegrund Ungarns, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht wird, der sich aus den besonderen Auswirkungen des angefochtenen Beschlusses auf Ungarn ergeben soll

 

1) Vorbringen der Parteien

 

2) Würdigung durch den Gerichtshof

 

2. Zum achten Klagegrund Ungarns, mit dem ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit sowie gegen die Genfer Konvention geltend gemacht wird

 

a) Vorbringen der Parteien

 

b) Würdigung durch den Gerichtshof

 

IV. Kosten

„Nichtigkeitsklage – Beschluss (EU) 2015/1601 – Vorläufige Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik – Notlage bestimmter Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet – Umsiedlung dieser Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten – Umsiedlungskontingente – Art. 78 Abs. 3 AEUV – Rechtsgrundlage – Anwendungsvoraussetzungen – Begriff ‚Gesetzgebungsakt‘ – Art. 289 Abs. 3 AEUV – Zwingender Charakter von Schlussfolgerungen des Europäischen Rates für den Rat der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 1 EUV und Art. 68 AEUV – Wesentliche Formvorschriften – Änderung des Vorschlags der Europäischen Kommission – Erfordernis einer erneuten Anhörung des Europäischen Parlaments und der Einstimmigkeit im Rat der Europäischen Union – Art. 293 AEUV – Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit“

In den verbundenen Rechtssachen C‑643/15 und C‑647/15

betreffend Nichtigkeitsklagen nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 2. und am 3. Dezember 2015,

Slowakische Republik, vertreten durch das Ministerstvo spravodlivosti Slovenskej republiky (C‑643/15),

und

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte (C‑647/15),

Klägerinnen,

unterstützt durch

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna und M. Kamejsza als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Chavrier, K. Pleśniak, N. Pethő und Z. Kupčová als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Königreich Belgien, vertreten durch J. Van Holm, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze, R. Kanitz und J. Möller (C‑647/15) als Bevollmächtigte,

Hellenische Republik, vertreten durch M. Michelogiannaki und A. Samoni-Rantou als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Französische Republik, vertreten durch D. Colas, F.‑X. Bréchot und E. Armoet als Bevollmächtigte,

Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia, avvocato dello Stato,

Großherzogtum Luxemburg, vertreten durch A. Germeaux, C. Schiltz und D. Holderer als Bevollmächtigte,

Königreich Schweden, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, U. Persson, O. Widgren, E. Karlsson und L. Swedenborg als Bevollmächtigte,

Europäische Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und K. Talabér-Ritz (C‑647/15) sowie durch J. Baquero Cruz, A. Tokár (C‑643/15) und G. Wils als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Mai 2017,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Juli 2017

folgendes

Urteil

1

Mit ihren Klagen begehren die Slowakische Republik und Ungarn die Nichtigerklärung des Beschlusses (EU) 2015/1601 des Rates vom 22. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland (ABl. 2015, L 248, S. 80, im Folgenden: angefochtener Beschluss).

I. Der angefochtene Beschluss: Kontext, Entstehungsgeschichte und Inhalt

A. Kontext des angefochtenen Beschlusses

2

Der Kontext, in dem der angefochtene Beschluss erlassen wurde, wird in dessen Erwägungsgründen 3 bis 7 und 10 bis 16 wie folgt beschrieben:

„(3)

Die jüngste Krisensituation im Mittelmeer veranlasste die Organe der [Europäischen] Union, umgehend anzuerkennen, dass ein außergewöhnlicher Zustrom von Migranten in dieser Region stattfindet, und konkrete Maßnahmen der Solidarität mit den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen zu fordern. So legte die [Europäische] Kommission auf der gemeinsamen Tagung der Außen- und Innenminister vom 20. April 2015 einen Zehn-Punkte-Plan mit Sofortmaßnahmen als Reaktion auf die Krise vor und verpflichtete sich unter anderem, Optionen für eine Notfall-Umsiedlungsregelung zu prüfen.

(4)

Auf seiner Tagung vom 23. April 2015 beschloss der Europäische Rat unter anderem, die interne Solidarität und Verantwortung zu stärken, und verpflichtete sich insbesondere, die Nothilfe für die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen aufzustocken und Optionen für eine Notfall-Umsiedlung auf freiwilliger Basis unter den Mitgliedstaaten zu prüfen sowie Teams des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) für eine gemeinsame Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz, einschließlich Registrierung und Erfassung von Fingerabdrücken, in die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen zu entsenden.

(5)

In seiner Entschließung vom 28. April 2015 bekräftigte das Europäische Parlament, dass die Reaktion der Union auf die jüngsten Tragödien im Mittelmeer auf Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten basieren muss und dass die Union ihre diesbezüglichen Anstrengungen gegenüber jenen Mitgliedstaaten verstärken muss, die in absoluten oder relativen Zahlen die meisten Flüchtlinge und internationalen Schutz beantragenden Personen aufnehmen.

(6)

Neben Maßnahmen im Bereich Asyl sollten die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen ihre Anstrengungen verstärken, um Maßnahmen zur Bewältigung von gemischten Migrationsströmen an den Außengrenzen der Europäischen Union einzuführen. Diese Maßnahmen sollten die Rechte derjenigen wahren, die internationalen Schutz benötigen, und irreguläre Migration verhindern.

(7)

Auf seiner Tagung vom 25. und 26. Juni 2015 hat der Europäische Rat unter anderem beschlossen, dass drei zentrale Dimensionen parallel vorangebracht werden sollten: Umsiedlung/Neuansiedlung, Rückkehr bzw. Rückführung/Rückübernahme/Wiedereingliederung und Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern. Der Europäische Rat verständigte sich insbesondere angesichts der derzeitigen Krisensituation und des Bekenntnisses zur Stärkung von Solidarität und Verantwortung darauf, im Laufe von zwei Jahren 40000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, von Italien und von Griechenland vorübergehend und ausnahmsweise in andere Mitgliedstaaten umzusiedeln, woran sich alle Mitgliedstaaten beteiligen würden.

(10)

Von den Mitgliedstaaten, die einem erheblichen Druck ausgesetzt sind, haben sich vor allem Italien und Griechenland im Zuge der jüngsten tragischen Ereignisse im Mittelmeer mit einem beispiellosen Zustrom von Migranten in ihr Hoheitsgebiet konfrontiert gesehen, darunter internationalen Schutz beantragende Personen, die unzweifelhaft einen solchen Schutz benötigen, was eine erhebliche Belastung ihrer Migrations- und Asylsysteme zur Folge hat.

(11)

Am 20. Juli 2015 wurde unter Berücksichtigung der besonderen Situationen der Mitgliedstaaten einvernehmlich eine Entschließung der im [Europäischen] Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über die Umsiedlung von 40000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, aus Griechenland und Italien angenommen. Über einen Zeitraum von zwei Jahren werden demnach 24000 Personen aus Italien und 16000 Personen aus Griechenland umgesiedelt werden. Am 14. September 2015 hat der Rat [der Europäischen Union] den Beschluss (EU) 2015/1523 [zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland (ABl. 2015, L 239, S. 146)] angenommen, der eine Regelung vorsieht, wonach Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, von Italien und Griechenland vorübergehend und ausnahmsweise in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt werden.

(12)

In den letzten Monaten hat sich der Migrationsdruck an den südlichen Land- und Seeaußengrenzen erneut drastisch erhöht, und die Migrationsströme haben sich infolge der zunehmenden Zahl von Migranten, die in und aus Griechenland ankommen, weiter vom zentralen zum östlichen Mittelmeerraum und zur Westbalkanroute verlagert. In Anbetracht der Lage sind weitere vorläufige Maßnahmen zur Entlastung der Asylsysteme Italiens und Griechenlands angezeigt.

(13)

Nach Angaben der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex) erfolgten in den ersten acht Monaten 2015 die meisten irregulären Grenzübertritte in die Union über die zentrale und die östliche Mittelmeerroute. Seit Beginn des Jahres 2015 erreichten etwa 116000 irreguläre Migranten Italien … Im Mai und Juni 2015 stellte Frontex 34691 und im Juli und August 42356 irreguläre Grenzübertritte fest, d. h. einen Anstieg um 20 %. Griechenland verzeichnete 2015 mit mehr als 211000 irregulären Migranten, die nach Griechenland gelangt sind …, ebenfalls einen starken Anstieg. Im Mai und Juni 2015 stellte Frontex 53624 und im Juli und August 137000 irreguläre Grenzübertritte fest, d. h. einen Anstieg um 250 %. Ein Großteil der in diesen beiden Regionen entdeckten irregulären Migranten sind Staatsangehörige von Ländern mit einer – laut [Daten des Statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat)] – hohen Anerkennungsquote in der Union.

(14)

Nach Angaben von Eurostat und EASO beantragten von Januar bis Juli 2015 in Italien 39183 Personen internationalen Schutz, gegenüber 30755 im gleichen Zeitraum des Jahres 2014 (ein Anstieg um 27 %). Ein ähnlicher Anstieg war mit 7475 Anträgen in Griechenland zu verzeichnen (ein Anstieg um 30 %).

(15)

Es wurden bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um Italien und Griechenland im Rahmen der Migrations- und Asylpolitik zu unterstützen, unter anderem durch substanzielle Soforthilfe und operative Unterstützung seitens des EASO. …

(16)

Angesichts der anhaltenden Instabilität und Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft Italiens und Griechenlands und der sich hieraus ergebenden Migrationsströme in andere Mitgliedstaaten ist es sehr wahrscheinlich, dass deren Migrations- und Asylsysteme auch künftig einem erheblichen, zunehmenden Druck ausgesetzt sein werden, wobei ein beträchtlicher Anteil der Migranten möglicherweise internationalen Schutz benötigen wird. Dies zeigt, dass es unerlässlich ist, gegenüber Italien und Griechenland Solidarität zu bekunden und die bisher zu ihrer Unterstützung ergriffenen Maßnahmen durch vorläufige Maßnahmen im Bereich Asyl und Migration zu ergänzen.“

B. Entstehungsgeschichte des angefochtenen Beschlusses

3

Am 9. September 2015 legte die Kommission auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien, Griechenland und Ungarn (COM[2015] 451, im Folgenden: ursprünglicher Vorschlag der Kommission) vor.

4

Am gleichen Tag legte die Kommission ferner auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. e AEUV einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (COM[2015] 450), vor.

5

Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah die Umsiedlung von 120000 Personen, die internationalen Schutz beantragt haben (im Folgenden: Antragsteller), aus Italien (15600 Personen), Griechenland (50400 Personen) und Ungarn (54000 Personen) in die übrigen Mitgliedstaaten vor. Sein Anhang enthielt drei Tabellen für die Verteilung der Antragsteller aus diesen drei Mitgliedstaaten auf die übrigen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks, in Form von Kontingenten für jeden der Aufnahmemitgliedstaaten.

6

Am 13. September 2015 übermittelte die Kommission diesen Vorschlag den nationalen Parlamenten.

7

Mit Schreiben vom 14. September 2015 übermittelte der Rat den Vorschlag dem Parlament zur Anhörung. In diesem Schreiben ersuchte der Rat das Parlament, in Anbetracht der Notlage im Mittelmeer und auf der Westbalkanroute so schnell wie möglich zu entscheiden, und verpflichtete sich, das Parlament informell über Entwicklungen in dieser Sache beim Rat zu informieren.

8

Am 17. September 2015 nahm das Parlament eine Legislative Entschließung an, mit der es den Vorschlag im Hinblick u. a. „auf die außergewöhnliche Notsituation und die Notwendigkeit, die Situation ohne weitere Verzögerung zu bewältigen“, billigte und den Rat zugleich aufforderte, es erneut anzuhören, falls er beabsichtige, den ursprünglichen Vorschlag der Kommission entscheidend zu ändern.

9

Im Verlauf verschiedener Sitzungen des Rates, die zwischen dem 17. und dem 22. September 2015 stattfanden, wurde der ursprüngliche Vorschlag der Kommission in einer Reihe von Punkten geändert.

10

Insbesondere teilte Ungarn bei diesen Sitzungen mit, dass es nicht damit einverstanden sei, als „an den Außengrenzen befindlicher Mitgliedstaat“ qualifiziert zu werden, und nicht wie Italien und Griechenland zu den von der Umsiedlung begünstigten Mitgliedstaaten gehören wolle. Infolgedessen fehlt in der Endfassung des Vorschlags, einschließlich seines Titels, jede Erwähnung Ungarns als begünstigter Mitgliedstaat. Desgleichen wurde Anhang III des ursprünglichen Vorschlags der Kommission gestrichen, der die Verteilung von 54000 Antragstellern betraf, die ursprünglich aus Ungarn umgesiedelt werden sollten. Dagegen wurde Ungarn als Umsiedlungsmitgliedstaat für Antragsteller aus Italien und aus Griechenland in die Anhänge I und II aufgenommen, und dort wurden ihm infolgedessen Kontingente zugewiesen.

11

Am 22. September 2015 wurde der in dieser Weise geänderte ursprüngliche Vorschlag der Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen. Die Tschechische Republik, Ungarn, Rumänien und die Slowakische Republik stimmten gegen die Annahme des Vorschlags. Die Republik Finnland enthielt sich der Stimme.

C. Inhalt des angefochtenen Beschlusses

12

In den Erwägungsgründen 2, 22, 23, 26, 30, 32, 35 und 44 des angefochtenen Beschlusses heißt es:

„(2)

Gemäß Artikel 80 AEUV gilt für die Politik der Union im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung und ihre Umsetzung der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, und die in diesem Bereich erlassenen Rechtsakte der Union haben entsprechende Maßnahmen für die Anwendung dieses Grundsatzes zu enthalten.

(22)

Gemäß Artikel 78 Absatz 3 AEUV sollten die geplanten Maßnahmen zugunsten von Italien und von Griechenland vorläufiger Natur sein. Ein Zeitraum von 24 Monaten ist angemessen, um zu gewährleisten, dass die in diesem Beschluss vorgesehenen Maßnahmen Italien und Griechenland tatsächlich dabei helfen, den erheblichen Zustrom von Migranten in ihr Hoheitsgebiet zu bewältigen.

(23)

Die in diesem Beschluss vorgesehenen Maßnahmen zur Umsiedlung von Migranten aus Italien und aus Griechenland haben eine vorübergehende Aussetzung der in Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31), im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung] festgelegten Bestimmung zur Folge, wonach Italien und Griechenland auf der Grundlage der in Kapitel III der genannten Verordnung festgelegten Kriterien für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig wären, sowie eine vorübergehende Aussetzung der Verfahrensschritte, die in den Artikeln 21, 22 und 29 der genannten Verordnung festgelegt sind, einschließlich der Fristen. Die anderen Bestimmungen der [Dublin‑III-Verordnung] … gelten weiterhin … Dieser Beschluss beinhaltet auch eine Ausnahme von der Zustimmung des Antragstellers auf internationalen Schutz gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 516/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 16. April 2014 zur Einrichtung des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, zur Änderung der Entscheidung 2008/381/EG des Rates und zur Aufhebung der Entscheidungen Nr. 573/2007/EG und Nr. 575/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Entscheidung 2007/435/EG des Rates (ABl. 2014, L 150, S. 168)].

(26)

Die vorläufigen Maßnahmen sollen die einem erheblichen Druck ausgesetzten Asylsysteme Italiens und Griechenlands insbesondere dadurch entlasten, dass eine bedeutende Zahl der unzweifelhaft internationalen Schutz benötigenden Antragsteller, die nach Inkrafttreten dieses Beschlusses im Hoheitsgebiet Italiens oder Griechenlands eingetroffen sein werden, umgesiedelt werden. Unter Berücksichtigung der Gesamtzahl der Drittstaatsangehörigen, die 2015 irregulär nach Italien und Griechenland gelangt sind, und der Zahl der Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, sollten insgesamt 120000 Antragsteller, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, aus Italien und Griechenland umgesiedelt werden. Diese Zahl entspricht etwa 43 % aller Drittstaatsangehörigen, die im Juli und August 2015 irregulär nach Italien und Griechenland gelangt sind und unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten. Die in diesem Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmaßnahme stellt somit angesichts der für 2015 verfügbaren Gesamtzahl der irregulären Grenzübertritte eine gerechte Lastenteilung zwischen Italien und Griechenland einerseits und den übrigen Mitgliedstaaten andererseits dar. Angesichts der vorliegenden Zahlen sollten 13 % dieser Antragsteller aus Italien und 42 % aus Griechenland umgesiedelt werden, und 45 % sollten gemäß diesem Beschluss umgesiedelt werden.

(30)

Im Hinblick auf die Anwendung des Grundsatzes der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten und unter Berücksichtigung dessen, dass dieser Beschluss eine weitere politische Entwicklung in diesem Bereich darstellt, sollte sichergestellt werden, dass die Mitgliedstaaten, die nach Maßgabe dieses Beschlusses unzweifelhaft internationalen Schutz benötigende Antragsteller aus Italien und Griechenland umsiedeln, je umgesiedelte Person einen Pauschalbetrag erhalten, der dem in Artikel 18 der [Verordnung Nr. 516/2014] vorgesehenen Pauschalbetrag, nämlich 6000 EUR, entspricht und für den dieselben Verfahren gelten. …

(32)

Der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung sollte während des gesamten Umsiedlungsverfahrens bis zum Abschluss der Überstellung des Antragstellers Rechnung getragen werden. Unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte des Antragstellers, einschließlich der einschlägigen Datenschutzvorschriften, sollte ein Mitgliedstaat die anderen Mitgliedstaaten unterrichten, wenn er berechtigte Gründe zu der Annahme hat, dass ein Antragsteller eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt.

(35)

Die Rechts- und Verfahrensgarantien, die in der [Dublin‑III-Verordnung] festgeschrieben sind, gelten auch für die unter diesen Beschluss fallenden Antragsteller. Des Weiteren sollten die Antragsteller über das in diesem Beschluss festgelegte Umsiedlungsverfahren informiert und über die Umsiedlungsentscheidung, die eine Überstellungsentscheidung im Sinne des Artikels 26 der [Dublin‑III-Verordnung] darstellt, in Kenntnis gesetzt werden. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ein Antragsteller nach Unionsrecht den für seinen Antrag zuständigen Mitgliedstaat nicht selbst auswählen kann, sollte er – allerdings nur im Hinblick auf die Wahrung seiner Grundrechte – das Recht haben, im Einklang mit der [Dublin‑III-Verordnung] einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Umsiedlungsentscheidung einzulegen. Im Einklang mit Artikel 27 der genannten Verordnung können die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften vorsehen, dass der Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung nicht automatisch die Aussetzung der Überstellung des Antragstellers bedeutet, sondern dass die betreffende Person beantragen kann, dass die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs ausgesetzt wird.

(44)

Da die Ziele dieses Beschlusses von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahme auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 [EUV] verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht dieser Beschluss nicht über das zur Verwirklichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.“

13

Art. 1 („Gegenstand“) des angefochtenen Beschlusses sieht vor:

„(1)   Mit diesem Beschluss werden vorläufige Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland eingeführt, um diese Länder dabei zu unterstützen, eine durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in die betreffenden Mitgliedstaaten geprägte Notlage besser zu bewältigen.

(2)   Die Kommission überwacht die Lage hinsichtlich des massiven Zustroms von Drittstaatsangehörigen in die Mitgliedstaaten kontinuierlich.

Die Kommission wird gegebenenfalls Vorschläge für eine Änderung dieses Beschlusses vorlegen, um den Entwicklungen der Situation vor Ort und ihren Auswirkungen auf die Umsiedlungsregelung sowie dem sich entwickelnden Druck auf die Mitgliedstaaten, insbesondere die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen, Rechnung zu tragen.“

14

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) des Beschlusses bestimmt:

„Im Sinne dieses Beschlusses bezeichnet der Ausdruck

e)

‚Umsiedlung‘ die Überstellung eines Antragstellers aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der nach den Kriterien in Kapitel III der [Dublin‑III-Verordnung] für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in das Hoheitsgebiet des Umsiedlungsmitgliedstaats;

f)

‚Umsiedlungsmitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz gemäß der [Dublin‑III-Verordnung] nach Umsiedlung des Antragstellers in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zuständig ist.“

15

Art. 3 („Geltungsbereich“) des Beschlusses sieht vor:

„(1)   Eine Umsiedlung nach Maßgabe dieses Beschlusses erfolgt nur bei Antragstellern, die einen Antrag auf internationalen Schutz in Italien oder Griechenland gestellt haben und für die diese Staaten nach den Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in Kapitel III der [Dublin‑III-Verordnung] sonst zuständig gewesen wären.

(2)   Eine Umsiedlung nach Maßgabe dieses Beschlusses erfolgt nur bei Antragstellern, die Staaten angehören, bei deren Staatsangehörigen der Anteil der Entscheidungen zur Gewährung internationalen Schutzes … nach den jüngsten aktualisierten vierteljährlichen Eurostat-Daten im Unionsdurchschnitt mindestens 75 % beträgt. …“

16

Art. 4 („Umsiedlung von 120000 Antragstellern in andere Mitgliedstaaten“) des Beschlusses bestimmt in den Abs. 1 bis 3:

„(1)   Es werden 120000 Antragsteller in die anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt, wobei Folgendes gilt:

a)

15600 Antragsteller werden entsprechend der Tabelle in Anhang I aus Italien in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt.

b)

50400 Antragsteller werden entsprechend der Tabelle in Anhang II aus Griechenland in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt.

c)

54000 Antragsteller werden im Verhältnis zu den Zahlen in den Anhängen I und II entweder gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels oder durch eine in Artikel 1 Absatz 2 und [in] Absatz 3 des vorliegenden Artikels genannte Änderung dieses Beschlusses in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt.

(2)   Ab dem 26. September 2016 werden die in Absatz 1 Buchstabe c genannten 54000 Antragsteller aus Italien und Griechenland anteilsgemäß auf der Grundlage von Absatz 1 Buchstaben a und b im Verhältnis zu den Zahlen in den Anhängen I und II in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt. Die Kommission legt dem Rat einen Vorschlag mit den jeweils pro Mitgliedstaat zuzuweisenden Zahlen vor.

(3)   Ist die Kommission bis 26. September 2016 der Ansicht, dass eine Anpassung der Umsiedlungsregelung durch die Entwicklung der Situation vor Ort gerechtfertigt ist oder dass sich ein Mitgliedstaat infolge einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen in einer Notlage befindet, die von einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen geprägt ist, so kann sie dem Rat gemäß Artikel 1 Absatz 2 entsprechende Vorschläge unterbreiten; dabei berücksichtigt sie die Auffassung des voraussichtlichen begünstigten Mitgliedstaats.

Ebenso kann ein Mitgliedstaat dem Rat und der Kommission unter Angabe berechtigter Gründe mitteilen, dass er sich in einer ähnlichen Notlage befindet. Die Kommission prüft die Begründung und unterbreitet dem Rat gegebenenfalls Vorschläge gemäß Artikel 1 Absatz 2.“

17

Durch Art. 1 des Beschlusses (EU) 2016/1754 des Rates vom 29. September 2016 (ABl. 2016, L 268, S. 82) wurde in Art. 4 des angefochtenen Beschlusses folgender Absatz eingefügt:

„(3a)   Im Zusammenhang mit der Umsiedlung der in Absatz 1 Buchstabe c genannten Antragsteller können sich die Mitgliedstaaten dafür entscheiden, ihre Verpflichtung zu erfüllen, indem sie in der Türkei aufhältige Syrer im Rahmen von nationalen oder multilateralen Aufnahmeregelungen für Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, in ihrem Hoheitsgebiet aufnehmen, mit Ausnahme der Neuansiedlungsregelung, die Gegenstand der Schlussfolgerungen der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 20. Juli 2015 war. Die Zahl der auf diese Weise von einem Mitgliedstaat aufgenommenen Personen führt zu einer entsprechenden Verringerung der Verpflichtung des jeweiligen Mitgliedstaats.

…“

18

Nach Art. 2 des Beschlusses 2016/1754 trat er am 2. Oktober 2016 in Kraft und gilt bis zum 26. September 2017 für alle Personen, die für die Zwecke des Art. 4 Abs. 3a des angefochtenen Beschlusses ab dem 1. Mai 2016 von den Mitgliedstaaten aus der Türkei aufgenommen wurden.

19

Nach Art. 4 Abs. 4 des angefochtenen Beschlusses können sich Irland und das Vereinigte Königreich freiwillig an seiner Umsetzung beteiligen. Nachdem die Kommission die Beteiligung Irlands bestätigt hatte, legte der Rat die Zahl der in diesen Mitgliedstaat umzusiedelnden Antragsteller fest und passte die Kontingente der anderen Mitgliedstaaten entsprechend an.

20

Nach Art. 4 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses kann ein Mitgliedstaat bei außergewöhnlichen Umständen unter den dort genannten Voraussetzungen bis zum 26. Dezember 2015 um eine zeitweilige Aussetzung der Umsiedlung von bis zu 30 % der Antragsteller, die ihm gemäß Abs. 1 zugewiesen wurden, ersuchen.

21

Diese Bestimmung kam auf Ersuchen der Republik Österreich zur Anwendung und war Gegenstand des Durchführungsbeschlusses (EU) 2016/408 des Rates vom 10. März 2016 über die zeitweilige Aussetzung der Umsiedlung von 30 % der Antragsteller, die Österreich auf der Grundlage des [angefochtenen Beschlusses] zugewiesen wurden (ABl. 2016, L 74, S. 36). Art. 1 des Beschlusses 2016/408 sieht vor, dass die Umsiedlung von 1065 der diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage des angefochtenen Beschlusses zugewiesenen Antragsteller bis zum 11. März 2017 ausgesetzt wird.

22

Art. 5 („Umsiedlungsverfahren“) des angefochtenen Beschlusses sieht vor:

„…

(2)   Die Mitgliedstaaten geben in regelmäßigen Abständen, zumindest aber alle drei Monate, die Zahl der Antragsteller an, die schnell in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt werden können, und übermitteln alle sonstige[n] einschlägige[n] Informationen.

(3)   Auf der Grundlage dieser Informationen bestimmen Italien und Griechenland mit Unterstützung des EASO und gegebenenfalls der in Absatz 8 genannten Verbindungsbeamten der Mitgliedstaaten die einzelnen Antragsteller, die in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt werden könnten, und übermitteln den Kontaktstellen dieser Mitgliedstaaten so bald wie möglich alle einschlägigen Informationen. Dabei wird schutzbedürftigen Personen im Sinne der Artikel 21 und 22 der Richtlinie 2013/33/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96),] Vorrang eingeräumt.

(4)   Nach Zustimmung des Umsiedlungsmitgliedstaats entscheiden Italien und Griechenland in Abstimmung mit dem EASO so bald wie möglich, dass jeder ermittelte Antragsteller in einen bestimmten Umsiedlungsmitgliedstaat umgesiedelt wird, und setzen den Antragsteller gemäß Artikel 6 Absatz 4 davon in Kenntnis. Der Umsiedlungsmitgliedstaat kann nur dann entscheiden, der Umsiedlung eines Antragstellers nicht zuzustimmen, wenn berechtigte Gründe nach Absatz 7 vorliegen.

(6)   Die Überstellung eines Antragstellers in das Hoheitsgebiet des Umsiedlungsmitgliedstaats erfolgt so bald wie möglich, nachdem die Überstellungsentscheidung gemäß Artikel 6 Absatz 4 dieses Beschlusses der betroffenen Person zugestellt wurde. Italien und Griechenland teilen dem Umsiedlungsmitgliedstaat das Datum und die Uhrzeit der Überstellung sowie jegliche anderen einschlägigen Informationen mit.

(7)   Die Mitgliedstaaten behalten nur dann das Recht, die Umsiedlung eines Antragstellers abzulehnen, wenn berechtigte Gründe dafür vorliegen, dass der Antragsteller als Gefahr für ihre nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung betrachtet wird …

…“

23

Art. 6 („Rechte und Pflichten der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und unter diesen Beschluss fallen“) des angefochtenen Beschlusses bestimmt:

„(1)   Bei der Durchführung dieses Beschlusses berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Kindeswohl.

(2)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Familienangehörige, die unter diesen Beschluss fallen, in das Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats umgesiedelt werden.

(3)   Vor der Entscheidung zur Umsiedlung eines Antragstellers informieren Italien und Griechenland den Antragsteller in einer Sprache, die dieser versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden kann, dass er sie versteht, über das in diesem Beschluss festgelegte Umsiedlungsverfahren.

(4)   Wenn die Entscheidung zur Umsiedlung eines Antragstellers getroffen wurde, setzen Italien und Griechenland die betreffende Person vor der tatsächlichen Umsiedlung von der Entscheidung, sie umzusiedeln, schriftlich in Kenntnis. In dieser Entscheidung wird der Umsiedlungsmitgliedstaat angegeben.

(5)   Antragsteller oder internationalen Schutz genießende Personen, die in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, der nicht der Umsiedlungsmitgliedstaat ist, einreisen, ohne die Voraussetzungen für den Aufenthalt in diesem anderen Mitgliedstaat zu erfüllen, müssen unverzüglich zurückkehren. Sie müssen unverzüglich wieder vom Umsiedlungsmitgliedstaat aufgenommen werden.“

24

Art. 7 des angefochtenen Beschlusses enthält Bestimmungen im Bereich der operativen Unterstützung für die Hellenische Republik und die Italienische Republik.

25

Art. 8 des angefochtenen Beschlusses sieht von diesen beiden Mitgliedstaaten zu ergreifende ergänzende Maßnahmen vor.

26

Nach Art. 9 des angefochtenen Beschlusses kann der Rat vorläufige Maßnahmen gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen, wenn die in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen vorliegen. Diese Maßnahmen können gegebenenfalls eine Aussetzung der Beteiligung des mit einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen konfrontierten Mitgliedstaats an der im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Umsiedlung umfassen.

27

Diese Bestimmung kam auf Ersuchen des Königreichs Schweden zur Anwendung und war Gegenstand des Beschlusses (EU) 2016/946 des Rates vom 9. Juni 2016 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Schweden gemäß Artikel 9 des Beschlusses 2015/1523 und Artikel 9 des Beschlusses 2015/1601 (ABl. 2016, L 157, S. 23). Art. 2 des Beschlusses 2016/946 sieht vor, dass die Verpflichtungen dieses Mitgliedstaats als Umsiedlungsmitgliedstaat gemäß dem Beschluss 2015/1523 und dem angefochtenen Beschluss bis zum 16. Juni 2017 ausgesetzt werden.

28

Art. 10 des angefochtenen Beschlusses sieht vor, dass sowohl der Umsiedlungsmitgliedstaat als auch die Hellenische Republik oder die Italienische Republik eine finanzielle Unterstützung für jede nach dem Beschluss umgesiedelte Person erhalten.

29

Nach Art. 11 des angefochtenen Beschlusses können mit Unterstützung der Kommission bilaterale Vereinbarungen zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten und „assoziierten Staaten“, und zwar der Republik Island, dem Fürstentum Liechtenstein, dem Königreich Norwegen und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, geschlossen werden. Werden solche bilateralen Vereinbarungen geschlossen, passt der Rat auf Vorschlag der Kommission die Zuweisungen der Mitgliedstaaten entsprechend an, indem er sie anteilsmäßig verringert. Solche Vereinbarungen wurden im Anschluss geschlossen, und die assoziierten Staaten beteiligen sich damit an der im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Umsiedlung.

30

Art. 12 des angefochtenen Beschlusses sieht u. a. vor, dass die Kommission dem Rat alle sechs Monate über die Durchführung dieses Beschlusses Bericht erstattet. Die Kommission verpflichtete sich im Anschluss, monatliche Berichte über die Durchführung der verschiedenen auf Unionsebene getroffenen Maßnahmen zur Umsiedlung und Neuansiedlung der Antragsteller zu erstellen, zu denen der angefochtene Beschluss gehört.

31

Schließlich bestimmt Art. 13 Abs. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses, dass er am 25. September 2015 in Kraft tritt und bis zum 26. September 2017 gilt. Nach Art. 13 Abs. 3 gilt er für Personen, die ab dem 25. September 2015 bis zum 26. September 2017 im italienischen und im griechischen Hoheitsgebiet eintreffen, sowie für Antragsteller, die seit dem 24. März 2015 im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten eingetroffen sind.

II. Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

32

In der Rechtssache C‑643/15 beantragt die Slowakische Republik, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

33

In der Rechtssache C‑647/15 beantragt Ungarn,

den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

hilfsweise, diesen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er Ungarn betrifft, und

dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

34

In den Rechtssachen C‑643/15 und C‑647/15 beantragt der Rat, die Klagen als unbegründet abzuweisen sowie der Slowakischen Republik und Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

35

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. April 2016 sind das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Italienische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, das Königreich Schweden und die Kommission in den Rechtssachen C‑643/15 und C‑647/15 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden.

36

Mit dem gleichen Beschluss ist die Republik Polen in der Rechtssache C‑643/15 als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Slowakischen Republik und in der Rechtssache C‑647/15 als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge Ungarns zugelassen worden.

37

Nach Anhörung der Parteien und des Generalanwalts sind die vorliegenden Rechtssachen, da sie den gleichen Gegenstand haben, gemäß Art. 54 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu gemeinsamem Endurteil zu verbinden.

III. Zu den Klagen

A. Übersicht über die Klagegründe

38

Die Slowakische Republik stützt ihre Klage in der Rechtssache C‑643/15 auf sechs Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund rügt sie die Verletzung von Art. 68 AEUV, Art. 13 Abs. 2 EUV und des Grundsatzes des institutionellen Gleichgewichts, mit dem zweiten Klagegrund die Verletzung von Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, Art. 13 Abs. 2 EUV und Art. 78 Abs. 3 AEUV, der Art. 3 und 4 des dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (im Folgenden: Protokoll Nr. 1), der Art. 6 und 7 des dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (im Folgenden: Protokoll Nr. 2) sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit, der repräsentativen Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts, mit dem dritten Klagegrund die Verletzung wesentlicher Formvorschriften für das Gesetzgebungsverfahren, von Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV und Art. 13 Abs. 2 EUV sowie der Grundsätze der repräsentativen Demokratie, des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung (hilfsweise), mit dem vierten Klagegrund die Verletzung wesentlicher Formvorschriften, von Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV und Art. 13 Abs. 2 EUV sowie der Grundsätze der repräsentativen Demokratie, des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung (teils hilfsweise), mit dem fünften Klagegrund die Verletzung der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 78 Abs. 3 AEUV (hilfsweise) und mit dem sechsten Klagegrund einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

39

Ungarn stützt seine Klage in der Rechtssache C‑647/15 auf zehn Klagegründe.

40

Mit dem ersten und dem zweiten Klagegrund wird die Verletzung von Art. 78 Abs. 3 AEUV geltend gemacht, da diese Bestimmung keine geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass von Maßnahmen durch den Rat darstelle, die im vorliegenden Fall verbindlich von einem Gesetzgebungsakt abwichen, die eine Geltungsdauer von 24 Monaten, in bestimmten Fällen sogar von 36 Monaten, hätten und deren Wirkungen noch über diese Zeiträume hinausgingen, was mit dem Begriff „vorläufige Maßnahmen“ unvereinbar sei.

41

Mit den Klagegründen drei bis sechs rügt Ungarn die Verletzung wesentlicher Formvorschriften. Erstens habe der Rat bei der Annahme des angefochtenen Beschlusses gegen Art. 293 Abs. 1 AEUV verstoßen, weil er nicht einstimmig vom ursprünglichen Vorschlag der Kommission abgewichen sei (dritter Klagegrund), zweitens weiche der angefochtene Beschluss von einem Gesetzgebungsakt ab und sei inhaltlich selbst ein Rechtsakt mit Gesetzescharakter, so dass bei seinem Erlass – selbst wenn entschieden werden sollte, dass er auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV habe erlassen werden dürfen – gleichwohl das in den Protokollen Nrn. 1 und 2 vorgesehene Recht der nationalen Parlamente auf Stellungnahme zu Gesetzgebungsakten hätte beachtet werden müssen (vierter Klagegrund), drittens habe der Rat nach der Anhörung des Parlaments den Vorschlag in wesentlichen Punkten geändert, ohne das Parlament dazu erneut anzuhören (fünfter Klagegrund), und viertens hätten zum Zeitpunkt der Annahme des angefochtenen Beschlusses durch den Rat keine Sprachfassungen des Beschlussentwurfs in den Amtssprachen der Union zur Verfügung gestanden (sechster Klagegrund).

42

Mit dem siebten Klagegrund wird ein Verstoß gegen Art. 68 AEUV und gegen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 gerügt.

43

Der achte Klagegrund wird auf eine Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit gestützt. In mehreren Punkten sei unklar, wie die Bestimmungen des angefochtenen Beschlusses umzusetzen seien und in welchem Verhältnis sie zu den Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung stünden.

44

Mit dem neunten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht. Da Ungarn nicht mehr zu den begünstigten Mitgliedstaaten gehöre, sei es nicht gerechtfertigt, dass der angefochtene Beschluss die Umsiedlung von 120000 Antragstellern vorsehe.

45

Mit dem zehnten Klagegrund wird hilfsweise ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV im Hinblick auf Ungarn gerügt. Im angefochtenen Beschluss werde ein verbindliches Kontingent für Ungarn als Aufnahmemitgliedstaat festgelegt, obwohl anerkannt sei, dass sehr viele irreguläre Migranten in sein Hoheitsgebiet eingereist seien und dort Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten.

B. Vorbemerkung

46

Da die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts für das bei seinem Erlass zu befolgende Verfahren maßgebend ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2015, Parlament/Rat, C‑363/14, EU:C:2015:579, Rn. 17), sind zunächst die Klagegründe zu prüfen, mit denen geltend gemacht wird, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei nicht die geeignete Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses. Sodann sind die Klagegründe zu prüfen, mit denen Verfahrensfehler in Form der Verletzung wesentlicher Formvorschriften beim Erlass dieses Beschlusses gerügt werden, und schließlich die materiell-rechtlichen Klagegründe.

C. Zu den Klagegründen, mit denen geltend gemacht wird, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei nicht die geeignete Rechtsgrundlage des angefochtenen Beschlusses

1.  Zum zweiten Klagegrund der Slowakischen Republik und zum ersten Klagegrund Ungarns, die den Charakter des angefochtenen Beschlusses als Gesetzgebungsakt betreffen

a)  Vorbringen der Parteien

47

Die Slowakische Republik und Ungarn machen geltend, obwohl der angefochtene Beschluss nicht in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen worden und daher formal kein Gesetzgebungsakt sei, müsse er wegen seines Inhalts und seiner Auswirkungen als solcher qualifiziert werden, da mit ihm, wie sein 23. Erwägungsgrund ausdrücklich bestätige, mehrere unionsrechtliche Gesetzgebungsakte geändert würden, und zwar grundlegend.

48

Dies gelte vor allem für Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, wonach die Hellenische Republik oder die Italienische Republik grundsätzlich für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei. Davon weiche Art. 3 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses ab.

49

Im angefochtenen Beschluss würden diese Änderungen zwar als bloße Abweichungen, Ausnahmen oder Aussetzungen bezeichnet, doch sei die Unterscheidung zwischen diesen Bezeichnungen und einer Änderung gekünstelt, da in beiden Fällen die Anwendung einer Rechtsnorm ausgeschlossen und damit ihre Wirksamkeit beeinträchtigt werde.

50

Dagegen ergebe sich aus der Vorläufigkeit und Dringlichkeit der unter Art. 78 Abs. 3 AEUV fallenden Maßnahmen, dass diese Bestimmung eine Rechtsgrundlage für Unterstützungsmaßnahmen liefern solle, die auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassene Gesetzgebungsakte ergänzen könnten. Es handele sich insbesondere um Maßnahmen zur schnellen Bewältigung oder Milderung einer Krisensituation, etwa durch die Gewährung einer finanziellen oder technischen Hilfe oder die Bereitstellung von qualifiziertem Personal.

51

Art. 78 Abs. 3 AEUV biete somit keine Rechtsgrundlage für den Erlass gesetzgeberischer Maßnahmen, da er keinen Anhaltspunkt dafür enthalte, dass die auf seiner Grundlage getroffenen Maßnahmen im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden müssten.

52

Die Slowakische Republik trägt insbesondere vor, ein auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützter Rechtsakt, der wie der angefochtene Beschluss kein Gesetzgebungsakt sei, dürfe nicht von einem Gesetzgebungsakt abweichen. Der Umfang der Abweichung und die Frage, ob die Bestimmung, von der abgewichen werde, grundlegenden Charakter habe, seien unerheblich. Jede Abweichung, so geringfügig sie auch sei, eines Rechtsakts, der kein Gesetzgebungsakt sei, von einem Gesetzgebungsakt sei verboten, da sie einer Umgehung des Gesetzgebungsverfahrens, im vorliegenden Fall des in Art. 78 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Verfahrens, gleichkomme.

53

Ungarn macht geltend, die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Abweichungen von Gesetzgebungsakten griffen, auch wenn sie zeitlich begrenzt seien, in grundlegende Bestimmungen bestehender Gesetzgebungsakte ein, die sich auf Grundrechte und ‑pflichten der Betroffenen bezögen.

54

Schließlich trägt Ungarn vor, Art. 78 Abs. 3 AEUV könnte dahin ausgelegt werden, dass das darin vorgesehene Erfordernis einer Anhörung des Parlaments als „Beteiligung“ des Parlaments im Sinne von Art. 289 Abs. 2 AEUV anzusehen sei, so dass das besondere Gesetzgebungsverfahren Anwendung finde. Dann könnte Art. 78 Abs. 3 AEUV in der Tat eine gültige Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss als Gesetzgebungsakt darstellen.

55

Bei einer solchen Auslegung von Art. 78 Abs. 3 AEUV müssten jedoch die Anforderungen an das Verfahren zum Erlass eines Gesetzgebungsakts eingehalten werden, zu denen insbesondere die Beteiligung des Parlaments und der nationalen Parlamente am Gesetzgebungsverfahren gehöre, an der es im vorliegenden Fall eindeutig gefehlt habe.

56

Der Rat trägt vor, aus Art. 289 Abs. 3 AEUV ergebe sich, dass das Kriterium dafür, ob ein Gesetzgebungsakt vorliege, ausschließlich verfahrenstechnischer Art sei, in dem Sinne, dass es sich immer dann um einen Gesetzgebungsakt handele, wenn eine Rechtsgrundlage des Vertrags ausdrücklich vorsehe, dass ein Rechtsakt „gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ oder „gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren“ angenommen werde. Es treffe nicht zu, dass mit dem angefochtenen Beschluss mehrere Gesetzgebungsakte des Unionsrechts geändert würden, so dass er aufgrund seines Inhalts als Gesetzgebungsakt einzustufen sei. Es könne auch nicht geltend gemacht werden, dass die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Abweichungen, Ausnahmen oder Aussetzungen eine Umgehung des in Art. 78 Abs. 2 AEUV vorgesehenen ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens darstellten.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

57

Erstens ist zu prüfen, ob Art. 78 Abs. 3 AEUV, wie Ungarn vorträgt, dahin auszulegen ist, dass die aufgrund dieser Bestimmung erlassenen Rechtsakte als „Gesetzgebungsakte“ einzustufen sind, weil das dort vorgesehene Erfordernis einer Anhörung des Parlaments eine Form der Beteiligung dieses Unionsorgans im Sinne von Art. 289 Abs. 2 AEUV darstellt, so dass beim Erlass dieser Rechtsakte das besondere Gesetzgebungsverfahren eingehalten werden müsste, was im Fall des angefochtenen Beschlusses nicht geschehen ist.

58

Nach Art. 289 Abs. 3 AEUV sind Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, Gesetzgebungsakte. Rechtsakte, die gemäß einem anderen Verfahren als einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, sind folglich keine Gesetzgebungsakte.

59

Die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten, die keine Gesetzgebungsakte sind, ist von unbestreitbarer Bedeutung, da nur bei der Annahme von Gesetzgebungsakten bestimmte Verpflichtungen einzuhalten sind, wie die Beteiligung der nationalen Parlamente gemäß den Art. 3 und 4 des Protokolls Nr. 1 sowie den Art. 6 und 7 des Protokolls Nr. 2 und das aus Art. 16 Abs. 8 EUV und Art. 15 Abs. 2 AEUV folgende Erfordernis, dass der Rat öffentlich tagt, wenn er über Entwürfe von Gesetzgebungsakten berät und abstimmt.

60

Außerdem ergibt sich aus Art. 289 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 294 Abs. 1 AEUV, dass das in der gemeinsamen Annahme eines Rechtsakts der Union durch das Parlament und den Rat auf Vorschlag der Kommission bestehende ordentliche Gesetzgebungsverfahren nur gilt, wenn darauf in der die Rechtsgrundlage des betreffenden Rechtsakts darstellenden Bestimmung der Verträge „Bezug genommen“ wird.

61

Das besondere Gesetzgebungsverfahren, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es die Annahme eines Rechtsakts der Union durch das Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des Parlaments vorsieht, gilt nach Art. 289 Abs. 2 AEUV in „bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen“.

62

Daraus folgt, dass ein Rechtsakt nur dann als Gesetzgebungsakt der Union eingestuft werden kann, wenn er auf der Grundlage einer Bestimmung der Verträge angenommen wurde, die ausdrücklich auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren oder auf das besondere Gesetzgebungsverfahren Bezug nimmt.

63

Ein solcher systembezogener Ansatz gewährleistet die erforderliche Rechtssicherheit bei den Verfahren zur Annahme von Rechtsakten der Union, indem er es ermöglicht, die Rechtsgrundlagen, die die Unionsorgane zur Annahme von Gesetzgebungsakten ermächtigen, genau zu bestimmen und von den Rechtsgrundlagen zu unterscheiden, aufgrund deren nur Rechtsakte angenommen werden können, die keine Gesetzgebungsakte sind.

64

Somit kann entgegen dem Vorbringen Ungarns aus der Bezugnahme auf das Erfordernis einer Anhörung des Parlaments in der Bestimmung der Verträge, die als Rechtsgrundlage des fraglichen Rechtsakts dient, nicht geschlossen werden, dass für die Annahme dieses Rechtsakts das besondere Gesetzgebungsverfahren gilt.

65

Was den vorliegenden Fall betrifft, sieht Art. 78 Abs. 3 AEUV zwar vor, dass der Rat die dort genannten vorläufigen Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments erlässt; er enthält aber keine ausdrückliche Bezugnahme auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren oder auf das besondere Gesetzgebungsverfahren. Dagegen heißt es in Art. 78 Abs. 2 AEUV ausdrücklich, dass die dort in den Buchst. a bis g aufgezählten Maßnahmen „gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ erlassen werden.

66

In Anbetracht dessen ist davon auszugehen, dass die Maßnahmen, die auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen werden können, als Rechtsakte, die keine Gesetzgebungsakte sind, einzustufen sind, weil sie nicht nach einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden.

67

Als der Rat den angefochtenen Beschluss erließ, ging er somit zu Recht davon aus, dass der Beschluss nicht in einem Gesetzgebungsverfahren anzunehmen war und daher keinen Gesetzgebungsakt darstellte.

68

Infolgedessen stellt sich zweitens die Frage, ob Art. 78 Abs. 3 AEUV, wie die Slowakische Republik und Ungarn geltend machen, nicht als Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses dienen konnte, weil er kein Gesetzgebungsakt ist, aber von mehreren Gesetzgebungsakten abweicht, während nur ein Gesetzgebungsakt von einem anderen Gesetzgebungsakt abweichen darf.

69

Insoweit heißt es im 23. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass die darin vorgesehene Umsiedlung aus Italien und Griechenland eine „vorübergehende Aussetzung“ bestimmter Vorschriften von Gesetzgebungsakten des Unionsrechts zur Folge habe, u. a. von Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, wonach die Hellenische Republik oder die Italienische Republik grundsätzlich für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz anhand der in Kapitel III dieser Verordnung aufgestellten Kriterien zuständig gewesen wäre, und von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 516/2014, wonach die Zustimmung des Antragstellers erforderlich ist.

70

In Art. 78 Abs. 3 AEUV wird nicht definiert, welche „vorläufigen Maßnahmen“ aufgrund dieser Bestimmung erlassen werden können.

71

Der Wortlaut von Art. 78 Abs. 3 AEUV kann daher entgegen dem Vorbringen der Slowakischen Republik und Ungarns als solcher keine restriktive Auslegung des Begriffs der vorläufigen Maßnahmen in dem Sinne stützen, dass darunter nur Begleitmaßnahmen zu einem auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassenen Gesetzgebungsakt fallen, die insbesondere eine finanzielle, technische oder operative Unterstützung für Mitgliedstaaten betreffen, die sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden.

72

Diese Feststellung wird durch die allgemeine Systematik und die Ziele der Bestimmungen in Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV bestätigt.

73

Es handelt sich nämlich um zwei gesonderte Bestimmungen des Primärrechts der Union, mit denen unterschiedliche Ziele verfolgt werden und die eigene Anwendungsvoraussetzungen haben. Art. 78 Abs. 3 AEUV bietet eine Rechtsgrundlage für den Erlass vorläufiger Maßnahmen, die keine Gesetzgebungsakte sind und mit denen kurzfristig auf eine Notlage reagiert werden soll, in der sich die Mitgliedstaaten befinden, während auf Art. 78 Abs. 2 AEUV Gesetzgebungsakte gestützt werden können, die für unbestimmte Zeit allgemein ein strukturelles Problem regeln sollen, das sich im Rahmen der gemeinsamen Politik der Union im Asylbereich stellt.

74

Die genannten Bestimmungen ergänzen sich somit und gestatten es der Union, im Rahmen dieser gemeinsamen Politik vielfältige Maßnahmen zu erlassen, um sich u. a. die nötigen Werkzeuge für eine effektive, sowohl kurz- als auch langfristige Reaktion auf Migrationskrisen zu verschaffen.

75

Insoweit würde eine restriktive Auslegung des Begriffs der vorläufigen Maßnahmen in Art. 78 Abs. 3 AEUV, wonach er nur den Erlass von Begleitmaßnahmen zu Gesetzgebungsakten, die auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV ergangen sind, ermöglicht und nicht den Erlass von Maßnahmen, die von solchen Akten abweichen – abgesehen davon, dass sie im Wortlaut von Art. 78 Abs. 3 AEUV keine Stütze findet –, auch dessen praktische Wirksamkeit erheblich reduzieren, da sich die genannten Akte auf die verschiedenen in den Buchst. a bis g von Art. 78 Abs. 2 AEUV aufgezählten Aspekte des gemeinsamen europäischen Asylsystems erstreckt haben oder erstrecken können.

76

Dies gilt speziell für den von Art. 78 Abs. 2 Buchst. e AEUV erfassten Bereich der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz zuständigen Mitgliedstaats, da dieser Bereich Gegenstand einer umfassenden Regelung ist, zu der erstrangig die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung gehören.

77

In Anbetracht dessen muss der Begriff der vorläufigen Maßnahmen in Art. 78 Abs. 3 AEUV weit genug sein, um es den Unionsorganen zu gestatten, alle vorläufigen Maßnahmen zu erlassen, die erforderlich sind, um effektiv und schnell auf eine aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen eintretende Notlage zu reagieren.

78

Aus diesem Blickwinkel müssen vorläufige Maßnahmen, die auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen werden, zwar grundsätzlich auch von Bestimmungen in Gesetzgebungsakten abweichen können, doch muss der Anwendungsbereich solcher Abweichungen sowohl inhaltlich als auch zeitlich in der Weise begrenzt sein, dass sie sich darauf beschränken, schnell und effektiv durch eine vorläufige Regelung auf eine ganz bestimmte Krisensituation zu reagieren. Dies schließt es aus, dass solche Maßnahmen die dauerhafte und generelle Ersetzung oder Änderung der Gesetzgebungsakte zum Gegenstand haben oder bewirken können und damit das in Art. 78 Abs. 2 AEUV vorgesehene ordentliche Gesetzgebungsverfahren umgehen.

79

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Abweichungen diesem Erfordernis einer Begrenzung ihres inhaltlichen und zeitlichen Anwendungsbereichs genügen und dass sie die dauerhafte Ersetzung oder Änderung der Bestimmungen von Gesetzgebungsakten weder zum Gegenstand haben noch bewirken.

80

Die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Abweichungen von bestimmten Vorschriften von Gesetzgebungsakten gelten nämlich, vorbehaltlich der in Art. 4 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses vorgesehenen Verlängerungsmöglichkeit, nur für einen Zeitraum von zwei Jahren und laufen am 26. September 2017 aus. Überdies betreffen sie eine begrenzte Zahl von 120000 Angehörigen bestimmter Drittstaaten, die in Griechenland oder Italien internationalen Schutz beantragt haben, eine unter Art. 3 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses fallende Staatsangehörigkeit besitzen, aus einem dieser beiden Mitgliedstaaten umgesiedelt werden und zwischen dem 24. März 2015 und dem 26. September 2017 in diesen Mitgliedstaaten eingetroffen sind oder eintreffen werden.

81

Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV das in Art. 78 Abs. 2 AEUV vorgesehene ordentliche Gesetzgebungsverfahren umgangen worden wäre.

82

In Anbetracht dessen stand dem Erlass des angefochtenen Beschlusses, dessen Einstufung als Rechtsakt, der kein Gesetzgebungsakt ist, nicht in Frage gestellt werden kann, auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV nicht entgegen, dass er Abweichungen von bestimmten Vorschriften von Gesetzgebungsakten mit sich bringt.

83

Aus den gleichen Gründen ist auch das Vorbringen der Slowakischen Republik zurückzuweisen, mit dem sie eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, Art. 13 Abs. 2 EUV sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit, der repräsentativen Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts rügt.

84

Somit sind der zweite Klagegrund der Slowakischen Republik und der erste Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

2.  Zum ersten Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum zweiten Klagegrund Ungarns, mit denen geltend gemacht wird, der angefochtene Beschluss sei keine vorläufige Maßnahme und seine Geltungsdauer sei zu lang

a)  Vorbringen der Parteien

85

Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei keine geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses, da dieser, anders als Art. 78 Abs. 3 es verlange, keine vorläufige Maßnahme darstelle.

86

Da der angefochtene Beschluss nach seinem Art. 13 Abs. 2 bis zum 26. September 2017 gelte, d. h. für einen Zeitraum von zwei Jahren, der überdies nach Art. 4 Abs. 5 und 6 des Beschlusses um ein Jahr verlängert werden könne, könne er nicht als „vorläufige Maßnahme“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV eingestuft werden.

87

Dies gelte umso mehr, als die zeitlichen Wirkungen des angefochtenen Beschlusses für die Antragsteller weit über diesen Zeitraum von zwei bzw. drei Jahren hinausgingen. Er werde nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass dauerhafte Verbindungen zwischen den Antragstellern und den Umsiedlungsmitgliedstaaten entstünden.

88

Der Rat führt aus, nach Art. 13 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses gelte er für 24 Monate, d. h. bis zum 26. September 2017. Eine Verlängerung um bis zu zwölf Monate im speziellen Rahmen des in seinem Art. 4 Abs. 5 vorgesehenen Aussetzungsmechanismus sei nicht mehr möglich. Die Dauer der Wirkungen, die der angefochtene Beschluss für die umgesiedelten Personen entfalten könne, sei kein bei der Bestimmung seines vorläufigen Charakters relevanter Gesichtspunkt. Dieser Charakter sei anhand der Geltungsdauer des im Beschluss vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus zu beurteilen, d. h. eines Zeitraums von 24 Monaten.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

89

Art. 78 Abs. 3 AEUV gestattet nur den Erlass „vorläufiger Maßnahmen“.

90

Ein Rechtsakt kann nur dann als „vorläufig“ im üblichen Wortsinn eingestuft werden, wenn er einen Gegenstand nicht dauerhaft regeln soll und nur für begrenzte Zeit gilt.

91

Anders als Art. 64 Abs. 2 EG, wonach die Geltungsdauer der auf der Grundlage dieser Bestimmung beschlossenen Maßnahmen sechs Monate nicht überschreiten durfte, sieht die Nachfolgebestimmung in Art. 78 Abs. 3 AEUV aber keine solche zeitliche Beschränkung vor.

92

Folglich belässt Art. 78 Abs. 3 AEUV, auch wenn er verlangt, dass die Maßnahmen, auf die er sich bezieht, vorläufig sind, dem Rat einen Spielraum bei der Festlegung ihrer Geltungsdauer anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere der Besonderheiten der Notlage, die sie rechtfertigen.

93

Nach Art. 13 des angefochtenen Beschlusses gilt er vom 25. September 2015 bis zum 26. September 2017, d. h. während eines Zeitraums von 24 Monaten, für Personen, die in diesem Zeitraum in Griechenland und in Italien eintreffen, sowie für Antragsteller, die seit dem 24. März 2015 im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten eingetroffen sind.

94

Nach Art. 4 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses kann „bei außergewöhnlichen Umständen“ und einer bis zum 26. Dezember 2015 erfolgenden Mitteilung eines Mitgliedstaats der in Art. 13 Abs. 2 des Beschlusses vorgesehene Zeitraum von 24 Monaten im Rahmen einer zeitweiligen und teilweisen Aussetzung der Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats, sich am Umsiedlungsprozess von Antragstellern zu beteiligen, um bis zu zwölf Monate verlängert werden. Er bestätigt damit den vorläufigen Charakter der verschiedenen im Beschluss enthaltenen Maßnahmen. Da dieser Mechanismus nur bis zum 26. Dezember 2015 in Gang gesetzt werden konnte, wird der angefochtene Beschluss im Übrigen am 26. September 2017 definitiv auslaufen.

95

Somit ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss für begrenzte Zeit gilt.

96

Der Rat hat bei der Festlegung der Dauer der im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Maßnahmen auch sein Ermessen nicht offensichtlich überschritten. Im 22. Erwägungsgrund des Beschlusses führte er aus: „Ein Zeitraum von 24 Monaten ist angemessen, um zu gewährleisten, dass die in diesem Beschluss vorgesehenen Maßnahmen Italien und Griechenland tatsächlich dabei helfen, den erheblichen Zustrom von Migranten in ihr Hoheitsgebiet zu bewältigen.“

97

Die Wahl einer Geltungsdauer von 24 Monaten erscheint in Anbetracht dessen gerechtfertigt, dass die im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlung einer bedeutenden Zahl von Personen ein noch nie dagewesener und komplexer Vorgang ist, der insbesondere bei der Koordinierung zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten eine gewisse Vorbereitungs- und Umsetzungszeit erfordert, bevor er konkrete Wirkungen entfaltet.

98

Zurückzuweisen ist auch das Argument der Slowakischen Republik und Ungarns, der angefochtene Beschluss habe keinen vorläufigen Charakter, denn er habe langfristige Wirkungen, weil zahlreiche Antragsteller nach ihrer Umsiedlung im Hoheitsgebiet des Umsiedlungsmitgliedstaats blieben, weit über die Geltungsdauer des angefochtenen Beschlusses von 24 Monaten hinaus.

99

Wäre bei der Beurteilung des vorläufigen Charakters im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV die Dauer der Auswirkungen einer Umsiedlungsmaßnahme auf die umgesiedelten Personen zu berücksichtigen, könnte nämlich keine Maßnahme zur Umsiedlung von Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, auf diese Bestimmung gestützt werden, da einer Umsiedlung solche mehr oder weniger langfristigen Auswirkungen inhärent sind.

100

Auch das Argument der Slowakischen Republik und Ungarns, um als vorläufig im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV angesehen werden zu können, dürfe die Geltungsdauer der betreffenden Maßnahme nicht über der für den Erlass eines Gesetzgebungsakts auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erforderlichen Mindestdauer liegen, kann keinen Erfolg haben.

101

Abgesehen davon, dass eine solche Auslegung der Abs. 2 und 3 von Art. 78 AEUV keine Stütze in ihrem Wortlaut findet und verkennt, dass sich die von ihnen erfassten Maßnahmen ergänzen, dürfte es nämlich sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, sein, im Voraus die Mindestfrist festzulegen, die für den Erlass eines Gesetzgebungsakts auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erforderlich ist, so dass dieses Kriterium nicht praktikabel erscheint.

102

Dies wird im Übrigen dadurch belegt, dass im vorliegenden Fall der am 9. September 2015, also am gleichen Tag wie der ursprüngliche Vorschlag der Kommission, auf dem der angefochtene Beschluss beruht, vorgelegte Vorschlag für einen dauerhaften Umsiedlungsmechanismus bis zum Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils noch nicht angenommen worden war.

103

In Anbetracht dessen sind der erste Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik und der zweite Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

3.  Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik, mit dem geltend gemacht wird, der angefochtene Beschluss erfülle nicht die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 78 Abs. 3 AEUV

a)  Vorbringen der Parteien

104

Die Slowakische Republik trägt vor, der angefochtene Beschluss erfülle aus drei Gründen nicht die Voraussetzung für die Anwendung von Art. 78 Abs. 3 AEUV, wonach sich der durch die vorläufigen Maßnahmen begünstigte Mitgliedstaat „aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ befinden müsse.

105

Erstens sei der Zustrom von Drittstaatsangehörigen nach Griechenland und Italien zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses oder unmittelbar zuvor realistischerweise vorhersehbar gewesen und könne deshalb nicht als „plötzlich“ bezeichnet werden.

106

Insoweit gehe aus den statistischen Daten für die Jahre 2013 und 2014 sowie für die ersten Monate des Jahres 2015 hervor, dass die Zahl der auf dem Weg nach Griechenland und Italien befindlichen Drittstaatsangehörigen ständig zugenommen habe und dass diese Zunahme schon Ende 2013 und Anfang 2014 beträchtlich gewesen sei. Außerdem deuteten in Bezug auf Italien die Daten für das Jahr 2015 eher auf einen Rückgang der Migrantenzahlen im Vergleich zum Vorjahr hin.

107

Zweitens fehle es zumindest hinsichtlich der Situation in Griechenland an einem Kausalzusammenhang zwischen der Notlage und dem Zustrom von Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaat. Ein solcher Zusammenhang sei aber erforderlich, da es in Art. 78 Abs. 3 AEUV heiße, dass die Notlage „aufgrund“ des Zustroms entstanden sei. Es stehe nämlich fest, dass die Ausgestaltung der Asylpolitik der Hellenischen Republik seit Langem erhebliche Mängel aufweise, die in keinem unmittelbaren Kausalzusammenhang mit dem für den Zeitraum, in dem der angefochtene Beschluss erlassen worden sei, charakteristischen Migrationsphänomen stünden.

108

Drittens solle Art. 78 Abs. 3 AEUV die Bewältigung bestehender oder unmittelbar bevorstehender Notlagen ermöglichen, während der angefochtene Beschluss zumindest teilweise künftige hypothetische Situationen regele.

109

Die Geltungsdauer des angefochtenen Beschlusses von zwei oder sogar drei Jahren sei nämlich zu lang, als dass behauptet werden könnte, dass die getroffenen Maßnahmen während dieses gesamten Zeitraums auf die bestehende oder unmittelbar bevorstehende Notlage der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik zugeschnitten wären. So könnte es sein, dass die Notlage in diesen Mitgliedstaaten während des genannten Zeitraums entfalle. Außerdem solle die in Art. 4 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses vorgesehene Umsiedlung von 54000 Personen völlig hypothetische Situationen in anderen Mitgliedstaaten erfassen.

110

Die Republik Polen pflichtet diesem Standpunkt unter Hinweis darauf bei, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV eine sowohl bereits bestehende als auch gegenwärtige Notlage betreffe, die den Erlass unmittelbarer Abhilfemaßnahmen erforderlich mache, nicht aber – wie es bei dem angefochtenen Beschluss der Fall sei – Notlagen, die in der Zukunft entstehen könnten, deren Eintritt, Art und Umfang jedoch ungewiss oder schwer vorhersehbar seien.

111

Der Rat und die ihn unterstützenden Mitgliedstaaten machen geltend, die noch nie dagewesene Notlage, die zum angefochtenen Beschluss geführt habe und durch die in dessen Erwägungsgründen 13 und 26 erwähnten statistischen Daten belegt werde, sei durch einen plötzlichen massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen, insbesondere in den Monaten Juli und August 2015, gekennzeichnet gewesen und in erster Linie verursacht worden.

112

Der Rat fügt hinzu, die Bezugnahme auf künftige Ereignisse oder Situationen im angefochtenen Beschluss sei nicht mit Art. 78 Abs. 3 AEUV unvereinbar.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

113

Erstens ist das Vorbringen der Slowakischen Republik zu prüfen, der Zustrom von Drittstaatsangehörigen in das griechische und das italienische Hoheitsgebiet im Jahr 2015 könne nicht als „plötzlich“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV bezeichnet werden, da es bereits im Jahr 2014 einen erheblichen Zustrom gegeben habe. Er sei mithin vorhersehbar gewesen.

114

Hierzu ist festzustellen, dass als „plötzlich“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV ein Zustrom von Drittstaatsangehörigen bezeichnet werden kann, der solchen Umfang hat, dass er unvorhersehbar war. Dies gilt auch dann, wenn er im Rahmen einer Migrationskrise stattfindet, die sich über mehrere Jahre erstreckt, sofern er die normale Funktionsweise des gemeinsamen Asylsystems der Union unmöglich macht.

115

Im vorliegenden Fall ist der angefochtene Beschluss, wie der Generalanwalt in Nr. 3 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, im Kontext der im dritten Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses angesprochenen Migrationskrise ergangen, von der die Union seit dem Jahr 2014 betroffen war und die sich dann im Jahr 2015, vor allem in den Monaten Juli und August dieses Jahres, verschärfte, sowie der katastrophalen humanitären Situation, zu der diese Krise namentlich in den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen wie der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik führte, die einem massiven Zustrom von Migranten ausgesetzt waren, von denen die meisten aus Drittländern wie Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea stammten.

116

Nach den als Anlage zum Streithilfeschriftsatz des Großherzogtums Luxemburg vorgelegten statistischen Daten der Agentur Frontex wurden im Jahr 2015 in der gesamten Union 1,83 Mio. irreguläre Grenzübertritte an den Außengrenzen der Union gezählt, verglichen mit 283500 im Jahr 2014. Überdies beantragten im Jahr 2015 nach den statistischen Daten von Eurostat fast 1,3 Mio. Migranten internationalen Schutz in der Union, verglichen mit 627000 im Jahr zuvor.

117

Zudem ergibt sich speziell aus den im 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnten statistischen Daten der Agentur Frontex, dass die Hellenische Republik und die Italienische Republik in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 und insbesondere in den Monaten Juli und August dieses Jahres mit einem massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet konfrontiert waren, und zwar vor allem mit Angehörigen der unter Art. 3 Abs. 2 des Beschlusses fallenden Staaten, so dass sich der Migrationsdruck auf das italienische und das griechische Asylsystem in diesem Zeitraum stark erhöhte.

118

Nach diesen Daten waren in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 an den Außengrenzen der Italienischen Republik 116000 irreguläre Grenzübertritte zu verzeichnen. Im Juli und im August 2015 trafen in Italien 34691 irreguläre Migranten ein, 20 % mehr als in den beiden Vormonaten.

119

Die im 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnten statistischen Daten für die Hellenische Republik lassen diesen starken Anstieg des Zustroms von Migranten noch deutlicher erkennen. In den ersten acht Monaten des Jahres 2015 trafen im griechischen Hoheitsgebiet mehr als 211000 irreguläre Migranten ein. Allein in den Monaten Juli und August dieses Jahres zählte die Agentur Frontex 137000 irreguläre Grenzübertritte, 250 % mehr als in den beiden Vormonaten.

120

Überdies geht aus dem 14. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass nach den Angaben von Eurostat und EASO von Januar bis Juli 2015 in Italien 39183 Personen internationalen Schutz beantragten, gegenüber 30755 im gleichen Zeitraum des Jahres 2014 (ein Anstieg um 27 %), und dass in Griechenland bei 7475 Antragstellern ein ähnlicher Anstieg (um 30 %) zu verzeichnen war.

121

Außerdem ergibt sich aus dem 26. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass der Rat die Gesamtzahl von 120000 umzusiedelnden Personen gerade anhand der Gesamtzahl von Drittstaatsangehörigen festlegte, die in den Monaten Juli und August 2015 irregulär nach Griechenland oder Italien gelangt waren und unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten.

122

Der Rat stellte folglich aufgrund statistischer Daten, die von der Slowakischen Republik nicht in Frage gestellt worden sind, einen starken Anstieg des Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach Griechenland und Italien binnen kurzer Zeit fest, insbesondere in den Monaten Juli und August 2015.

123

Unter diesen Bedingungen konnte der Rat, ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen, einen solchen Anstieg als „plötzlich“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV einstufen, auch wenn bereits in der Zeit davor massive Flüchtlingsströme eingetroffen waren.

124

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass den Unionsorganen ein weites Ermessen einzuräumen ist, wenn sie Maßnahmen in Bereichen ergreifen, in denen von ihnen u. a. politische Entscheidungen und komplexe Beurteilungen verlangt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat, C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

125

Zweitens ist zum Vorbringen der Slowakischen Republik, der die „Notlage“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV qualifizierende Begriff sei eng auszulegen, festzustellen, dass in den meisten Sprachfassungen von Art. 78 Abs. 3 AEUV ein Begriff wie „gekennzeichnet“ verwendet wird, in einer Minderzahl dagegen ein Begriff wie „verursacht“. Beide Begriffe sind im Kontext dieser Bestimmung und im Hinblick auf ihr Ziel, den schnellen Erlass vorläufiger Maßnahmen zu gewährleisten, die dazu dienen, wirksam auf eine Notlage im Bereich der Migration zu reagieren, im gleichen Sinne zu verstehen, und zwar so, dass eine hinreichend enge Verbindung zwischen der fraglichen Notlage und dem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen bestehen muss.

126

Wie sich aus den Erwägungsgründen 12, 13 und 26 des angefochtenen Beschlusses sowie den dort erwähnten statistischen Daten ergibt, wurde aber eine hinreichend enge Verbindung zwischen der Notlage in Griechenland und Italien in Form des erheblichen Drucks auf die Asylsysteme dieser beiden Mitgliedstaaten und dem Zustrom von Migranten im Jahr 2015 und insbesondere in den Monaten Juli und August dieses Jahres festgestellt.

127

Diese tatsächliche Feststellung kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass es weitere Faktoren, darunter strukturelle Mängel der genannten Systeme in Form mangelnder Kapazitäten für die Unterbringung und die Bearbeitung der Anträge, gegeben haben mag, die zu der Notlage beitrugen.

128

Überdies war der Zustrom von Migranten, mit dem das griechische und das italienische Asylsystem im Jahr 2015 konfrontiert waren, so groß, dass jedes Asylsystem beeinträchtigt worden wäre, auch ein System, das keine strukturellen Schwächen aufwies.

129

Drittens ist das von der Republik Polen unterstützte Vorbringen der Slowakischen Republik zurückzuweisen, der angefochtene Beschluss hätte nicht auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützt werden dürfen, weil er nicht zur Bewältigung einer bestehenden oder unmittelbar bevorstehenden Notlage der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik diene, sondern zumindest teilweise zur Bewältigung künftiger hypothetischer Situationen, d. h. von Situationen, in Bezug auf die beim Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestanden habe, dass sie eintreten würden.

130

Aus den Erwägungsgründen 13 und 26 des angefochtenen Beschlusses geht nämlich hervor, dass er aufgrund einer Notlage erlassen wurde, mit der die Hellenische Republik und die Italienische Republik im Jahr 2015, speziell in den Monaten Juli und August dieses Jahres, konfrontiert waren und die folglich vor dem Erlass dieses Beschlusses eingetreten war, auch wenn sich aus dessen 16. Erwägungsgrund ergibt, dass der Rat ferner berücksichtigte, dass die Notlage aufgrund der anhaltenden Instabilität und Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft Italiens und Griechenlands sehr wahrscheinlich fortbestehen würde.

131

Überdies enthält der angefochtene Beschluss in Anbetracht dessen, dass es den Migrationsströmen immanent ist, dass sie eine rasche Entwicklung durchlaufen und sich namentlich in andere Mitgliedstaaten verlagern können, verschiedene Mechanismen, insbesondere in seinem Art. 1 Abs. 2, in seinem Art. 4 Abs. 2 und 3 und in seinem Art. 11 Abs. 2, zur Anpassung seiner Regelungen an eine etwaige Veränderung der ursprünglichen Notlage, vor allem wenn sie in anderen Mitgliedstaaten eintreten sollte.

132

Art. 78 Abs. 3 AEUV steht solchen Anpassungsmechanismen, die zu den aufgrund dieser Bestimmung getroffenen vorläufigen Maßnahmen hinzutreten, nicht entgegen.

133

Er verleiht nämlich dem Rat ein weites Ermessen bei der Wahl der Maßnahmen, die getroffen werden können, um rasch und wirksam auf eine konkrete Notlage sowie auf etwaige Entwicklungen, die sie durchlaufen könnte, zu reagieren.

134

Wie der Generalanwalt in Nr. 130 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, schließt eine rasche Reaktion nicht aus, dass sie einen Wandel und eine Anpassung erfährt, vorausgesetzt, sie bleibt vorläufig.

135

Somit ist der zweite Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik zurückzuweisen.

D. Zu den die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens für den Erlass des angefochtenen Beschlusses betreffenden Klagegründen, mit denen die Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird

1.  Zum ersten Klagegrund der Slowakischen Republik und zum siebten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung von Art. 68 AEUV gerügt wird

a)  Vorbringen der Parteien

136

Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, da der angefochtene Beschluss mit qualifizierter Mehrheit erlassen worden sei, obwohl er nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015„einvernehmlich“ und „unter Berücksichtigung der besonderen Situationen der Mitgliedstaaten“ hätte ergehen müssen, habe der Rat gegen Art. 68 AEUV verstoßen und wesentliche Formvorschriften verletzt.

137

Beim Erlass des angefochtenen Beschlusses hätte der Rat die aus den genannten Schlussfolgerungen hervorgehenden Leitlinien beachten müssen, insbesondere das Erfordernis einer Verteilung der Antragsteller, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten, auf die Mitgliedstaaten durch einen einvernehmlich erlassenen Beschluss oder in Form freiwillig von den Mitgliedstaaten übernommener Kontingente.

138

Die Beachtung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates durch den Rat wäre umso wichtiger gewesen, als der Rat hätte berücksichtigen müssen, dass die Umsiedlung von Antragstellern für mehrere Mitgliedstaaten eine politisch sensible Frage sei, da eine solche Maßnahme das aktuelle, auf der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung beruhende System erheblich beeinträchtige.

139

Ungarn führt insbesondere aus, da die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 eine Beschlussfassung durch den Rat ausdrücklich nur für die Umsiedlung von 40000 Antragstellern vorgesehen hätten, habe der Rat nicht die Umsiedlung von 120000 zusätzlichen Antragstellern beschließen dürfen, ohne dafür die grundsätzliche Zustimmung des Europäischen Rates einzuholen. Sowohl die Vorlage eines Beschlussvorschlags, der eine solche zusätzliche Umsiedlung enthalte, durch die Kommission als auch die Annahme dieses Vorschlags durch den Rat stellten daher eine Verletzung von Art. 68 AEUV und wesentlicher Formvorschriften dar.

140

Der Rat macht geltend, es gebe keinen Widerspruch zwischen dem angefochtenen Beschluss und den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015.

141

Zudem seien die Schlussfolgerungen, mit denen der Europäische Rat Leitlinien festlege, zwar nach Art. 15 EUV für die Union bindend und deshalb nicht rein politischer Natur; sie böten aber für das Tätigwerden der übrigen Organe weder eine Rechtsgrundlage noch Regeln und Grundsätze, anhand deren die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der übrigen Unionsorgane ausgeübt werden könne.

142

Die Kommission trägt vor, die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates hätten keinen verbindlichen Charakter, sondern nur Auswirkungen auf politischer Ebene und könnten in juristischer Hinsicht das Initiativrecht der Kommission für Vorschläge von Maßnahmen aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV oder die Entscheidungsbefugnis, über die der Rat aufgrund dieser Bestimmung nach Anhörung des Parlaments verfüge, weder bedingen noch begrenzen.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

143

Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 sollten die Mitgliedstaaten „einvernehmlich“ und „unter Berücksichtigung der besonderen Situationen der Mitgliedstaaten“ über die Umverteilung entscheiden. Dazu heißt es in den Schlussfolgerungen ausdrücklich: „In den nächsten beiden Jahren werden 40000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, von … Italien und Griechenland vorübergehend und ausnahmsweise in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt.“ Zu diesem Zweck solle „der Rat … rasch einen Beschluss [erlassen]“.

144

Diese Umsiedlung von 40000 Personen war Gegenstand des Beschlusses 2015/1523, der am 14. September 2015 einvernehmlich angenommen wurde. Somit wurden die Schlussfolgerungen in diesem Punkt durch den Beschluss 2015/1523 vollständig umgesetzt.

145

Was die geltend gemachten Auswirkungen „politischer“ Natur der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 sowohl auf die Befugnis der Kommission zu gesetzgeberischer Initiative als auch auf die in Art. 78 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Abstimmungsregeln im Rat anbelangt, können derartige Auswirkungen, ihr Vorliegen und ihre Beratung im Europäischen Rat unterstellt, keinen Grund für die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses durch den Gerichtshof darstellen.

146

Zum einen bedeutet nämlich das der Kommission durch Art. 17 Abs. 2 EUV und Art. 289 AEUV eingeräumte gesetzgeberische Initiativrecht im Rahmen des in Art. 13 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatzes der Zuweisung von Befugnissen und, umfassender, des für den organisatorischen Aufbau der Union kennzeichnenden Grundsatzes des institutionellen Gleichgewichts, dass es Sache der Kommission ist, zu entscheiden, ob sie einen Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt vorlegt. In diesem Kontext ist es auch Sache der Kommission, die nach Art. 17 Abs. 1 EUV die allgemeinen Interessen der Union fördert und zu diesem Zweck geeignete Initiativen ergreift, den Gegenstand, das Ziel und den Inhalt dieses Vorschlags zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2015, Rat/Kommission, C‑409/13, EU:C:2015:217, Rn. 64 und 70).

147

Diese Grundsätze gelten auch für das Initiativrecht der Kommission im Rahmen des Erlasses, auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV, von Rechtsakten, die wie der angefochtene Beschluss keine Gesetzgebungsakte sind. Insoweit macht Art. 78 Abs. 3 AEUV, wie auch der Generalanwalt in Nr. 145 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das Initiativrecht der Kommission nicht von der vorherigen Festlegung von Leitlinien durch den Europäischen Rat gemäß Art. 68 AEUV abhängig.

148

Zum anderen gestattet Art. 78 Abs. 3 AEUV dem Rat, Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit zu erlassen, wie er es beim Erlass des angefochtenen Beschlusses getan hat. Der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts verbietet es, dass der Europäische Rat diese Abstimmungsregel ändert und dem Rat mittels Schlussfolgerungen, die gemäß Art. 68 AEUV ergangen sind, vorschreibt, einstimmig zu entscheiden.

149

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, können nämlich – da die Grundsätze über die Willensbildung der Unionsorgane in den Verträgen festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen – allein die Verträge ein Organ in besonderen Fällen dazu ermächtigen, ein von ihnen geschaffenes Entscheidungsverfahren zu ändern (Urteil vom 10. September 2015, Parlament/Rat, C‑363/14, EU:C:2015:579, Rn. 43).

150

Folglich sind der erste Klagegrund der Slowakischen Republik und der siebte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

2.  Zum dritten Teil des dritten Klagegrundes und zum ersten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik sowie zum fünften Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass der Rat entgegen seiner Verpflichtung aus Art. 78 Abs. 3 AEUV das Parlament nicht angehört habe

a)  Vorbringen der Parteien

151

Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, da der Rat wesentliche Änderungen am ursprünglichen Vorschlag der Kommission vorgenommen und den angefochtenen Beschluss ohne erneute Anhörung des Parlaments erlassen habe, habe er die in Art. 78 Abs. 3 AEUV vorgesehenen wesentlichen Formvorschriften verletzt, was zur Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses führen müsse. Nach Ansicht der Slowakischen Republik hat der Rat dadurch auch gegen Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, Art. 13 Abs. 2 EUV sowie die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen.

152

Die wichtigsten Änderungen des ursprünglichen Vorschlags der Kommission beträfen die Tatsache, dass Ungarn im angefochtenen Beschluss nicht mehr wie die Hellenische Republik und die Italienische Republik zu den von der Umsiedlung begünstigten Mitgliedstaaten gehöre, sondern zu den Umsiedlungsmitgliedstaaten, was u. a. zur Streichung des die Verteilung der aus Ungarn umzusiedelnden Personen betreffenden Anhangs III des ursprünglichen Vorschlags der Kommission und zur Aufnahme Ungarns in die Anhänge I und II des angefochtenen Beschlusses geführt habe.

153

Die Slowakische Republik weist auf weitere Änderungen des angefochtenen Beschlusses gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission hin. Zu ihnen gehöre, dass dieser Beschluss keine abschließende Liste der Mitgliedstaaten enthalte, die durch die mit ihm geschaffene Umsiedlungsregelung begünstigt würden, sondern in Art. 4 Abs. 3 vorsehe, dass andere Mitgliedstaaten davon profitieren könnten, wenn sie die dort vorgesehenen Voraussetzungen erfüllten.

154

Die Kläger werfen dem Rat vor, das Parlament nicht erneut angehört zu haben, nachdem er diese Änderungen am ursprünglichen Vorschlag der Kommission vorgenommen habe, obwohl das Parlament ihn in seiner Entschließung vom 17. September 2015 aufgefordert habe, es erneut anzuhören, falls er beabsichtige, den ursprünglichen Vorschlag der Kommission entscheidend zu ändern.

155

Auch wenn die Unionspräsidentschaft das Parlament, insbesondere dessen Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, regelmäßig über den Sachstand informiert habe, könnten diese Informationen eine förmliche Entschließung des Plenums des Parlaments nicht ersetzen.

156

Ungarn verweist insoweit auf zwei Schreiben des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Parlaments an den Präsidenten des Parlaments, in denen der Ausschuss zu dem Ergebnis gekommen sei, dass der Rat, indem er Ungarn aus dem Kreis der begünstigten Mitgliedstaaten herausgenommen habe, den ursprünglichen Vorschlag der Kommission entscheidend geändert habe, so dass das Parlament erneut hätte angehört werden müssen.

157

Der Rat trägt vor, angesichts insbesondere der Dringlichkeit der Sache habe er eine hinreichende Anhörung des Parlaments vorgenommen, die es diesem Organ erlaubt habe, rechtzeitig Kenntnis vom Inhalt der Endfassung des angefochtenen Beschlusses zu erlangen und sich zu ihr zu äußern. Jedenfalls weiche die Endfassung des angefochtenen Beschlusses als Ganzes gesehen nicht entscheidend von der Fassung ab, zu der das Parlament am 14. September 2015 angehört worden sei.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

158

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Rat geltend macht, die von Ungarn als Anlage zu seiner Erwiderung vorgelegten und in Rn. 156 des vorliegenden Urteils angeführten Schreiben des Rechtsausschusses des Parlaments stellten unzulässige Beweise dar, da sie unrechtmäßig erlangt worden seien. Er ersucht den Gerichtshof daher vorsorglich, sie aus der Akte der vorliegenden Rechtssachen zu entfernen. Ebenso wie Ungarn beantragt er, das Parlament aufzufordern, die Echtheit dieser Schreiben zu bestätigen und gegebenenfalls ihren rechtlichen Status klarzustellen sowie dem Gerichtshof mitzuteilen, ob es damit einverstanden ist, dass Ungarn sie als Beweise nutzt.

159

Insoweit hält sich der Gerichtshof für hinreichend unterrichtet über die Tatsachen in Bezug darauf, ob der Rat im vorliegenden Fall seiner nach Art. 78 Abs. 3 AEUV bestehenden Pflicht zur Anhörung des Parlaments nachgekommen ist. Er kann daher über diese Rechtsfrage entscheiden, ohne dass es der beantragten Aufforderung an das Parlament bedarf.

160

In der Sache ist darauf hinzuweisen, dass die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments in den im Vertrag vorgesehenen Fällen ein wesentliches Formerfordernis darstellt, dessen Nichtbeachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung zur Folge hat. Die wirksame Beteiligung des Parlaments am Entscheidungsprozess gemäß den im Vertrag vorgesehenen Verfahren stellt nämlich ein wesentliches Element des vom Vertrag gewollten institutionellen Gleichgewichts dar. Diese Befugnis ist Ausdruck des grundlegenden demokratischen Prinzips, dass die Völker durch eine repräsentative Versammlung an der Ausübung der Hoheitsgewalt beteiligt sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 11. November 1997, Eurotunnel u. a., C‑408/95, EU:C:1997:532, Rn. 45, und vom 7. März 2017, RPO, C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 24 und 25).

161

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs impliziert die Pflicht, das Parlament in den im Vertrag vorgesehenen Fällen während des Entscheidungsprozesses anzuhören, dass es immer dann erneut anzuhören ist, wenn der letztlich verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört wurde, es sei denn, die Änderungen entsprechen im Wesentlichen einem vom Parlament selbst geäußerten Wunsch (vgl. u. a. Urteile vom 11. November 1997, Eurotunnel u. a., C‑408/95, EU:C:1997:532, Rn. 46, und vom 7. März 2017, RPO, C‑390/15, EU:C:2017:174, Rn. 26).

162

Wesentliche Änderungen, die eine erneute Anhörung des Parlaments erforderlich machen, sind solche, die die geschaffene Regelung in ihrem Kern berühren oder sich auf das System des Vorschlags im Ganzen auswirken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juni 1994, Parlament/Rat, C‑388/92, EU:C:1994:213, Rn. 13 und 18).

163

Insoweit wurden die verschiedenen Änderungen des ursprünglichen Vorschlags der Kommission, die den veränderten Status Ungarns betrafen, vom Rat zwar im Anschluss an die Weigerung dieses Mitgliedstaats vorgenommen, den im Vorschlag vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus in Anspruch zu nehmen, doch ändert dies insbesondere in Anbetracht dessen, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV den Erlass vorläufiger Maßnahmen zugunsten eines oder mehrerer in einer Notlage im Sinne dieser Vorschrift befindlicher Mitgliedstaaten betrifft, nichts daran, dass die Bestimmung der durch die vorläufigen Maßnahmen begünstigten Mitgliedstaaten ein wesentliches Element jeder auf der Grundlage dieser Vorschrift erlassenen Maßnahme ist.

164

Somit ist davon auszugehen, dass die letztlich verabschiedete Fassung des angefochtenen Beschlusses als Ganzes gesehen in ihrem Wesen vom ursprünglichen Vorschlag der Kommission abweicht.

165

Die Ratspräsidentschaft hat jedoch am 16. September 2015 in einer außerordentlichen Plenardebatte des Parlaments folgende Erklärung abgegeben:

„Angesichts der Dringlichkeit der Lage und wie im Anhörungsschreiben des Parlaments angekündigt, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Sie zu informieren, dass es eine wichtige Änderung gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag [der Kommission] gegeben hat.

Ungarn betrachtet sich nicht als ein an den Außengrenzen befindliches Land und hat uns mitgeteilt, dass es nicht zu den Begünstigten der Umsiedlung gehören wolle.

Das Parlament kann diesen Gesichtspunkt bei seiner Stellungnahme berücksichtigen.“

166

In seiner Legislativen Entschließung vom 17. September 2015, mit der es den ursprünglichen Vorschlag der Kommission unterstützte, muss das Parlament somit diese grundlegende Änderung des Status von Ungarn, an die der Rat gebunden war, zwangsläufig berücksichtigt haben.

167

Zwar nahm der Rat nach der Verabschiedung dieser Legislativen Entschließung durch das Parlament weitere Änderungen am ursprünglichen Vorschlag der Kommission vor, doch berührten diese nicht dessen Wesen.

168

Überdies informierte die Ratspräsidentschaft im Rahmen der im Anhörungsschreiben angekündigten informellen Kontakte das Parlament umfassend über diese Änderungen.

169

Somit wurde die in Art. 78 Abs. 3 AEUV vorgesehene Anhörungspflicht des Parlaments beachtet.

170

In Anbetracht dessen sind der dritte Teil des dritten Klagegrundes und der erste Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik sowie der fünfte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

3.  Zum zweiten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum dritten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass der Rat entgegen Art. 293 Abs. 1 AEUV nicht einstimmig entschieden habe

a)  Vorbringen der Parteien

171

Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, der Rat habe beim Erlass des angefochtenen Beschlusses die in Art. 293 Abs. 1 AEUV niedergelegte wesentliche Formvorschrift verletzt, indem er den Vorschlag der Kommission ohne die nach dieser Bestimmung erforderliche Einstimmigkeit abgeändert habe. Nach Ansicht der Slowakischen Republik hat der Rat dadurch auch gegen Art. 13 Abs. 2 EUV sowie gegen die Grundsätze des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen.

172

Das in Art. 293 Abs. 1 AEUV vorgesehene Erfordernis der Einstimmigkeit gelte für jede Änderung des Kommissionsvorschlags, einschließlich geringfügiger Änderungen und unabhängig davon, ob die Kommission die Änderungen, die bei den Diskussionen im Rat an ihrem Vorschlag vorgenommen worden seien, ausdrücklich oder stillschweigend akzeptiert habe.

173

Nichts deute darauf hin, dass die Kommission im Lauf des Verfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt habe, ihren Vorschlag zurückgezogen und einen neuen Vorschlag mit dem letztlich verabschiedeten Wortlaut vorgelegt hätte. Aus dem Protokoll der Ratstagung vom 22. September 2015 gehe vielmehr hervor, dass die Kommission weder einen neuen Vorschlag vorgelegt noch eine vorherige Erklärung zu dem geänderten Vorschlag abgegeben habe, der letztlich vom Rat angenommen worden sei.

174

Die Kommission müsse aber an den in Rede stehenden Änderungen aktiv und ausdrücklich mitwirken, damit angenommen werden könne, dass sie ihren Vorschlag im Sinne von Art. 293 Abs. 2 AEUV geändert habe. Der vorliegende Fall unterscheide sich insoweit von der Rechtssache, in der das Urteil vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat (C‑280/93, EU:C:1994:367), ergangen sei.

175

Der Rat hält dem entgegen, am 22. September 2015 habe die Kommission, vertreten durch ihren Ersten Vizepräsidenten und das für Asyl und Zuwanderung zuständige Kommissionsmitglied, bei der Ratstagung, auf der der angefochtene Beschluss angenommen worden sei, allen vom Rat vorgenommenen Änderungen des ursprünglichen Vorschlags der Kommission zugestimmt. Diese Zustimmung, auch wenn sie als implizit anzusehen sei, komme einer Änderung des Vorschlags durch die Kommission gleich.

176

Desgleichen trägt die Kommission vor, sie habe ihren Vorschlag im Einklang mit den von den zuständigen Kommissionsmitgliedern in ihrem Namen angenommenen Änderungen geändert, um seinen Erlass zu erleichtern.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

177

Art. 293 AEUV stattet das Initiativrecht der Kommission, bei dem es sich im vorliegenden Fall um das ihr durch Art. 78 Abs. 3 AEUV im Rahmen eines anderen als eines Gesetzgebungsverfahrens verliehene Recht handelt, mit einer zweifachen Garantie aus. Zum einen bestimmt Art. 293 Abs. 1 AEUV, dass der Rat, wenn er aufgrund der Verträge auf Vorschlag der Kommission tätig wird, diesen Vorschlag außer in den Fällen, die von den dort genannten, im vorliegenden Fall nicht einschlägigen Bestimmungen des AEU-Vertrags erfasst werden, nur einstimmig abändern kann. Zum anderen kann die Kommission nach Art. 293 Abs. 2 AEUV, solange kein Beschluss des Rates ergangen ist, ihren Vorschlag jederzeit im Verlauf der Verfahren zur Annahme eines Rechtsakts der Union ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2015, Rat/Kommission, C‑409/13, EU:C:2015:217, Rn. 71 bis 73).

178

Folglich gilt das in Art. 293 Abs. 1 AEUV vorgesehene Erfordernis der Einstimmigkeit für den Rat dann nicht, wenn die Kommission ihren Vorschlag im Einklang mit Art. 293 Abs. 2 AEUV im Lauf des Verfahrens zum Erlass eines Rechtsakts der Union ändert.

179

Zu Art. 293 Abs. 2 AEUV hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die von der Kommission angenommenen geänderten Vorschläge nicht notwendigerweise Schriftform aufweisen müssen, sofern sie Teil des Verfahrens zum Erlass von Rechtsakten der Union sind, das sich durch eine gewisse Flexibilität auszeichnet, die erforderlich ist, um zwischen den Organen eine Meinungsübereinstimmung zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat, C‑280/93, EU:C:1994:367, Rn. 36).

180

Solche Flexibilitätserwägungen müssen erst recht im Rahmen des Verfahrens zum Erlass eines Rechtsakts auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV gelten, da er es ermöglichen soll, dass rasch vorläufige Maßnahmen getroffen werden, um kurzfristig und effektiv eine „Notlage“ im Sinne dieser Vorschrift zu bewältigen.

181

Daraus folgt, dass im speziellen Rahmen von Art. 78 Abs. 3 AEUV davon ausgegangen werden kann, dass die Kommission von der ihr nach Art. 293 Abs. 2 AEUV zustehenden Änderungsbefugnis Gebrauch gemacht hat, wenn aus ihrer Beteiligung am Verfahren zum Erlass des betreffenden Rechtsakts klar hervorgeht, dass der geänderte Vorschlag von ihr gebilligt wurde. Eine solche Auslegung entspricht dem Ziel von Art. 293 Abs. 2 AEUV, das Initiativrecht der Kommission zu schützen.

182

Im vorliegenden Fall ist die Kommission der Ansicht, dass das ihr durch Art. 78 Abs. 3 AEUV zuerkannte Initiativrecht nicht verletzt worden sei.

183

Insoweit trägt sie vor, sie habe ihren ursprünglichen Vorschlag geändert, da sie die an ihm bei den verschiedenen Ratstagungen vorgenommenen Änderungen gebilligt habe.

184

In diesem Kontext führt sie aus, sie sei bei diesen Tagungen durch zwei ihrer Mitglieder, und zwar ihren Ersten Vizepräsidenten und das u. a. für Zuwanderung zuständige Kommissionsmitglied, vertreten worden, die im Einklang mit Art. 13 ihrer Geschäftsordnung vom Kollegium der Kommissionsmitglieder ordnungsgemäß ermächtigt worden seien, den Änderungen ihres ursprünglichen Vorschlags unter Beachtung des vorrangigen, vom Kollegium der Kommissionsmitglieder in seiner Sitzung vom 16. September 2015 festgelegten Ziels zuzustimmen, dass der Rat einen verbindlichen und unverzüglich anwendbaren Beschluss über die Umsiedlung von 120000 Personen erlasse, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten.

185

Insoweit ergibt sich aus Art. 13 der Geschäftsordnung der Kommission bei einer Auslegung im Licht des Ziels von Art. 293 Abs. 2 AEUV, der das Initiativrecht der Kommission schützen soll, dass das Kollegium der Kommissionsmitglieder bestimmte Mitglieder ermächtigen kann, im Lauf des Verfahrens den Vorschlag der Kommission innerhalb vorab von ihm festgelegter Grenzen zu ändern.

186

Die Slowakische Republik und Ungarn bestreiten zwar, dass die zwei fraglichen Mitglieder der Kommission im Einklang mit Art. 13 der Geschäftsordnung dieses Organs vom Kollegium der Kommissionsmitglieder ordnungsgemäß zur Billigung der an ihrem Vorschlag vorgenommenen Änderungen ermächtigt wurden, doch haben sie keinen Beweis vorgelegt, der geeignet wäre, Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Kommission und der von ihr zu den Akten gegebenen Beweise zu wecken.

187

Angesichts dieser Gesichtspunkte ist davon auszugehen, dass die Kommission im vorliegenden Fall von der ihr nach Art. 293 Abs. 2 AEUV zustehenden Änderungsbefugnis Gebrauch gemacht hat, da aus ihrer Beteiligung am Verfahren zum Erlass des angefochtenen Beschlusses klar hervorgeht, dass der geänderte Vorschlag von der Kommission gebilligt wurde, und zwar durch zwei ihrer Mitglieder, die vom Kollegium der Kommissionsmitglieder zur Annahme der betreffenden Änderungen ermächtigt worden waren.

188

Folglich galt das in Art. 293 Abs. 1 AEUV vorgesehene Erfordernis der Einstimmigkeit für den Rat nicht.

189

In Anbetracht dessen sind der zweite Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik und der dritte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

4.  Zum ersten und zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum vierten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass das Recht der nationalen Parlamente auf Abgabe einer Stellungnahme gemäß den Protokollen Nrn. 1 und 2 nicht beachtet worden sei und dass der Rat das Erfordernis der öffentlichen Beratung und Abstimmung missachtet habe

a)  Vorbringen der Parteien

190

Die Slowakische Republik (hilfsweise) und Ungarn tragen vor, beim Erlass des angefochtenen Beschlusses sei das in den Protokollen Nrn. 1 und 2 vorgesehene Recht der nationalen Parlamente auf Abgabe einer Stellungnahme zu jedem Entwurf eines Gesetzgebungsakts nicht beachtet worden.

191

Die Slowakische Republik macht zudem hilfsweise geltend, falls der Gerichtshof entscheiden sollte, dass der angefochtene Beschluss im Gesetzgebungsverfahren hätte erlassen werden müssen, habe der Rat eine wesentliche Formvorschrift verletzt, indem er den Beschluss im Einklang mit der für die Ausübung seiner Tätigkeiten, die keine Gesetzgebungstätigkeiten seien, geltenden Regel unter Ausschluss der Öffentlichkeit erlassen habe, denn nach Art. 16 Abs. 8 EUV und Art. 15 Abs. 2 AEUV tage der Rat öffentlich, wenn er über Entwürfe von Gesetzgebungsakten berate und abstimme.

192

Der Rat trägt vor, da der angefochtene Beschluss kein Gesetzgebungsakt sei, habe er nicht den Voraussetzungen für den Erlass eines solchen Aktes unterlegen.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

193

Da der angefochtene Beschluss, wie aus Rn. 67 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nicht als Gesetzgebungsakt einzustufen ist, unterlag sein Erlass im Rahmen eines Verfahrens, das kein Gesetzgebungsverfahren war, weder den in den Protokollen Nrn. 1 und 2 vorgesehenen Erfordernissen in Bezug auf die Beteiligung der nationalen Parlamente noch den Erfordernissen der öffentlichen Beratung und Abstimmung im Rat, da sie nur im Rahmen der Annahme von Entwürfen von Gesetzgebungsakten gelten.

194

Folglich sind der erste und der zweite Teil des dritten Klagegrundes der Slowakischen Republik sowie der vierte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

5.  Zum sechsten Klagegrund Ungarns, mit dem eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird, die darin bestehen soll, dass der Rat beim Erlass des angefochtenen Beschlusses die Regeln des Unionsrechts über den Sprachengebrauch nicht beachtet habe

a)  Vorbringen der Parteien

195

Ungarn trägt vor, der angefochtene Beschluss sei mit einem wesentlichen Verfahrensfehler behaftet, weil der Rat das Unionsrecht im Bereich des Sprachengebrauchs nicht beachtet habe.

196

Insbesondere habe der Rat Art. 14 Abs. 1 seiner Geschäftsordnung verletzt, weil die Rechtstexte mit den aufeinanderfolgenden Änderungen des ursprünglichen Vorschlags der Kommission, einschließlich zuletzt der vom Rat angenommenen Fassung des angefochtenen Beschlusses, den Mitgliedstaaten nur in englischer Sprache zur Verfügung gestellt worden seien.

197

Die Slowakische Republik macht in ihrer Erwiderung einen ähnlichen Klagegrund geltend, der ihres Erachtens von Amts wegen zu prüfen ist und mit dem sie eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften rügt, die darin bestehen soll, dass der Rat beim Erlass des angefochtenen Beschlusses die Regeln über den Sprachengebrauch, insbesondere Art. 14 Abs. 1 seiner Geschäftsordnung, nicht beachtet habe.

198

Der Rat trägt vor, seine Beratungen hätten in voller Übereinstimmung mit dem Unionsrecht im Bereich des Sprachengebrauchs stattgefunden und insbesondere mit der in Art. 14 Abs. 2 seiner Geschäftsordnung vorgesehenen vereinfachten Sprachenregelung für Änderungsvorschläge.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

199

Vorab ist, ohne dass auf die Zulässigkeit des von der Slowakischen Republik vorgebrachten Klagegrundes einer Verletzung des Unionsrechts im Bereich des Sprachengebrauchs eingegangen zu werden braucht, festzustellen, dass dieser Klagegrund dem sechsten von Ungarn vorgebrachten Klagegrund entspricht, der inhaltlich zu prüfen ist.

200

Mit dem sechsten Klagegrund Ungarns wird eine Verletzung von Art. 14 („Beratungen und Beschlüsse auf der Grundlage von Schriftstücken und Entwürfen in den in der geltenden Sprachenregelung vorgesehenen Sprachen“) der Geschäftsordnung des Rates und insbesondere von Art. 14 Abs. 1 gerügt, wonach der Rat nur auf der Grundlage von Schriftstücken und Entwürfen berät und beschließt, die in den in der geltenden Sprachenregelung vorgesehenen Sprachen vorliegen, es sei denn, dass er aus Dringlichkeitsgründen einstimmig anders entscheidet. Nach Art. 14 Abs. 2 der Geschäftsordnung kann jedes Ratsmitglied gegen die Beratung Einspruch erheben, wenn der Wortlaut etwaiger Änderungsvorschläge nicht in den in Abs. 1 genannten Sprachen abgefasst ist.

201

Der Rat macht geltend, dieser Artikel sei dahin auszulegen – und werde von ihm in der Praxis auch so angewandt –, dass sein Abs. 1 verlange, dass Entwürfe, die als „Grundlage“ für die Beratungen des Rates dienten (im vorliegenden Fall der ursprüngliche Vorschlag der Kommission), grundsätzlich in allen Amtssprachen der Union vorliegen müssten, während Abs. 2 eine vereinfachte Regelung für die Änderungsvorschläge vorsehe, nach der sie nicht zwingend in allen Amtssprachen der Union verfügbar sein müssten. Nur wenn ein Mitgliedstaat Einspruch erhebe, müssten auch die von ihm bezeichneten Sprachfassungen dem Rat vorgelegt werden, bevor dieser seine Beratungen fortsetzen könne.

202

Im gleichen Sinne heißt es in den Erläuterungen des Rates zu seiner Geschäftsordnung, dass ihr Art. 14 Abs. 2 es insbesondere jedem Mitglied des Rates ermögliche, gegen die Beratung Einspruch zu erheben, wenn der Wortlaut etwaiger Änderungsvorschläge nicht in allen Amtssprachen der Union abgefasst sei.

203

Auch wenn die Union, wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat, der Erhaltung der Mehrsprachigkeit verbunden ist, deren Bedeutung in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV hervorgehoben wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2015, Spanien/Rat, C‑147/13, EU:C:2015:299, Rn. 42), ist der vom Rat vorgenommenen Auslegung seiner Geschäftsordnung zu folgen. Sie beruht nämlich auf einem ausgewogenen und flexiblen Ansatz, der die Effizienz und die Schnelligkeit der Arbeiten des Rates begünstigt, die im speziellen Kontext der das Verfahren zum Erlass vorläufiger Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 78 Abs. AEUV kennzeichnenden Dringlichkeit von ganz besonderer Bedeutung sind.

204

Im vorliegenden Fall wurde der ursprüngliche Vorschlag der Kommission unstreitig allen Delegationen der Mitgliedstaaten in allen Amtssprachen der Union zur Verfügung gestellt. Ungarn hat auch nicht bestritten, dass kein Mitgliedstaat Einspruch gegen eine Beratung auf der Grundlage von Dokumenten in englischer Sprache mit den vereinbarten Änderungen erhoben hat und dass überdies alle Änderungen vom Präsidenten des Rates verlesen und simultan in alle Amtssprachen der Union übersetzt wurden.

205

In Anbetracht dessen sind der Klagegrund der Slowakischen Republik sowie der sechste Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung der Sprachenregelung der Union gerügt wird, als unbegründet zurückzuweisen.

E. Zu den materiell-rechtlichen Klagegründen

1.  Zum sechsten Klagegrund der Slowakischen Republik sowie zum neunten und zum zehnten Klagegrund Ungarns, mit denen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht wird

a)  Vorbemerkungen

206

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. u. a. Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat, C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

207

Zur gerichtlichen Nachprüfung der Einhaltung dieses Grundsatzes ist ferner darauf hinzuweisen, dass den Unionsorganen, wie bereits in Rn. 124 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ein weites Ermessen zuzuerkennen ist, wenn sie Maßnahmen in Bereichen erlassen, in denen von ihnen u. a. politische Entscheidungen und komplexe Beurteilungen verlangt werden. Infolgedessen kann die Rechtmäßigkeit einer in einem dieser Bereiche erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das die Unionsorgane verfolgen, offensichtlich ungeeignet ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat, C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

208

Die in dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Grundsätze gelten in vollem Umfang für Maßnahmen, die im Bereich der gemeinsamen Politik der Union im Asylbereich erlassen werden, und insbesondere für vorläufige Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV wie die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen, die mit Entscheidungen im Wesentlichen politischer Art und mit komplexen Beurteilungen verbunden sind, für die überdies nur wenig Zeit zur Verfügung steht, damit rasch und konkret auf eine „Notlage“ im Sinne dieser Vorschrift reagiert werden kann.

b)  Zum sechsten Klagegrund der Slowakischen Republik, soweit mit ihm geltend gemacht wird, dass der angefochtene Beschluss nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels geeignet sei

1) Vorbringen der Parteien

209

Die Slowakische Republik macht, unterstützt von der Republik Polen, geltend, der angefochtene Beschluss sei nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels geeignet und verstoße daher gegen den in Art. 5 Abs. 4 EUV und den Art. 1 und 5 des Protokolls Nr. 2 verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

210

Der angefochtene Beschluss sei nicht zur Erreichung dieses Ziels geeignet, da der darin vorgesehene Umsiedlungsmechanismus die strukturellen Mängel des griechischen und des italienischen Asylsystems nicht beheben könne. Diesen mit mangelnden Kapazitäten für die Unterbringung und die Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zusammenhängenden Mängeln müsse zunächst abgeholfen werden, bevor die Umsiedlung tatsächlich stattfinden könne. Im Übrigen zeige die geringe Zahl der bislang vorgenommenen Umsiedlungen, dass der Umsiedlungsmechanismus, den der angefochtene Beschluss vorsehe, schon bei dessen Erlass nicht zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet gewesen sei.

211

Der Rat und die ihn unterstützenden Mitgliedstaaten machen geltend, auch wenn das griechische und das italienische Asylsystem strukturelle Mängel aufwiesen, sei der im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmechanismus zur Erreichung seines Ziels geeignet, da er den auf den Asylsystemen der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik im Anschluss an den noch nie dagewesenen Zustrom von Migranten in ihr Hoheitsgebiet im Lauf des Jahres 2015 lastenden untragbaren Druck verringere. Dieser Druck wäre im Übrigen für jeden Mitgliedstaat untragbar gewesen, auch für diejenigen, deren Asylsystem keine strukturellen Schwächen aufweise. Überdies gehöre der Umsiedlungsmechanismus zu einem umfangreichen Bündel finanzieller und operativer Hilfsmaßnahmen für die Asylsysteme der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik. Außerdem würden diesen beiden Mitgliedstaaten im angefochtenen Beschluss Pflichten auferlegt, die die Effizienz ihrer Asylsysteme verbessern sollten.

2) Würdigung durch den Gerichtshof

212

Das Ziel des im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus, an dem seine Verhältnismäßigkeit zu messen ist, besteht nach Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses im Licht seines 26. Erwägungsgrundes darin, die Hellenische Republik und die Italienische Republik bei der Bewältigung einer durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, in ihr Hoheitsgebiet geprägten Notlage dadurch zu unterstützen, dass ihre erheblichem Druck ausgesetzten Asylsysteme entlastet werden.

213

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlung einer bedeutenden Zahl von Antragstellern, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, eine Maßnahme ist, die offensichtlich ungeeignet ist, um zur Erreichung dieses Ziels beizutragen.

214

Ebenso lässt sich kaum bestreiten, dass jedes Asylsystem, auch wenn es keine strukturellen Schwächen in Bezug auf die Unterbringung und die Kapazität für die Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz aufweist, durch den noch nie dagewesenen Zustrom von Migranten, wie ihn Griechenland und Italien im Jahr 2015 erlebten, stark beeinträchtigt worden wäre.

215

Außerdem gehört der im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmechanismus zu einem Bündel von Maßnahmen, mit denen diese beiden Mitgliedstaaten entlastet werden sollen. Eine Reihe von ihnen dient gerade dazu, die Funktionsweise ihrer Asylsysteme zu verbessern, so dass die Eignung dieses Mechanismus zur Erreichung seiner Ziele nicht isoliert beurteilt werden kann, sondern im Rahmen des Bündels von Maßnahmen betrachtet werden muss, zu dem er gehört.

216

So sind in Art. 8 des angefochtenen Beschlusses ergänzende von der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik zu ergreifende Maßnahmen, u. a. im Bereich der Verbesserung der Kapazität, Qualität und Effizienz der Asylsysteme, vorgesehen, die zu den bereits durch Art. 8 des Beschlusses 2015/1523 auferlegten Maßnahmen hinzukommen und deren Ziel nach dem 18. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses darin besteht, diese Mitgliedstaaten zu verpflichten, „als Reaktion auf die Krisensituation einen soliden strategischen Rahmen zu schaffen und den bereits eingeleiteten Reformprozess in diesen Bereichen zu verstärken, um so zu einer strukturellen Lösung für die Bewältigung des außergewöhnlichen Drucks auf ihre Asyl- und Migrationssysteme zu gelangen“.

217

Außerdem sieht Art. 7 des angefochtenen Beschlusses vor, dass den genannten Mitgliedstaaten operative Unterstützung gewährt wird, und nach seinem Art. 10 erhalten sie für jede umgesiedelte Person eine finanzielle Unterstützung.

218

Der im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmechanismus kommt überdies zu den übrigen Maßnahmen hinzu, mit denen das italienische und das griechische Asylsystem, die durch den ab 2014 festgestellten massiven und anhaltenden Zustrom schwer beeinträchtigt worden waren, entlastet werden sollen. Dabei handelt es sich um das von den Mitgliedstaaten und den Staaten, die sich dem aus der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung resultierenden System angeschlossen haben, am 20. Juli 2015 vereinbarte europäische Programm zur Neuansiedlung von 22504 Personen, die internationalen Schutz benötigen, um den die Umsiedlung von 40000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, betreffenden Beschluss 2015/1523 sowie um die Einrichtung von „Hotspots“ in Italien und Griechenland, in deren Rahmen alle für den Asylbereich zuständigen Agenturen der Union und Sachverständige der Mitgliedstaaten konkret mit den nationalen und lokalen Behörden zusammenarbeiten, um den betreffenden Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Pflichten zu helfen, die sie nach dem Unionsrecht gegenüber den genannten Personen in Bezug auf die Kontrolle, Identifizierung, Aufnahme von Aussagen und Abnahme von Fingerabdrücken haben.

219

Überdies erhielten die Hellenische Republik und die Italienische Republik, wie aus dem 15. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, erhebliche operative Unterstützung und finanzielle Hilfen der Union im Rahmen der Migrations- und Asylpolitik.

220

Schließlich kann nicht im Nachhinein aus der geringen Zahl der bislang in Anwendung des angefochtenen Beschlusses vorgenommenen Umsiedlungen geschlossen werden, dass er von Anfang an zur Erreichung des verfolgten Ziels ungeeignet war, wie die Slowakische Republik sowie Ungarn im Rahmen seines neunten Klagegrundes geltend machen.

221

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts nämlich nicht von nachträglichen Betrachtungen seines Wirkungsgrads abhängen. Wenn der Unionsgesetzgeber künftige Auswirkungen einer zu erlassenden Regelung zu beurteilen hat, die sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen lassen, kann seine Beurteilung nur beanstandet werden, wenn sie sich im Licht der Informationen, über die er zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden Regelung verfügte, als offensichtlich fehlerhaft erweist (vgl. u. a. Urteile vom 12. Juli 2001, Jippes u. a., C‑189/01, EU:C:2001:420, Rn. 84, und vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 50).

222

Im vorliegenden Fall nahm der Rat, wie sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13, 14 und 26 des angefochtenen Beschlusses ergibt, beim Erlass des Mechanismus zur Umsiedlung einer bedeutenden Zahl von Antragstellern auf der Grundlage einer eingehenden Prüfung der seinerzeit verfügbaren statistischen Daten eine prospektive Analyse der Auswirkungen dieser Maßnahme auf die fragliche Notlage vor. Angesichts dieser Daten erscheint die Analyse aber nicht offensichtlich fehlerhaft.

223

Überdies lässt sich die geringe Zahl der bislang in Anwendung des angefochtenen Beschlusses vorgenommenen Umsiedlungen offenbar durch eine Reihe von Faktoren erklären, die der Rat nicht vorhersehen konnte, als er den angefochtenen Beschluss erließ. Dazu gehört namentlich die mangelnde Kooperation einiger Mitgliedstaaten.

224

In Anbetracht dessen ist der sechste Klagegrund der Slowakischen Republik, soweit mit ihm geltend gemacht wird, dass der angefochtene Beschluss nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels geeignet sei, als unbegründet zurückzuweisen.

c)  Zum sechsten Klagegrund der Slowakischen Republik, soweit mit ihm geltend gemacht wird, dass der angefochtene Beschluss nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels erforderlich sei

1) Vorbringen der Parteien

225

Die Slowakische Republik, unterstützt von der Republik Polen, macht zunächst geltend, das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel hätte genauso wirksam durch andere Maßnahmen erreicht werden können, die im Rahmen bestehender Instrumente hätten getroffen werden können, für die Mitgliedstaaten weniger belastend gewesen wären und nicht so stark in ihr „souveränes“ Recht eingegriffen hätten, über die Einreise von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet frei zu entscheiden, sowie in ihren in Art. 5 des Protokolls Nr. 2 vorgesehenen Anspruch darauf, die finanzielle Belastung und den Verwaltungsaufwand so gering wie möglich zu halten.

226

Erstens wäre es nämlich möglich gewesen, den in der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. 2001, L 212, S. 12) vorgesehenen Mechanismus anzuwenden.

227

Die Richtlinie 2001/55 ziele im Wesentlichen auf eine Reaktion auf dieselben Situationen eines Massenzustroms von Migranten ab wie der angefochtene Beschluss, indem sie ein Verfahren zur Umsiedlung vorübergehenden Schutz genießender Personen vorsehe. Sie greife jedoch weniger stark in das souveräne Recht jedes Mitgliedstaats ein, über die Einreise von Drittstaatsangehörigen in sein Hoheitsgebiet frei zu entscheiden, indem sie es den Mitgliedstaaten vor allem ermögliche, selbst anhand ihrer Aufnahmekapazitäten zu entscheiden, wie viele Personen in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt würden. Außerdem verleihe der Status des vorübergehenden Schutzes insbesondere in Bezug auf die Dauer des Schutzes weniger Rechte als der Status des internationalen Schutzes nach dem angefochtenen Beschluss und belaste dadurch den Umsiedlungsmitgliedstaat deutlich weniger.

228

Zweitens hätten die Hellenische Republik und die Italienische Republik das in Art. 8a der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 2004, L 349, S. 1) vorgesehene „Katastrophenschutzverfahren der Union“ einleiten können. Auf diese Weise hätten sie die notwendige materielle Unterstützung erhalten können.

229

Drittens hätten die Hellenische Republik und die Italienische Republik auch bei der Agentur Frontex eine Unterstützung in Form von „Sofortmaßnahmen“ beantragen können. Ferner hätten sie gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. f und Art. 9 Abs. 1 und 1b der Verordnung Nr. 2007/2004 bei der Agentur Frontex die notwendige Unterstützung zur Organisation von Rückführungsaktionen anfordern können.

230

Eine solche Unterstützung durch die Agentur Frontex hätte die Asyl- und Migrationssysteme der beiden Mitgliedstaaten unmittelbar entlastet, indem sie es ihnen ermöglicht hätte, ihre Mittel auf die Migranten zu konzentrieren, die internationalen Schutz beantragten.

231

Sodann wäre es nicht nötig gewesen, andere Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV zu erlassen, da der Beschluss 2015/1523 es den Mitgliedstaaten überlasse, im Geist der Solidarität zu entscheiden, inwieweit sie sich an der gemeinsamen Verpflichtung beteiligen wollten. Er beeinträchtige ihre Souveränität daher in geringerem Maß. Da der angefochtene Beschluss nur acht Tage nach dem die Umsiedlung von 40000 Personen betreffenden Beschluss 2015/1523 erlassen worden sei, habe in einer so kurzen Zeitspanne unmöglich die Ungeeignetheit des Beschlusses 2015/1523 für die Bewältigung der damals bestehenden Lage festgestellt werden können. Beim Erlass des angefochtenen Beschlusses habe der Rat nämlich keinen Anhaltspunkt dafür gehabt, dass sich die im Beschluss 2015/1523 vorgesehenen Aufnahmemaßnahmen rasch als unzulänglich erweisen würden und dass zusätzliche Maßnahmen getroffen werden müssten.

232

Überdies hätten aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV auch die Mitgliedstaaten weniger belastende Maßnahmen erlassen werden können, die zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet gewesen wären; u. a. hätte eine Hilfe zur Erleichterung der Rückführung und der Registrierung oder eine finanzielle, materielle, technische und personelle Unterstützung für das italienische und das griechische Asylsystem zur Verfügung gestellt werden können. Die Mitgliedstaaten könnten auch auf freiwilliger Basis bilaterale Initiativen ergreifen, um eine solche Unterstützung zu gewähren, und derartige Initiativen habe es im Übrigen gegeben.

233

Schließlich führe die im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlung der Antragsteller für die Mitgliedstaaten unweigerlich zu einer finanziellen Belastung und zu Verwaltungsaufwand. Die Auferlegung einer derartigen Belastung sei aber nicht erforderlich gewesen, da andere, weniger belastende Maßnahmen in Betracht gekommen wären. Infolgedessen stelle der Beschluss eine überflüssige und verfrühte Maßnahme dar, die gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen Art. 5 des Protokolls Nr. 2 verstoße.

234

Der Rat trägt vor, er habe sich beim Erlass des angefochtenen Beschlusses im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vergewissert, dass es keine Alternativmaßnahme gegeben habe, mit der das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel bei geringstmöglicher Beeinträchtigung der Souveränität der Mitgliedstaaten oder ihrer finanziellen Interessen genauso wirksam hätte verwirklicht werden können. Mit den von der Slowakischen Republik aufgezählten Alternativmaßnahmen ließe sich das nicht erreichen.

2) Würdigung durch den Gerichtshof

235

Vor der Prüfung der verschiedenen Argumente, die die Slowakische Republik zum Beleg dafür anführt, dass der angefochtene Beschluss nicht erforderlich gewesen sei, weil der Rat das mit ihm angestrebte Ziel durch Maßnahmen hätte erreichen können, die weniger restriktiv gewesen wären und weniger stark in das Recht der Mitgliedstaaten eingegriffen hätten, unter Beachtung der von der Union im Bereich der gemeinsamen Politik im Asylbereich aufgestellten Regeln über die Einreise von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet zu entscheiden, ist auf den besonders heiklen Kontext des Erlasses des angefochtenen Beschlusses hinzuweisen, und zwar die ernste Notlage, die damals in Griechenland und in Italien aufgrund eines plötzlichen massiven Zustroms von Drittstaatsangehörigen in den Monaten Juli und August 2015 bestand.

236

In einem solchen besonderen Kontext muss angesichts der bereits in den Rn. 206 bis 208 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Grundsätze der Beschluss, gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV einen verbindlichen Mechanismus für die Umsiedlung von 120000 Personen vorzusehen, zwar auf objektiven Kriterien beruhen, kann aber vom Gerichtshof nur beanstandet werden, wenn sich herausstellt, dass der Rat, als er den angefochtenen Beschluss erließ, im Licht der zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen und Daten einen offensichtlichen Beurteilungsfehler dahin gehend begangen hat, dass binnen der gleichen Frist eine andere, weniger belastende, aber ebenso wirksame Maßnahme hätte getroffen werden können.

237

Hierzu ist erstens festzustellen, dass der Beschluss 2015/1523, auch wenn er am 14. September 2015 und damit acht Tage vor dem angefochtenen Beschluss erlassen wurde, mit diesem in Zusammenhang steht.

238

Der Beschluss 2015/1523 diente nämlich zur Umsetzung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 sowie der Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten in Form einer Entschließung vom 20. Juli 2015. Wie aus den in den Erwägungsgründen 10 und 11 des Beschlusses 2015/1523 erwähnten statistischen Daten hervorgeht, diente er zur Bewältigung einer Notlage, die in den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 entstanden war.

239

Ferner ergibt sich aus dem 21. Erwägungsgrund des Beschlusses 2015/1523, dass die Zahl von insgesamt 40000 Antragstellern zum einen anhand der Gesamtzahl der Drittstaatsangehörigen festgelegt wurde, die 2014 irregulär nach Griechenland oder Italien gelangt waren, und zum anderen anhand der Zahl der Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten und etwa 40 % aller Drittstaatsangehörigen ausmachten. Auf der Grundlage dieser statistischen Daten für das Jahr 2014 wurde beschlossen, 60 % von den 40000 Personen aus Italien und 40 % aus Griechenland umzusiedeln.

240

Dagegen geht aus den Erwägungen und statistischen Daten, auf die sich der Rat beim Erlass des angefochtenen Beschlusses stützte und die insbesondere dessen Erwägungsgründen 12, 13 und 26 zu entnehmen sind, hervor, dass der Rat es für erforderlich hielt, neben der im Beschluss 2015/1523 vorgesehenen Maßnahme weitere 120000 Personen umzusiedeln, um den auf der Italienischen Republik und vor allem auf der Hellenischen Republik angesichts einer neuen Notlage aufgrund eines massiven Zustroms irregulärer Migranten in diese Mitgliedstaaten, der in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 und insbesondere im Juli und im August dieses Jahres stattgefunden hatte, lastenden Druck zu mindern.

241

Dieser neue Zustrom von noch nie dagewesenem Ausmaß war auch dadurch gekennzeichnet, dass er sich, wie im zwölften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausgeführt wird, aus einer weiteren Verlagerung der Migrationsströme vom zentralen zum östlichen Mittelmeerraum und zur Westbalkanroute ergab. Diese teilweise Verlagerung der Krise von Italien nach Griechenland erklärt im Übrigen, weshalb von den insgesamt 120000 Antragstellern nur 13 % aus Italien umgesiedelt werden sollten und 42 % aus Griechenland.

242

Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Rat einen offensichtlichen Beurteilungsfehler beging, als er die Ansicht vertrat, dass angesichts der jüngsten ihm zur Verfügung stehenden Daten die am 22. September 2015 bestehende Notlage die Umsiedlung von 120000 Personen rechtfertigte und dass die bereits im Beschluss 2015/1523 vorgesehene Umsiedlung von 40000 Personen nicht ausreichte.

243

Zweitens ist zur Auswirkung des angefochtenen Beschlusses auf den rechtlichen Rahmen für die Aufnahme von Drittstaatsangehörigen festzustellen, dass der darin vorgesehene Umsiedlungsmechanismus zwar verbindlich ist, aber nur für zwei Jahre gilt und eine begrenzte Zahl von Migranten betrifft, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen.

244

Die verbindliche Wirkung des angefochtenen Beschlusses wird auch dadurch begrenzt, dass Voraussetzung für eine Umsiedlung ist, dass die Mitgliedstaaten in regelmäßigen Abständen, zumindest aber alle drei Monate, die Zahl der Antragsteller angeben, die schnell in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt werden können (Art. 5 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses), und dass sie der Umsiedlung der betreffenden Person zustimmen (Art. 5 Abs. 4 des Beschlusses), wobei ein Mitgliedstaat die Umsiedlung eines Antragstellers nach Art. 5 Abs. 7 des Beschlusses jedoch nur aus berechtigten Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit ablehnen kann.

245

Drittens lässt die Argumentation der Slowakischen Republik, dass der angefochtene Beschluss eine unverhältnismäßige Maßnahme darstelle, weil er unnötigerweise einen verbindlichen Mechanismus mit einer bezifferten und obligatorischen Aufteilung der zwischen den Mitgliedstaaten umzusiedelnden Personen in Form von Kontingenten vorschreibe, nicht den Schluss zu, dass der Rat bei seiner Entscheidung, einen solchen verbindlichen Umsiedlungsmechanismus vorzuschreiben, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat.

246

Der Rat war nämlich im Rahmen des ihm insoweit zuzuerkennenden weiten Ermessens zu der Annahme berechtigt, dass der verbindliche Charakter der Aufteilung der umzusiedelnden Personen angesichts der besonderen Notlage, die den Erlass des angefochtenen Beschlusses erforderlich machte, geboten war.

247

Der Rat hat überdies unwidersprochen ausgeführt, er habe feststellen müssen, dass die einvernehmliche Aufteilung der 40000 vom Beschluss 2015/1523 betroffenen Personen auch nach langen Gesprächen fehlgeschlagen sei, so dass dieser Beschluss letztlich ohne eine Tabelle mit den Verpflichtungen der Umsiedlungsmitgliedstaaten erlassen worden sei.

248

Desgleichen steht fest, dass sich im Rahmen der Verhandlungen über den angefochtenen Beschluss im Rat schnell gezeigt hatte, dass ein einvernehmlicher Beschluss, insbesondere über die Aufteilung der umzusiedelnden Personen, kurzfristig nicht möglich sein würde.

249

Der Rat musste aber angesichts der Notlage, in der sich die Hellenische Republik und die Italienische Republik im Anschluss an einen noch nie dagewesenen Zustrom von Migranten in den Monaten Juli und August 2015 befanden, Maßnahmen ergreifen, die schnell umgesetzt werden und eine konkrete Wirkung entfalten konnten, um diesen Mitgliedstaaten bei der Bewältigung der umfangreichen Migrantenströme in ihrem Hoheitsgebiet zu helfen.

250

Außerdem kann in Anbetracht der Erwägungen und statistischen Daten, auf die insbesondere in den Erwägungsgründen 12 bis 16 des angefochtenen Beschlusses eingegangen wird, nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass der Rat einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe, als er in dieser Situation den Erlass einer verbindlichen vorläufigen Umsiedlungsmaßnahme für erforderlich erachtet habe.

251

So stellte der Rat zum einen im 15. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen worden seien, um die Hellenische Republik und die Italienische Republik im Rahmen der Migrations- und Asylpolitik zu unterstützen, und zum anderen heißt es im 16. Erwägungsgrund, dass der erhebliche, zunehmende Druck auf das griechische und das italienische Asylsystem fortzubestehen drohe und dass der Rat es deshalb als unerlässlich angesehen habe, gegenüber diesen beiden Mitgliedstaaten Solidarität zu bekunden und die bisher ergriffenen Maßnahmen durch die im angefochtenen Beschluss vorgesehenen vorläufigen Maßnahmen zu ergänzen.

252

Insoweit war der Rat beim Erlass des angefochtenen Beschlusses, wie sich im Übrigen aus dessen zweitem Erwägungsgrund ergibt, in der Tat verpflichtet, den Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht, anzuwenden, der nach Art. 80 AEUV bei der Umsetzung der gemeinsamen Politik der Union im Asylbereich gilt.

253

Im vorliegenden Fall kann dem Rat daher nicht vorgeworfen werden, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, als er sich gehalten sah, angesichts der besonderen Dringlichkeit der Lage auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV, im Licht von Art. 80 AEUV und des dort verankerten Grundsatzes der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, vorläufige Maßnahmen zu treffen, die in der Festlegung eines verbindlichen Umsiedlungsmechanismus bestanden, wie er im angefochtenen Beschluss vorgesehen ist.

254

Viertens kann entgegen dem Vorbringen der Slowakischen Republik und Ungarns die Entscheidung für einen verbindlichen Umsiedlungsmechanismus nicht mit der Begründung beanstandet werden, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV nur den Erlass rasch umsetzbarer vorläufiger Maßnahmen gestatte, während ein solcher Umsiedlungsmechanismus eine gewisse Vorbereitungs- und Umsetzungszeit erfordere, bevor ein nachhaltiger Umsiedlungsrhythmus erreicht werden könne.

255

Da diese Vorschrift auf die Schaffung sinnvoller Maßnahmen abzielt und dabei keine Frist enthält, innerhalb deren vorläufige Maßnahmen umgesetzt werden müssen, ist nämlich davon auszugehen, dass der Rat sein weites Ermessen nicht überschritten hat, als er davon ausging, dass die im Juli und August 2015 bestehende Situation den Erlass eines verbindlichen Umsiedlungsmechanismus rechtfertigte, um ihr abzuhelfen, und dass dieser, nach einem etwaigen Vorbereitungs- und Umsetzungszeitraum, so schnell wie möglich zur Anwendung kommen muss, um ebenso schnell konkrete Ergebnisse herbeizuführen.

256

Speziell zur Richtlinie 2001/55 hat der Rat ferner unwidersprochen ausgeführt, dass das in dieser Richtlinie vorgesehene System des vorübergehenden Schutzes keine effektive Antwort auf das im vorliegenden Fall bestehende Problem liefere, nämlich die komplette Auslastung der Aufnahmeinfrastrukturen in Griechenland und Italien sowie die Notwendigkeit, von diesen Mitgliedstaaten so schnell wie möglich eine bedeutende Zahl bereits in ihrem Hoheitsgebiet eingetroffener Migranten zu übernehmen, denn nach dem System des vorübergehenden Schutzes hätten die dafür in Betracht kommenden Personen Anspruch auf Schutz in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich befänden.

257

Fünftens ist die im angefochtenen Beschluss getroffene Entscheidung, internationalen Schutz zu gewähren und keinen Status mit begrenzteren Rechten wie den des in der Richtlinie 2001/55 vorgesehenen vorübergehenden Schutzes, eine im Wesentlichen politische Entscheidung, deren Zweckmäßigkeit der Gerichtshof nicht nachprüfen kann.

258

Sechstens ist zu den übrigen von der Slowakischen Republik angeführten Maßnahmen, die weniger restriktiv sein sollen als der angefochtene Beschluss, zunächst festzustellen, dass Maßnahmen zur Stärkung der Außengrenzen oder auch Maßnahmen, die auf eine finanzielle oder operative Unterstützung des griechischen und des italienischen Asylsystems abzielen, im Unterschied zu dem im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus keine ausreichende Antwort auf die Notwendigkeit darstellen, den durch einen bereits eingetretenen Zustrom von Migranten verursachten Druck auf diese Systeme zu verringern.

259

Es handelt sich nämlich um ergänzende Maßnahmen, die dazu beitragen können, neue Migrantenströme besser zu bewältigen, die aber als solche keine Abhilfe für das bestehende Problem der Auslastung des griechischen und des italienischen Asylsystems durch bereits im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten befindliche Personen schaffen können.

260

Siebtens schließlich hat die Slowakische Republik hinsichtlich des Arguments, dass die Einrichtung des im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus zu unverhältnismäßigen Belastungen für die Mitgliedstaaten führen werde, keinen konkreten Beleg dafür angeführt, dass die von ihr vorgeschlagenen Alternativmaßnahmen wie die Erhöhung u. a. der technischen und finanziellen Mittel für die Hellenische Republik und die Italienische Republik deutlich weniger Kosten mit sich bringen würden als ein vorübergehender Umsiedlungsmechanismus.

261

Folglich ist das Vorbringen, mit dem die Slowakische Republik die Erforderlichkeit des angefochtenen Beschlusses bestreitet, als unbegründet zurückzuweisen. Somit ist der sechste Klagegrund der Slowakischen Republik in vollem Umfang zurückzuweisen.

d)  Zum neunten Klagegrund Ungarns, mit dem geltend gemacht wird, dass der angefochtene Beschluss nicht zur Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels erforderlich sei

1) Vorbringen der Parteien

262

Ungarn macht, unterstützt von der Republik Polen, geltend, da es nach der Endfassung des angefochtenen Beschlusses, anders als im ursprünglichen Vorschlag der Kommission, nicht mehr zu den begünstigten Mitgliedstaaten gehöre, sei es nicht gerechtfertigt, dass der angefochtene Beschluss die Umsiedlung von 120000 Antragstellern vorsehe. Er verstoße deshalb gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

263

Die Festlegung einer Gesamtzahl von 120000 Personen, deren Umsiedlung der angefochtene Beschluss vorsehe, gehe über das hinaus, was zur Erreichung des mit diesem Beschluss verfolgten Ziels erforderlich sei, da diese Zahl 54000 Personen einschließe, die nach dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission aus Ungarn hätten umgesiedelt werden sollen. Es sei nicht gerechtfertigt, dass die Gesamtzahl der umzusiedelnden Antragsteller nicht herabgesetzt worden sei, obwohl sie ursprünglich auf der Grundlage nicht von zwei, sondern von drei begünstigten Mitgliedstaaten festgelegt worden sei.

264

Außerdem sei die Aufteilung der 54000 Antragsteller, die ursprünglich aus Ungarn hätten umgesiedelt werden sollen, hypothetisch und ungewiss geworden, da der angefochtene Beschluss vorsehe, dass darüber anhand späterer Entwicklungen endgültig entschieden werde.

265

Während Art. 78 Abs. 3 AEUV darauf abziele, rasch auf eine bestehende und nicht auf eine hypothetische Situation zu reagieren, sei beim Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht klar gewesen, ob die Umsiedlung dieser 54000 Antragsteller erforderlich sei und, selbst wenn sie erforderlich gewesen sein sollte, aus welchen begünstigten Mitgliedstaaten sie vorzunehmen sei.

266

Der Rat weist das Vorbringen Ungarns zurück und trägt insbesondere vor, auf der Grundlage aller zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses verfügbaren statistischen Daten sei er zu der Annahme berechtigt gewesen, dass auch nach dem Wegfall Ungarns als begünstigter Mitgliedstaat an der Gesamtzahl von 120000 umzusiedelnden Personen festzuhalten gewesen sei.

2) Würdigung durch den Gerichtshof

267

Zunächst geht aus dem 26. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervor, dass der Rat es für erforderlich hielt, „eine bedeutende Zahl der unzweifelhaft internationalen Schutz benötigenden Antragsteller“ umzusiedeln und dass die Zahl von 120000 Antragstellern „[u]nter Berücksichtigung der Gesamtzahl der Drittstaatsangehörigen, die 2015 irregulär nach Italien und Griechenland gelangt sind, und der Zahl der Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen“, festgelegt wurde.

268

Im 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat der Rat u. a. nähere Angaben zu den statistischen Daten in Bezug auf die Zahl irregulärer Einreisen nach Griechenland und Italien im Jahr 2015 und speziell in den Monaten Juli und August dieses Jahres gemacht, die er somit bei der Festlegung der Zahl von 120000 Antragstellern berücksichtigte.

269

Aus diesen Angaben folgt, dass sich der Rat dafür entschied, auch nach dem Wegfall Ungarns als begünstigter Mitgliedstaat angesichts des Ernstes der Lage in Griechenland und Italien im Jahr 2015 und speziell in den Monaten Juli und August dieses Jahres an der Gesamtzahl von 120000 umzusiedelnden Personen festzuhalten.

270

Ferner kann dem 26. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses entnommen werden, dass der Rat an der Gesamtzahl von 120000 Personen festhielt, da er der Ansicht war, dass nur die Umsiedlung einer „bedeutenden“ Zahl unzweifelhaft internationalen Schutz benötigender Antragsteller den seinerzeit auf dem griechischen und dem italienischen Asylsystem lastenden Druck konkret verringern konnte.

271

Das Erfordernis, an der Zahl von 54000 Antragstellern, die ursprünglich für Umsiedlungen aus Ungarn vorgesehen war, festzuhalten, lässt sich auch auf den 16. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses stützen. Aus ihm geht nämlich hervor, dass es aufgrund der anhaltenden Instabilität und Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft Griechenlands und Italiens sehr wahrscheinlich war, dass das griechische und das italienische Asylsystem auch nach dem Erlass des angefochtenen Beschlusses einem erheblichen, zunehmenden Druck ausgesetzt sein würden.

272

Da Ungarn nicht anhand konkreter Anhaltspunkte dargetan hat, dass die vom Rat bei der Festlegung der Gesamtzahl von 120000 umzusiedelnden Personen herangezogenen statistischen Daten nicht einschlägig waren, ist festzustellen, dass der Rat keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als er auf der Grundlage der genannten Erwägungen und Daten auch nach dem Wegfall Ungarns als eines durch die Umsiedlung begünstigten Mitgliedstaats an dieser Zahl festhielt.

273

Sodann macht Ungarn geltend, die Vorschriften für die 54000 Antragsteller, die ursprünglich aus Ungarn hätten umgesiedelt werden sollen, stellten eine hypothetische und ungewisse Regelung dar, da der angefochtene Beschluss vorsehe, dass insoweit über die Umsiedlungen im Licht späterer Entwicklungen endgültig entschieden werde.

274

Aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. c, Abs. 2 und 3 des angefochtenen Beschlusses ergibt sich jedoch, dass die Aufteilung der 54000 Antragsteller so geregelt ist, dass es eine in Art. 4 Abs. 2 des Beschlusses aufgestellte Grundregel gibt, wonach diese Antragsteller ab dem 26. September 2016 aus Griechenland und Italien anteilsgemäß auf der Grundlage der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b genannten Zahlen von Antragstellern in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt werden.

275

Diese Grundregel ist mangels abweichender Bestimmungen anzuwenden, denn sie ist mit einer in Art. 4 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses vorgesehenen flexiblen Regel gepaart, die es ermöglicht, die Grundregel anzupassen oder zu ändern, wenn dies durch die Entwicklung der Situation gerechtfertigt ist oder dadurch, dass sich ein Mitgliedstaat infolge einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen in einer Notlage befindet, die von einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen geprägt ist.

276

Eine solche Regel erlaubt es, erforderlichenfalls auf künftige Entwicklungen zu reagieren und damit die Umsiedlungen besser an den vordringlichsten Bedarf anzupassen.

277

Die Wirksamkeit eines Mechanismus zur Umsiedlung einer bedeutenden Zahl von Antragstellern, der wie der im angefochtenen Beschluss vorgesehene in zwei Phasen über einen Zeitraum von zwei Jahren umgesetzt wird, erfordert es nämlich, dass er unter bestimmten Voraussetzungen während seiner Geltungsdauer angepasst werden kann.

278

Demnach ist der neunte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

e)  Zum zehnten Klagegrund Ungarns, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht wird, der sich aus den besonderen Auswirkungen des angefochtenen Beschlusses auf Ungarn ergeben soll

1) Vorbringen der Parteien

279

Ungarn trägt hilfsweise vor, falls der Gerichtshof keinem seiner Nichtigkeitsgründe stattgeben sollte, sei der angefochtene Beschluss jedenfalls insofern rechtswidrig, als er in Bezug auf Ungarn gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

280

Der Rat habe Ungarn im angefochtenen Beschluss zu den Umsiedlungsmitgliedstaaten gezählt, nachdem es auf den im ursprünglichen Vorschlag der Kommission vorgesehenen Status als begünstigter Mitgliedstaat verzichtet habe. Ungarn sei sowohl in der Zeit vor dem Erlass des angefochtenen Beschlusses als auch bei dessen Erlass unbestreitbar einem besonders starken Migrationsdruck ausgesetzt gewesen. Unter diesen Umständen erlege der angefochtene Beschluss Ungarn dadurch eine unverhältnismäßig hohe Last auf, dass es ebenso wie die übrigen Mitgliedstaaten obligatorische Umsiedlungskontingente übernehmen müsse.

281

Dass Ungarn solche Kontingente auferlegt würden, obwohl es selbst Hilfe bei der Bewältigung der Migrantenströme benötige, verstoße gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV, da diese Vorschrift den Erlass vorläufiger Maßnahmen zugunsten von Mitgliedstaaten vorsehe, die mit einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen konfrontiert seien, und somit der Auferlegung einer zusätzlichen Last für einen Mitgliedstaat entgegenstehe, der sich in einer durch einen solchen Zustrom gekennzeichneten Notlage befinde.

282

Der Rat hält diesen Klagegrund für unzulässig, da er darauf abziele, dass der angefochtene Beschluss teilweise für nichtig erklärt werde, soweit er Ungarn betreffe. Er bilde aber ein untrennbares Ganzes. In der Sache trägt der Rat insbesondere vor, zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses habe sich Ungarn nicht in einer „Notlage“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV befunden, die es gerechtfertigt hätte, ihn den durch den angefochtenen Beschluss begünstigten Mitgliedstaaten zuzuordnen. Außerdem sei der im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmechanismus mit Anpassungsmechanismen verbunden, die es einem Mitgliedstaat gestatteten, bei einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen eine Aussetzung seiner Umsiedlungspflichten zu beantragen.

2) Würdigung durch den Gerichtshof

283

Einleitend ist festzustellen, dass es im Interesse einer geordneten Rechtspflege unter den Umständen des vorliegenden Falles gerechtfertigt ist, den zehnten, von Ungarn hilfsweise geltend gemachten Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufgrund der besonderen Auswirkungen des angefochtenen Beschlusses auf diesen Mitgliedstaat gerügt wird, in der Sache zu prüfen, ohne über die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit zu entscheiden, da dieser Klagegrund jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, Fresh Del Monte Produce/Kommission und Kommission/Fresh Del Monte Produce, C‑293/13 P und C‑294/13 P, EU:C:2015:416, Rn. 193 und die dort angeführte Rechtsprechung).

284

Bei der Sachprüfung des zehnten Klagegrundes Ungarns ist auf die Entstehungsgeschichte des angefochtenen Beschlusses hinzuweisen.

285

In ihrem Vorschlag vom 9. September 2015 hatte die Kommission Ungarn zu den von der Umsiedlung begünstigten Mitgliedstaaten gezählt, da die Daten für die ersten acht Monate des Jahres 2015 und insbesondere für die Monate Juli und August dieses Jahres zeigten, dass über die sogenannte„Westbalkanroute“ sehr viele hauptsächlich aus Griechenland kommende Migranten eingetroffen waren und erheblichen Druck auf das ungarische Asylsystem ausübten, der mit dem Druck auf das griechische und das italienische Asylsystem vergleichbar war.

286

Nachdem Ungarn an seiner Grenze zu Serbien einen Zaun errichtet hatte und eine Vielzahl der in Ungarn befindlichen Migranten in den Westen, vor allem nach Deutschland, weitergereist war, verringerte sich dieser Druck jedoch etwa Mitte September 2015 erheblich, da die Zahl der irregulären Migranten, die sich im ungarischen Hoheitsgebiet aufhielten, deutlich sank.

287

Im Kontext dieser im September 2015 eingetretenen Ereignisse beantragte Ungarn beim Rat förmlich, nicht mehr zu den von der Umsiedlung begünstigten Mitgliedstaaten gezählt zu werden.

288

Der Rat nahm diesen Antrag zur Kenntnis und gab bei der Plenardebatte des Parlaments am 16. September 2015 die in Rn. 165 des vorliegenden Urteils wiedergegebene Erklärung ab.

289

Ungarn macht jedoch geltend, dass ihm verbindliche Kontingente auferlegt würden, stelle eine unverhältnismäßige Belastung dar, da es sich auch nach Mitte September 2015 in einer Notlage befunden habe. Der Migrationsdruck auf seine Grenzen habe sich nicht verringert, sondern allenfalls an seine Grenze zu Kroatien verlagert, an der es täglich in erheblichem Umfang irreguläre Grenzübertritte gegeben habe. Da in Ungarn somit auch beim Erlass des angefochtenen Beschlusses noch eine Notlage bestanden habe, sei unter Verletzung des Ziels von Art. 78 Abs. 3 AEUV, das darin bestehe, den in einer solchen Situation befindlichen Mitgliedstaaten zu helfen, beschlossen worden, Ungarn in die Umsiedlungsmitgliedstaaten aufzunehmen und ihm zusätzliche Belastungen in Form von Umsiedlungskontingenten aufzuerlegen.

290

Insoweit lässt sich nicht bestreiten, dass der angefochtene Beschluss insbesondere dadurch, dass er eine zwingende Verteilung der aus Griechenland und Italien umzusiedelnden Migranten auf alle Mitgliedstaaten vorsieht, zum einen Auswirkungen auf alle Umsiedlungsmitgliedstaaten hat und zum anderen die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den verschiedenen vorhandenen Interessen unter Berücksichtigung der mit dem Beschluss verfolgten Ziele erfordert. Der Versuch, ein solches Gleichgewicht herzustellen, indem nicht die besondere Situation nur eines Mitgliedstaats, sondern die Situation aller Mitgliedstaaten berücksichtigt wird, kann daher nicht als Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesehen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Juni 2015, Estland/Parlament und Rat, C‑508/13, EU:C:2015:403, Rn. 39).

291

Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten in einer Notlage im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV, müssen die Belastungen, die mit den aufgrund dieser Vorschrift zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassenen vorläufigen Maßnahmen verbunden sind, grundsätzlich auf alle anderen Mitgliedstaaten aufgeteilt werden, im Einklang mit dem Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, der nach Art. 80 AEUV für die Politik der Union im Asylbereich gilt.

292

Somit sind die Kommission und der Rat im vorliegenden Fall beim Erlass des angefochtenen Beschlusses zu Recht davon ausgegangen, dass die Verteilung der umzusiedelnden Antragsteller auf alle Mitgliedstaaten im Einklang mit dem in Art. 80 AEUV verankerten Grundsatz ein fundamentaler Bestandteil des angefochtenen Beschlusses war. Dies ergibt sich aus den zahlreichen Bezugnahmen auf diesen Grundsatz im angefochtenen Beschluss, u. a. in dessen Erwägungsgründen 2, 16, 26 und 30.

293

Da Ungarn es ablehnte, entsprechend dem Vorschlag der Kommission durch den Umsiedlungsmechanismus begünstigt zu werden, kann dem Rat nicht im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgeworfen werden, dass er aus dem durch Art. 80 AEUV vorgeschriebenen Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten schloss, dass Ungarn wie allen anderen Mitgliedstaaten, die nicht durch den Umsiedlungsmechanismus begünstigt wurden, Umsiedlungskontingente zuzuteilen waren.

294

Darüber hinaus ist festzustellen, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 4 Abs. 5 und Art. 9 des angefochtenen Beschlusses die Möglichkeit hat, unter bestimmten Voraussetzungen eine Aussetzung der ihn aufgrund dieses Beschlusses als Umsiedlungsmitgliedstaat treffenden Verpflichtungen zu beantragen.

295

So erkannte der Rat in seinem aufgrund von Art. 4 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses erlassenen Beschluss 2016/408 u. a. an, dass in der Republik Österreich außergewöhnliche Umstände und eine durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet geprägte Notlage bestanden und dass dieser Mitgliedstaat, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, nach dem Königreich Schweden in der Union die zweithöchste Zahl von Antragstellern aufwies. Er beschloss daher, die der Republik Österreich aufgrund des ihr zugewiesenen Umsiedlungskontingents obliegenden Verpflichtungen in Höhe von 30 % dieses Kontingents für ein Jahr auszusetzen.

296

Desgleichen stellte der Rat im Beschluss 2016/946 u. a. fest, dass sich das Königreich Schweden infolge einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen in einer durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in sein Hoheitsgebiet geprägten Notlage befand und dass es in der Union bei weitem die höchste Zahl von Antragstellern aufwies. Er beschloss daher, die dem Königreich Schweden als Umsiedlungsmitgliedstaat aufgrund des angefochtenen Beschlusses obliegenden Verpflichtungen für ein Jahr auszusetzen.

297

Vor allem ergibt sich aus dem in Art. 4 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses vorgesehenen Anpassungsmechanismus, dass ein Mitgliedstaat, der glaubt, sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen infolge einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen in einer Notlage zu befinden, dies der Kommission und dem Rat unter Angabe berechtigter Gründe mitteilen kann, was zu einer Änderung des Beschlusses führen kann, die bewirkt, dass der betreffende Mitgliedstaat ab dem 26. September 2016 zu den Begünstigten der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des Beschlusses vorgesehenen Umsiedlung von 54000 Antragstellern gehört.

298

Die Existenz dieser verschiedenen Anpassungsmechanismen belegt, dass der im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmechanismus es bei einer Gesamtbetrachtung erlaubt, der insoweit bestehenden besonderen Situation jedes Mitgliedstaats angemessen Rechnung zu tragen.

299

Die Verhältnismäßigkeit des im angefochtenen Beschluss vorgesehenen Umsiedlungsmechanismus ergibt sich auch aus dem Verteilungsschlüssel, anhand dessen in den Anhängen I und II des angefochtenen Beschlusses die Kontingente für die Umsiedlungen aus Griechenland und Italien festgelegt wurden.

300

Während es in der Endfassung des angefochtenen Beschlusses lediglich in dessen 26. Erwägungsgrund heißt, dass der im Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmechanismus „angesichts der für 2015 verfügbaren Gesamtzahl der irregulären Grenzübertritte eine gerechte Lastenteilung zwischen Italien und Griechenland einerseits und den übrigen Mitgliedstaaten andererseits dar[stellt]“, ist nämlich unstreitig, dass die im angefochtenen Beschluss festgelegten Kontingente auf einem Verteilungsschlüssel beruhen, dessen Berechnung im 25. Erwägungsgrund des ursprünglichen Vorschlags der Kommission wie folgt erläutert wird:

„… Der vorgeschlagene Verteilungsschlüssel sollte auf folgenden Kriterien beruhen: a) Bevölkerungszahl (Gewichtung 40 %), b) Gesamt-BIP (Gewichtung 40 %), c) durchschnittliche Zahl der Asylanträge je 1 Million Einwohner im Zeitraum 2010-2014 (Gewichtung 10 %, wobei die Wirkung der Bevölkerungszahl und des BIP auf den Verteilungsschlüssel auf 30 % begrenzt wird, um eine unverhältnismäßige Wirkung dieses Kriteriums auf die Gesamtverteilung zu vermeiden) und d) Arbeitslosenquote (Gewichtung 10 %, wobei die Wirkung der Bevölkerungszahl und des BIP auf den Verteilungsschlüssel auf 30 % begrenzt wird, um eine unverhältnismäßige Wirkung dieses Kriteriums auf die Gesamtverteilung zu vermeiden). …“

301

Daraus folgt, dass dieser Schlüssel eine Verteilung der umzusiedelnden Personen auf die betreffenden Mitgliedstaaten gewährleisten soll, die u. a. in angemessenem Verhältnis zur Wirtschaftskraft jedes Mitgliedstaats und zu dem auf seinem Asylsystem lastenden Druck steht.

302

Insoweit entwickelt die Republik Polen, beruhend auf dem zehnten Klagegrund Ungarns, mit dem geltend gemacht wird, dass die Auferlegung verbindlicher Kontingente für diesen Mitgliedstaat unverhältnismäßige Auswirkungen habe, eine allgemeinere Argumentation, mit der sie rügt, dass diese Kontingente unverhältnismäßige Auswirkungen auf eine Reihe von Aufnahmemitgliedstaaten hätten, die zur Erfüllung ihrer Umsiedlungspflichten erheblich größere Anstrengungen unternehmen und Belastungen tragen müssten als andere Aufnahmemitgliedstaaten. Dies gelte für Mitgliedstaaten, die „wie Polen nahezu ethnisch homogen“ seien und deren Bevölkerung sich in kultureller und sprachlicher Hinsicht von den in ihr Hoheitsgebiet umzusiedelnden Migranten unterscheide.

303

Diese Argumentation ist – abgesehen davon, dass sie unzulässig ist, da sie in einem Streithilfeschriftsatz vorgebracht wird und weit über die Argumentation Ungarns hinausgeht, die sich strikt auf dessen eigene Situation beschränkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Oktober 2014, Deutschland/Rat, C‑399/12, EU:C:2014:2258, Rn. 27) – zurückzuweisen.

304

Wenn die Umsiedlung strikt von der Existenz kultureller oder sprachlicher Verbindungen zwischen jedem Antragsteller und dem Umsiedlungsmitgliedstaat abhängig gemacht werden müsste, würde dies nämlich eine Verteilung dieser Antragsteller auf alle Mitgliedstaaten unter Beachtung des durch Art. 80 AEUV auferlegten Grundsatzes der Solidarität und damit den Erlass eines verbindlichen Umsiedlungsmechanismus unmöglich machen.

305

Hinzuzufügen ist, dass Erwägungen, die an die ethnische Herkunft der Antragsteller anknüpfen, nicht berücksichtigt werden können, da sie offenkundig gegen das Unionsrecht und insbesondere gegen Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen.

306

Schließlich ist das Vorbringen der Republik Polen zurückzuweisen, dass der angefochtene Beschluss gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, da er es den Mitgliedstaaten nicht erlaube, ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit gemäß Art. 72 AEUV wirksam wahrzunehmen. Dies sei umso schwerwiegender, als der Beschluss zu erheblichen „Sekundärmigrationen“ führen werde, bei denen die Antragsteller ihren Aufnahmemitgliedstaat verließen, bevor er endgültig über ihren Antrag auf internationalen Schutz habe entscheiden können.

307

Hierzu ist festzustellen, dass es im 32. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses u. a. heißt, dass der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung während des gesamten Umsiedlungsverfahrens bis zum Abschluss der Überstellung des Antragstellers Rechnung getragen werden sollte und dass in diesem Rahmen die Grundrechte des Antragstellers, einschließlich der einschlägigen Datenschutzvorschriften, uneingeschränkt zu achten sind.

308

Im Hinblick darauf sieht Art. 5 („Umsiedlungsverfahren“) des angefochtenen Beschlusses in Abs. 7 vor, dass die Mitgliedstaaten nur dann das Recht behalten, die Umsiedlung eines Antragstellers abzulehnen, wenn berechtigte Gründe dafür vorliegen, dass der Antragsteller als Gefahr für ihre nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung betrachtet wird.

309

Die Republik Polen macht geltend, der in Art. 5 Abs. 7 des angefochtenen Beschlusses vorgesehene Mechanismus sei ineffizient, da er die Mitgliedstaaten verpflichte, zahlreiche Personen binnen kurzer Zeit zu überprüfen. Es hat jedoch nicht den Anschein, dass derartige praktische Schwierigkeiten diesem Mechanismus inhärent sind, und sie sind gegebenenfalls im Geist der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens der Behörden der durch die Umsiedlung begünstigten Mitgliedstaaten und der Behörden der Umsiedlungsmitgliedstaaten, der im Rahmen der Umsetzung des in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses vorgesehenen Umsiedlungsverfahrens vorherrschen muss, zu lösen.

310

In Anbetracht dessen ist der zehnte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

2.  Zum achten Klagegrund Ungarns, mit dem ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit sowie gegen die Genfer Konvention geltend gemacht wird

a)  Vorbringen der Parteien

311

Ungarn, unterstützt von der Republik Polen, trägt erstens vor, der angefochtene Beschluss missachte die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit, weil in mehreren Punkten unklar sei, wie seine Bestimmungen anzuwenden seien und in welchem Verhältnis sie zu den Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung stünden.

312

So werde im 35. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zwar die Frage der Rechts- und Verfahrensgarantien in Bezug auf die Umsiedlungsentscheidungen angesprochen, doch regele keine seiner Vorschriften diesen Bereich oder nehme Bezug auf die einschlägigen Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung. Dies werfe vor allem ein Problem hinsichtlich der Rechtsbehelfe von Antragstellern auf, insbesondere von solchen, die nicht für eine Umsiedlung vorgeschlagen würden.

313

Der angefochtene Beschluss lege auch die Auswahlkriterien für die Umsiedlung der Antragsteller nicht eindeutig fest. Die Art und Weise, in der die Behörden der begünstigten Mitgliedstaaten über die Überstellung der Antragsteller in einen Umsiedlungsmitgliedstaat zu entscheiden hätten, mache es den Antragstellern extrem schwer, vorab zu erfahren, ob sie zu den umgesiedelten Personen gehörten und, wenn ja, in welchen Mitgliedstaat sie umgesiedelt würden.

314

Überdies definiere der angefochtene Beschluss auch nicht angemessen den Status der Antragsteller im Umsiedlungsmitgliedstaat und gewährleiste nicht, dass die Antragsteller tatsächlich bis zur Entscheidung über ihren Antrag im Umsiedlungsmitgliedstaat blieben. Was die sogenannte „Sekundärmigration“ anbelange, reiche Art. 6 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses für sich allein nicht aus, um sicherzustellen, dass die mit dem angefochtenen Beschluss verfolgten Ziele, nämlich die Verteilung der Antragsteller auf die Mitgliedstaaten, erreicht würden, wenn es keine Garantie dafür gebe, dass die Antragsteller effektiv in den Umsiedlungsmitgliedstaaten blieben.

315

Zweitens werfe der Umstand, dass die Antragsteller gewärtigen müssten, gegebenenfalls in einen Mitgliedstaat umgesiedelt zu werden, zu dem sie keine besondere Verbindung hätten, die Frage auf, ob der angefochtene Beschluss insoweit mit dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), ergänzt durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (im Folgenden: Genfer Konvention), vereinbar sei.

316

Nach der Auslegung in Nr. 192 des Handbuchs über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge [HCR], Mai 1992) sollte dem Antragsteller nämlich der Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem er seinen Antrag eingereicht habe, gestattet werden, bis die Behörden dieses Staates über seinen Antrag entschieden hätten.

317

Dieses Recht auf Verbleib in dem genannten Mitgliedstaat werde auch in Art. 9 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) anerkannt.

318

Der angefochtene Beschluss entziehe den Antragstellern jedoch dieses Recht und ermögliche es, sie ohne ihre Zustimmung in einen anderen Mitgliedstaat umzusiedeln, zu dem sie keine signifikante Verbindung hätten.

319

Die Republik Polen macht geltend, der angefochtene Beschluss verletze die Standards des Schutzes der Menschenrechte im Wesentlichen deshalb, weil er an die Stelle des in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Systems trete, ohne jedoch ein klares Kriterium für die Bestimmung des Mitgliedstaats zu enthalten, in den der Antragsteller zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz umgesiedelt werde.

320

Die Antragsteller könnten nach dem angefochtenen Beschluss in entfernte Regionen der Union umgesiedelt werden, zu denen sie keine kulturellen oder sozialen Verbindungen hätten; dies mache ihre Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats unmöglich.

321

Der Rat bestreitet erstens, dass der angefochtene Beschluss die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit missachte. Es handele sich um eine Dringlichkeitsmaßnahme, die sich zum einen in den Besitzstand des gemeinsamen europäischen Asylsystems einfüge, das im Prinzip voll und ganz anwendbar bleibe, und zum anderen in die durch das System der Verträge sowie die Charta geschaffene Rechtsordnung.

322

Zweitens führt der Rat zu der geltend gemachten Verletzung eines durch die Genfer Konvention garantierten Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet aus, weder diese Konvention noch das Unionsrecht garantierten einem Asylbewerber das Recht, sein Aufnahmeland frei zu wählen.

b)  Würdigung durch den Gerichtshof

323

Erstens ist in Bezug auf die Rüge des Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit darauf hinzuweisen, dass der angefochtene Beschluss aus einem Bündel vorläufiger Maßnahmen besteht, zu denen ein Mechanismus vorübergehender Umsiedlung gehört, der vom Besitzstand im Bereich des gemeinsamen Asylsystems nur in ganz bestimmten, ausdrücklich aufgezählten Punkten abweicht. Dieser Mechanismus fügt sich voll und ganz in den genannten Besitzstand ein, so dass Letzterer generell anwendbar bleibt.

324

In Anbetracht dessen hat der Rat die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit beachtet, indem er namentlich in den Erwägungsgründen 23, 24, 35, 36 und 40 des angefochtenen Beschlusses den Zusammenhang zwischen den Bestimmungen dieses Rechtsakts und denen der im Rahmen der gemeinsamen Politik der Union im Asylbereich ergangenen Gesetzgebungsakte dargelegt hat.

325

Außerdem muss nach Art. 47 der Charta auf nationaler Ebene ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen jede Entscheidung gewährleistet sein, die eine nationale Behörde im Rahmen des in Art. 5 des angefochtenen Beschlusses vorgesehenen Umsiedlungsverfahrens trifft.

326

Ungarn beanstandet ferner, dass der angefochtene Beschluss keine wirksamen Regeln enthalte, die gewährleisteten, dass die Antragsteller im Umsiedlungsmitgliedstaat blieben, bis über ihren Antrag entschieden worden sei, oder, mit anderen Worten, gewährleisteten, dass „Sekundärmigration“ verhindert werde.

327

Hierzu ist festzustellen, dass in den Erwägungsgründen 38 bis 41 des angefochtenen Beschlusses in hinreichend ausführlicher und genauer Weise die Maßnahmen angesprochen werden, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage mehrerer Gesetzgebungsakte der Union, die Teil des Besitzstands im Bereich der gemeinsamen Asylpolitik sind, getroffen werden können, um derartige Migration zu verhindern.

328

Außerdem sieht Art. 6 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses klar und eindeutig vor, dass Antragsteller oder internationalen Schutz genießende Personen, die in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, der nicht der Umsiedlungsmitgliedstaat ist, einreisen, ohne die Voraussetzungen für den Aufenthalt in diesem anderen Mitgliedstaat zu erfüllen, unverzüglich zurückkehren müssen.

329

Hinsichtlich des Vorwurfs Ungarns, dass der angefochtene Beschluss keine Kriterien für die Bestimmung des Umsiedlungsmitgliedstaats enthalte, ist darauf hinzuweisen, dass im angefochtenen Beschluss, wie aus seinem zweiten Erwägungsgrund hervorgeht und wie insbesondere in den Rn. 253 und 291 bis 293 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, Art. 80 AEUV berücksichtigt wurde, der bei der Umsetzung der Politik der Union im Asylbereich und insbesondere beim Erlass vorläufiger Maßnahmen aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV heranzuziehen ist und aus dem hervorgeht, dass die Bestimmung des Umsiedlungsmitgliedstaats auf den Kriterien der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten beruhen muss.

330

Hinzuzufügen ist zum einen, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses einige spezielle, an das Kindeswohl und familiäre Bindungen anknüpfende Kriterien für die Bestimmung des Umsiedlungsmitgliedstaats vorsieht, die im Übrigen den in der Dublin‑III-Verordnung enthaltenen Kriterien entsprechen.

331

Zum anderen werden im 34. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses mehrere Gesichtspunkte aufgezählt, die insbesondere darauf abzielen, dass die Antragsteller in einen Mitgliedstaat umgesiedelt werden, in dem für sie familiäre, kulturelle oder soziale Bindungen bestehen. Diesen Gesichtspunkten ist bei der Bestimmung des Umsiedlungsmitgliedstaats besonders Rechnung zu tragen, um die Integration der Antragsteller zu erleichtern.

332

Dem angefochtenen Beschluss kann somit nicht angelastet werden, dass er ein willkürliches System enthalte, das an die Stelle des objektiven, durch die Dublin‑III-Verordnung geschaffenen Systems getreten sei.

333

Vielmehr unterscheiden sich diese beiden Systems letztlich nicht wesentlich voneinander, denn das durch den angefochtenen Beschluss geschaffene System beruht wie das durch die Dublin‑III-Verordnung geschaffene System auf objektiven Kriterien und nicht auf einer vom Antragsteller zum Ausdruck gebrachten Präferenz.

334

Insbesondere knüpft die in Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Regel der Zuständigkeit des Mitgliedstaats der ersten Einreise, bei der es sich um die einzige in dieser Verordnung vorgesehene Regel zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats handelt, von der der angefochtene Beschluss abweicht, nicht an die Präferenzen des Antragstellers für einen bestimmten Aufnahmemitgliedstaat an und soll nicht speziell gewährleisten, dass eine sprachliche, kulturelle oder soziale Verbindung zwischen ihm und dem zuständigen Mitgliedstaat besteht.

335

Außerdem ist zwar im Rahmen des Umsiedlungsverfahrens die Zustimmung des Antragstellers zu seiner Umsiedlung nicht vorgesehen, doch wird er nach Art. 6 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses vor der Umsiedlungsentscheidung darüber informiert, dass er einem solchen Verfahren unterzogen werden soll, und nach Art. 6 Abs. 4 des Beschlusses müssen die Behörden des begünstigten Mitgliedstaats den Antragsteller vor der tatsächlichen Umsiedlung von der Entscheidung, ihn umzusiedeln, in Kenntnis setzen, wobei in dieser Entscheidung der Umsiedlungsmitgliedstaat anzugeben ist.

336

Überdies bedeutet, wie aus dem 35. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, die fehlende Möglichkeit für die Antragsteller, den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat auszuwählen, dass sie das Recht haben müssen, im Hinblick auf die Wahrung ihrer Grundrechte einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Umsiedlungsentscheidung einzulegen.

337

Schließlich verfügen die Behörden der begünstigten Mitgliedstaaten zwar über einen gewissen Spielraum, wenn sie gemäß Art. 5 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses die einzelnen Antragsteller bestimmen, die in einen bestimmten Umsiedlungsmitgliedstaat umgesiedelt werden können, doch ist ein solcher Spielraum angesichts des Ziels dieses Beschlusses gerechtfertigt, das darin besteht, das griechische und das italienische Asylsystem von einer bedeutenden Zahl von Antragstellern zu entlasten, indem sie innerhalb kurzer Zeit und in effektiver Weise unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der durch die Charta garantierten Grundrechte in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt werden.

338

Zweitens kann entgegen dem Vorbringen Ungarns nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass der angefochtene Beschluss, indem er vorsehe, dass ein Antragsteller umgesiedelt werde, bevor über seinen Antrag entschieden worden sei, gegen die Genfer Konvention verstoße, weil diese das Recht enthalte, im Staat der Antragstellung zu bleiben, solange der Antrag anhängig sei.

339

Insoweit hat der Rat im 35. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zutreffend darauf hingewiesen, dass ein Antragsteller nach dem Unionsrecht den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat nicht selbst auswählen kann. Die in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Kriterien zur Bestimmung des für die Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats knüpfen nämlich nicht an die Präferenzen des Antragstellers für einen bestimmten Aufnahmemitgliedstaat an.

340

Was sodann den von Ungarn angeführten Abschnitt des Handbuchs über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge angeht, kann ihm nicht entnommen werden, dass die Genfer Konvention einem Antragsteller das Recht zuerkennt, im Staat der Stellung des Schutzantrags zu bleiben, solange dieser anhängig ist.

341

Dieser Abschnitt ist nämlich als besondere Ausprägung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zu verstehen, der es verbietet, einen Antragsteller in einen Drittstaat abzuschieben, solange nicht über seinen Antrag entschieden wurde.

342

Die Überstellung im Rahmen der Umsiedlung eines Antragstellers von einem Mitgliedstaat in einen anderen, die dazu dient, die Prüfung seines Antrags binnen angemessener Fristen zu gewährleisten, kann aber nicht als Abschiebung in einen Drittstaat angesehen werden.

343

Es handelt sich vielmehr um eine auf Unionsebene getroffene Maßnahme zur Krisenbewältigung, die gewährleisten soll, dass das in Art. 18 der Charta verankerte Grundrecht auf Asyl unter Beachtung der Genfer Konvention wirksam ausgeübt werden kann.

344

Folglich ist der achte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

345

Da keiner der von der Slowakischen Republik und Ungarn geltend gemachten Klagegründe durchgreift, sind die Klagen abzuweisen.

IV. Kosten

346

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat beantragt hat, der Slowakischen Republik und Ungarn die Kosten aufzuerlegen und da diese Mitgliedstaaten mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, haben sie neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates zu tragen.

347

Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Italienische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Polen, das Königreich Schweden und die Kommission ihre eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klagen werden abgewiesen.

 

2.

Die Slowakische Republik und Ungarn tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates der Europäischen Union.

 

3.

Das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Italienische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Polen, das Königreich Schweden und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprachen: Slowakisch und Ungarisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 06. Sept. 2017 - C-643/15,C-647/15

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 06. Sept. 2017 - C-643/15,C-647/15

Referenzen - Gesetze

Europäischer Gerichtshof Urteil, 06. Sept. 2017 - C-643/15,C-647/15 zitiert 4 §§.