Europäischer Gerichtshof Urteil, 13. Juni 2017 - C-591/15

ECLI:ECLI:EU:C:2017:449
bei uns veröffentlicht am13.06.2017

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

13. Juni 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 355 Abs. 3 AEUV — Status von Gibraltar — Art. 56 AEUV — Freier Dienstleistungsverkehr — Rein interner Sachverhalt — Unzulässigkeit“

In der Rechtssache C‑591/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 21. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 13. November 2015, in dem Verfahren

The Queen, auf Antrag von:

The Gibraltar Betting and Gaming Association Limited,

gegen

Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs,

Her Majesty’s Treasury,

Beteiligte:

Her Majesty’s Government of Gibraltar,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richter J. Malenovský, J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Oktober 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der The Gibraltar Betting and Gaming Association Limited, vertreten durch D. Rose, QC, J. Boyd, Barrister, und L. J. Cass, Solicitor,

von Her Majesty’s Government of Gibraltar, vertreten durch D. Pannick, QC, M. Llamas, QC, und R. Mehta, Barrister, beauftragt von F. Laurence, Solicitor,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Simmons, M. Holt und D. Robertson als Bevollmächtigte im Beistand von K. Beal, QC, J. Oliver und S. Wilkinson, Barristers,

der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von R. Verbeke und P. Vlaemminck, advocaten,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, T. Müller und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

Irlands, vertreten durch E. Creedon, A. Joyce und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von C. Power, SC, und C. Toland, BL,

der spanischen Regierung, vertreten durch M. A. Sampol Pucurull und A. Rubio González als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo, A. Silva Coelho und P. de Sousa Inês als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und W. Roels als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Januar 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 und Art. 355 Abs. 3 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der The Gibraltar Betting and Gaming Association Limited (im Folgenden: GBGA) einerseits und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (Finanz- und Zollbehörde, Vereinigtes Königreich) sowie Her Majesty’s Treasury (Schatzamt, Vereinigtes Königreich) andererseits über die Rechtmäßigkeit einer Steuerregelung zur Erhebung von Glücksspielabgaben.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Kapitel XI („Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“) der am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen enthält folgenden Art. 73:

„Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben, bekennen sich zu dem Grundsatz, dass die Interessen der Einwohner dieser Hoheitsgebiete Vorrang haben; sie übernehmen als heiligen Auftrag die Verpflichtung, im Rahmen des durch diese Charta errichteten Systems des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit das Wohl dieser Einwohner aufs Äußerste zu fördern; zu diesem Zweck verpflichten sie sich,

e)

dem Generalsekretär mit der durch die Rücksichtnahme auf Sicherheit und Verfassung gebotenen Einschränkung zu seiner Unterrichtung regelmäßig statistische und sonstige Informationen technischer Art über das Wirtschafts-, Sozial- und Erziehungswesen in den nicht unter die Kapitel XII und XIII fallenden Hoheitsgebieten zu übermitteln, für die sie verantwortlich sind.“

Der Status von Gibraltar

4

Der König von Spanien trat Gibraltar durch den zwischen ihm und der Königin von Großbritannien am 13. Juli 1713 im Rahmen der Verträge zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekriegs geschlossenen Vertrag von Utrecht an die britische Krone ab. Art. X letzter Satz dieses Vertrags bestimmt, dass die britische Krone, sollte sie jemals die Absicht haben, das Eigentum an der Stadt Gibraltar zu verschenken, zu verkaufen oder auf irgendeine andere Art und Weise zu veräußern, der spanischen Krone vor allen anderen Interessenten ein vorrangiges Erwerbsrecht einzuräumen hat.

5

Gibraltar ist eine Kolonie der britischen Krone. Es gehört nicht zum Vereinigten Königreich.

6

Das Regierungs- und Verwaltungssystem von Gibraltar ist in der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Gibraltar Constitution Order 2006 (Verordnung über die Verfassung von Gibraltar von 2006) geregelt. Danach wird die Exekutivgewalt dort durch einen von der Königin ernannten Gouverneur sowie für bestimmte innere Angelegenheiten durch Her Majesty’s Government of Gibraltar (im Folgenden: Regierung von Gibraltar) ausgeübt. Die Legislativgewalt wird durch die Königin und durch das Parlament von Gibraltar ausgeübt. Die Mitglieder des Parlaments werden alle vier Jahre von der Wählerschaft Gibraltars gewählt. In Gibraltar wurden eigene Gerichte geschaffen. Gegen die Urteile des obersten Gerichts von Gibraltar kann vor dem Judicial Committee of the Privy Council (Rechtsausschuss des Kronrats) Rechtsmittel eingelegt werden.

7

Völkerrechtlich steht Gibraltar auf der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung im Sinne des Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen.

8

Unionsrechtlich ist Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt, im Sinne von Art. 355 Abs. 3 AEUV, auf das die Bestimmungen der Verträge Anwendung finden. Die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und die Anpassungen der Verträge (ABl. 1972, L 73, S. 14, im Folgenden: Beitrittsakte von 1972) sieht jedoch vor, dass bestimmte Teile des Vertrags auf Gibraltar nicht anwendbar sind.

9

Art. 28 der Beitrittsakte von 1972 lautet:

„Die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft betreffend die Erzeugnisse des Anhangs II des EWG-Vertrags und die Erzeugnisse, die bei der Einfuhr in die Gemeinschaft infolge der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik einer Sonderregelung unterliegen, sowie die Rechtsakte betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer sind auf Gibraltar nicht anwendbar, sofern der Rat nicht einstimmig auf Vorschlag der Kommission etwas anderes bestimmt.“

10

Nach Art. 29 in Verbindung mit Anhang I Abschnitt 1 Nr. 4 der Beitrittsakte von 1972 ist Gibraltar vom Zollgebiet der Union ausgeschlossen.

Recht des Vereinigten Königreichs

11

Im Vereinigten Königreich gibt es sieben Glücksspielabgaben. Die mit Teil 3 Kapitel 1 bis 4 und den Anhängen 27 bis 29 des Finance Act 2014 (Finanzgesetz 2014, im Folgenden: FA 2014) geschaffene Steuerregelung betrifft die drei im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abgaben, nämlich die allgemeine Wettabgabe mit Ausnahme von Differenzwetten (Spread Betting), die Abgabe auf Pool-Wetten und die Fernglücksspielabgabe, und errichtet für sie nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts eine Besteuerungsregelung nach Maßgabe des „Verbrauchsorts“.

12

Das vorlegende Gericht stellt in seiner Vorlageentscheidung beispielhaft die Bestimmungen über die Fernglücksspielabgabe in Teil 3 Kapitel 3 FA 2014 dar.

13

Section 154 FA 2014 definiert „Fernglücksspiel“ als ein Glücksspiel, an dem sich Personen unter Nutzung von Internet, Telefon, Fernsehen, Radio oder jeder anderen Art kommunikationserleichternder elektronischer oder sonstiger Technologie beteiligen.

14

Section 155(1) FA 2014 sieht vor, dass auf die „Teilnahme eines Steuerpflichtigen an Fernglücksspielen gemäß einer Vereinbarung zwischen dieser Person und einer anderen Person (Glücksspielanbieter)“ eine Verbrauchsteuer, die sogenannte Fernglücksspielabgabe, erhoben wird.

15

Der Begriff „Steuerpflichtiger“ ist in Section 155(2) FA 2014 u. a. definiert als „jede im Vereinigten Königreich ansässige Person“. Dies ist nach der Definition in Section 186(1) FA 2014 „eine natürliche Person mit gewöhnlichem Aufenthaltsort im Vereinigten Königreich“ oder „eine nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründete juristische Person“.

16

Nach Section 155(3) FA 2014 beläuft sich die Fernglücksspielabgabe auf 15 % des „Gewinns des Glücksspielanbieters“ aus Fernglücksspielen innerhalb eines bestimmten Bemessungszeitraums.

17

Section 157 FA 2014 definiert den Begriff „Gewinn des Glücksspielanbieters“ in Bezug auf normales Glücksspiel als Gesamtheit der im Bemessungszeitraum an den Glücksspielanbieter gezahlten Einsätze für normales Glücksspiel abzüglich des Betrags seiner Ausgaben in Bezug auf diesen Zeitraum für Preise für solches Glücksspiel.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

18

GBGA ist ein Wirtschaftsverband, dessen Mitglieder vor allem in Gibraltar niedergelassene Glücksspielanbieter sind, die Fernglücksspieldienstleistungen an Kunden innerhalb und außerhalb des Vereinigten Königreichs erbringen.

19

Am 17. Juli 2014 trat im Vereinigten Königreich eine Steuerregelung für bestimmte Glücksspielabgaben in Kraft, die im FA 2014 vorgesehen ist und durch die Mitteilungen und Leitlinien der Finanz- und Zollbehörde ergänzt wird (im Folgenden: neue Steuerregelung).

20

GBGA erhob beim vorlegenden Gericht Klage auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit der neuen Steuerregelung im Licht des Unionsrechts. Sie macht in diesem Zusammenhang geltend, die nach dieser Regelung geschuldeten Abgaben seien extraterritorial, bildeten ein Hindernis für den freien Dienstleistungsverkehr und diskriminierten die außerhalb des Vereinigten Königreichs ansässigen Dienstleistungserbringer. Im Übrigen könnten solche Abgaben nicht mit den vom Vereinigten Königreich vorgebrachten, im Wesentlichen wirtschaftlichen Zielen gerechtfertigt werden. Die neue Steuerregelung sei daher mit Art. 56 AEUV unvereinbar.

21

Das vorlegende Gericht gibt insoweit an, dass gemäß der vor Inkrafttreten der neuen Steuerregelung geltenden Regelung über die Besteuerung von Fernglücksspielen die im Vereinigten Königreich niedergelassenen Anbieter von Fernglücksspieldienstleistungen ohne Ansehung dessen, wo ihre Kunden gelebt hätten, eine Abgabe zum Satz von 15 % auf ihren Bruttogewinn gezahlt hätten. Diese Abgabe habe auf dem „Leistungsort“-Prinzip aufgebaut. Die in Gibraltar oder andernorts außerhalb des Vereinigten Königreichs niedergelassenen Anbieter von Fernglücksspieldienstleistungen hätten im Vereinigten Königreich auf solche Glücksspieldienstleistungen, die an dort ansässige Personen erbracht worden seien, keine Steuer gezahlt.

22

Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts besteht eines der Hauptziele der auf dem „Verbrauchsort“-Prinzip beruhenden neuen Steuerregelung darin, die Besteuerung von Glücksspielen so zu ändern, dass die Veranstalter, die Kunden im Vereinigten Königreich entsprechende Glücksspieldienstleistungen anböten, unabhängig vom Ort ihrer Niederlassung eine Abgabe auf solche Dienstleistungen an das Schatzamt des Vereinigten Königreichs zahlten, deren Satz auf 15 % des von ihnen in dem betreffenden Bemessungszeitraum erzielten Gewinns gemäß seiner Definition im FA 2014 festgesetzt sei.

23

Diese neuen Abgaben, so auch die Fernglücksspielabgabe, auf die sich das vorlegende Gericht in seiner Entscheidung bezieht und die auf alle Wirtschaftsteilnehmer, die ihre Fernglücksspieldienstleistungen an im Vereinigten Königreich ansässige Personen erbrächten, unterschiedslos anwendbar sei, bewirken nach Angabe des vorlegenden Gerichts, dass die in Gibraltar niedergelassenen Anbieter solcher Glücksspieldienstleistungen wie die GBGA-Mitglieder ihre Dienstleistungen auf dem Glücksspielmarkt des Vereinigten Königreichs nicht mehr erbringen können, ohne in diesem Mitgliedstaat irgendeine Steuer zu zahlen.

24

In Anbetracht dieser Erwägungen hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, dass der Verfassungsstatus von Gibraltar im Unionsrecht geklärt wird, genauer die Frage, ob sich Wirtschaftsteilnehmer wie die in Gibraltar niedergelassenen GBGA-Mitglieder gegenüber den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs, mit denen die neue Steuerregelung errichtet wird, auf das Unionsrecht berufen können und ob bejahendenfalls mit solchen Rechtsvorschriften die Anforderungen des Art. 56 AEUV verkannt werden.

25

Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Für die Zwecke von Art. 56 AEUV und im Licht des konstitutionellen Verhältnisses zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich:

a)

Sind Gibraltar und das Vereinigte Königreich so zu behandeln, als wären sie für die Zwecke des Unionsrechts Teile eines einzigen Mitgliedstaats, und zwar in der Weise, dass Art. 56 AEUV keine Anwendung findet, außer soweit er auf innerstaatliche Maßnahmen zur Anwendung kommen kann?

Oder:

b)

Hat Gibraltar im Hinblick auf Art. 355 Abs. 3 AEUV den Verfassungsstatus eines gegenüber dem Vereinigten Königreich gesonderten Gebiets innerhalb der Union in dem Sinne, dass die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich für die Zwecke des Art. 56 AEUV als Handel innerhalb der Union zu behandeln ist?

Oder:

c)

Ist Gibraltar als Drittland oder Drittgebiet zu behandeln, mit der Wirkung, dass das Unionsrecht in Bezug auf den beiderseitigen Handel nur insoweit Anwendung findet, als es zwischen einem Mitgliedstaat und einem Nichtmitgliedstaat Anwendung findet?

Oder:

d)

Ist das konstitutionelle Verhältnis zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich für die Zwecke des Art. 56 AEUV in irgendeiner anderen Weise zu beurteilen?

2.

Stellen nationale steuerliche Maßnahmen mit Merkmalen wie denjenigen der neuen Steuerregelung für die Zwecke des Art. 56 AEUV eine Beschränkung des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr dar?

3.

Wenn ja, sind die Ziele, die nach der Erkenntnis des vorlegenden Gerichts mit innerstaatlichen Maßnahmen wie der neuen Steuerregelung verfolgt werden, legitime Ziele, die geeignet sind, eine Beschränkung des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr nach Art. 56 AEUV zu rechtfertigen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

26

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.

27

Zur Beantwortung dieser Frage ist von vornherein darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht nach Art. 52 Abs. 1 EUV für die Mitgliedstaaten gilt. Nach Art. 52 Abs. 2 EUV wird der räumliche Geltungsbereich der Verträge in Art. 355 AEUV im Einzelnen angegeben.

28

Nach Art. 355 Abs. 3 AEUV finden die Verträge auf die europäischen Hoheitsgebiete Anwendung, deren auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat wahrnimmt.

29

Insoweit ist festzustellen, dass Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet ist, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat, nämlich das Vereinigte Königreich, wahrnimmt, und dass das Unionsrecht für dieses Hoheitsgebiet kraft Art. 355 Abs. 3 AEUV gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. September 2003, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑30/01, EU:C:2003:489, Rn. 47, und vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich, C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 19).

30

Abweichend von Art. 355 Abs. 3 AEUV sind nach der Beitrittsakte von 1972 in bestimmten Bereichen des Unionsrechts die Unionsrechtsakte auf Gibraltar nicht anwendbar. Diese Ausschlussregelungen wurden mit Rücksicht auf die besondere Rechtslage und insbesondere den Freihafenstatus dieses Gebiets getroffen (vgl. insoweit Urteil vom 21. Juli 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑349/03, EU:C:2005:488, Rn. 41). Der freie Dienstleistungsverkehr gemäß Art. 56 AEUV ist davon jedoch nicht betroffen.

31

Demnach findet Art. 56 AEUV gemäß Art. 355 Abs. 3 AEUV auf Gibraltar Anwendung.

32

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 56 AEUV die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, verboten sind.

33

Demgegenüber finden nach ständiger Rechtsprechung die Bestimmungen des AEU-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr auf einen Sachverhalt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, keine Anwendung (Urteil vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.

35

Wie von allen Beteiligten vorgebracht, hat der Gerichtshof insoweit zwar schon festgestellt, dass Gibraltar nicht zum Vereinigten Königreich gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. September 2003, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑30/01, EU:C:2003:489, Rn. 47, und vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich, C‑145/04, EU:C:2006:543, Rn. 15).

36

Dieser Umstand kann jedoch für die Feststellung, ob zwei Hoheitsgebiete für die Zwecke der Anwendung der Bestimmungen über die Grundfreiheiten einem einzigen Mitgliedstaat gleichzustellen sind, nicht ausschlaggebend sein. In der Tat hat der Gerichtshof in Rn. 54 des Urteils vom 8. November 2005, Jersey Produce Marketing Organisation (C‑293/02, EU:C:2005:664), bereits entschieden, dass die Kanalinseln, zu denen die Vogtei Jersey gehört, die Insel Man und das Vereinigte Königreich für die Zwecke der Anwendung der Art. 23, 25, 28 und 29 EG ungeachtet dessen, dass diese Inseln nicht zum Vereinigten Königreich gehören, einem einzigen Mitgliedstaat gleichzustellen sind.

37

Zu dieser Schlussfolgerung gelangte der Gerichtshof, indem er sich nach dem Hinweis auf die Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen der Vogtei Jersey durch das Vereinigte Königreich u. a. darauf stützte, dass nach Art. 1 Abs. 1 des der Beitrittsakte von 1972 beigefügten Protokolls Nr. 3 betreffend die Kanalinseln und die Insel Man die Unionsregelung für Zölle und mengenmäßige Beschränkungen auf die Kanalinseln und die Insel Man „in gleicher Weise wie auf das Vereinigte Königreich“ Anwendung findet und dass der Status dieser Inseln keine Merkmale aufweist, aufgrund deren die Beziehungen zwischen ihnen und dem Vereinigten Königreich als den Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten gleichartig angesehen werden könnten (vgl. insoweit Urteil vom 8. November 2005, Jersey Produce Marketing Organisation, C‑293/02, EU:C:2005:664, Rn. 43, 45 und 46).

38

Was erstens die Bedingungen betrifft, unter denen Art. 56 AEUV für Gibraltar gilt, enthält zwar Art. 355 Abs. 3 AEUV nicht die Klarstellung, dass Art. 56 AEUV auf Gibraltar „in gleicher Weise wie auf das Vereinigte Königreich“ Anwendung findet.

39

Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass Art. 355 Abs. 3 AEUV die Anwendbarkeit der Bestimmungen des Unionsrechts – vorbehaltlich der in der Beitrittsakte von 1972 ausdrücklich vorgesehenen Ausschlussregelungen, die allerdings nicht den freien Dienstleistungsverkehr betreffen – auf das Hoheitsgebiet Gibraltars erstreckt.

40

Ohne Belang ist insoweit außerdem der von der Regierung von Gibraltar geltend gemachte Umstand, dass Art. 56 AEUV für Gibraltar kraft Art. 355 Abs. 3 AEUV und für das Vereinigte Königreich kraft Art. 52 Abs. 1 EUV gilt. In einem entsprechenden Kontext hat nämlich der Umstand, dass die Unionsregelung für Zölle und mengenmäßige Beschränkungen auf die Kanalinseln und die Insel Man kraft Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 3 zur Beitrittsakte von 1972 und auf das Vereinigte Königreich kraft Art. 52 Abs. 1 EUV Anwendung findet, den Gerichtshof nicht von der Schlussfolgerung abgehalten, dass diese Inseln und das Vereinigte Königreich für die Zwecke der Anwendung der genannten Regelung einem einzigen Mitgliedstaat gleichzustellen sind (Urteil vom 8. November 2005, Jersey Produce Marketing Organisation, C‑293/02, EU:C:2005:664, Rn. 54).

41

Zweitens gibt es keine sonstigen Anhaltspunkte, aufgrund deren die Beziehungen zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich für die Zwecke von Art. 56 AEUV als den Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten gleichartig angesehen werden könnten.

42

Den Handel zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich dem Handel zwischen Mitgliedstaaten gleichzustellen, liefe im Gegenteil darauf hinaus, die in Art. 355 Abs. 3 AEUV anerkannten Bande zwischen diesem Hoheitsgebiet und diesem Mitgliedstaat zu leugnen. Insoweit steht fest, dass es, wie vom Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt, das Vereinigte Königreich ist, das die aus den Verträgen fließenden Verpflichtungen gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten in Bezug auf die Anwendung und Umsetzung des Unionsrechts im Hoheitsgebiet von Gibraltar übernommen hat (vgl. insoweit Urteile vom 23. September 2003, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑30/01, EU:C:2003:489, Rn. 1 und 47, sowie vom 21. Juli 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑349/03, EU:C:2005:488, Rn. 56).

43

Daraus folgt, dass die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.

44

Diese Auslegung wird nicht durch das Vorbringen der Regierung von Gibraltar in Frage gestellt, wonach damit das Ziel des Art. 26 AEUV, das Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, und das mit Art. 355 Abs. 3 AEUV verfolgte Ziel der Integration Gibraltars in den Binnenmarkt beeinträchtigt würden.

45

Insoweit ist festzustellen, dass nach dem Wortlaut von Art. 26 Abs. 2 AEUV der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist, wobei Art. 56 AEUV eine solche Bestimmung darstellt, was den freien Dienstleistungsverkehr betrifft.

46

Wie aber oben in den Rn. 32 und 33 ausgeführt, ist Art. 56 AEUV auf einen bestimmten Sachverhalt nur anwendbar, wenn ein Auslandsbezug besteht.

47

Im Übrigen führt die Auslegung, auf die oben in Rn. 43 erkannt worden ist, nicht, wie von der Regierung von Gibraltar behauptet, zur Unanwendbarkeit von Art. 56 AEUV auf das Hoheitsgebiet von Gibraltar. Art. 56 AEUV bleibt nämlich auf dieses Hoheitsgebiet unter den gleichen Voraussetzungen, wie sie für jedes andere Hoheitsgebiet in der Union, auf das er Anwendung findet, gelten, einschließlich der Voraussetzung des Vorliegens eines Auslandsbezugs, voll und ganz anwendbar.

48

Auch Erwägungen zum Status von Gibraltar nach nationalem Verfassungsrecht oder nach dem Völkerrecht sprechen nicht gegen diese Auslegung.

49

Was, erstens, den Status von Gibraltar nach nationalem Verfassungsrecht betrifft, macht die Regierung von Gibraltar unter Berufung auf das Urteil vom 10. Oktober 1978, Hansen & Balle (148/77, EU:C:1978:173), geltend, der unionsrechtliche Status dieses Hoheitsgebiets müsse sich insbesondere nach seinem Status nach nationalem Recht bestimmen.

50

Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Feststellung des Gerichtshofs in Rn. 10 jenes Urteils, wonach sich der Status der französischen überseeischen Departements in erster Linie durch Verweisung auf die französische Verfassung bestimmt, nach der sie integrierender Bestandteil der Französischen Republik sind, in ihrem Zusammenhang zu lesen ist, denn sie bezieht sich auf die Auslegung von Art. 227 Abs. 1 EWG-Vertrag, nach dem dieser Vertrag für die gesamte „Französische Republik“ galt (vgl. insoweit Urteil vom 10. Oktober 1978, Hansen & Balle, 148/77, EU:C:1978:173, Rn. 9). Mit dieser Klarstellung wollte der Gerichtshof somit lediglich anerkennen, dass die genannten Departements zu diesem Mitgliedstaat gehören und dass das Unionsrecht nach Ablauf der Zweijahresfrist des Art. 227 Abs. 2 EWG-Vertrag für diese Hoheitsgebiete ohne Weiteres galt, da sie integrierende Bestandteile des besagten Mitgliedstaats waren (vgl. insoweit Urteil vom 10. Oktober 1978, Hansen & Balle, 148/77, EU:C:1978:173, Rn. 10).

51

Wie aber Rn. 31 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, findet das Unionsrecht auf Gibraltar nicht, weil es etwa zum Vereinigten Königreich gehörte, sondern kraft Art. 355 Abs. 3 AEUV Anwendung.

52

Zweitens steht hinsichtlich des völkerrechtlichen Status von Gibraltar fest, dass es auf der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung im Sinne des Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen geführt wird.

53

Die Regierung von Gibraltar bringt insoweit vor, eine Auslegung wie diejenige, auf die oben in Rn. 43 erkannt worden ist, verletze den völkerrechtlichen Status dieses Hoheitsgebiets und missachte insbesondere die Resolution 2625 (XXV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1972, nach der das Gebiet einer Kolonie einen vom Hoheitsgebiet des Staates, von dem es verwaltet werde, gesonderten und unterschiedlichen Status haben müsse.

54

Die besagte Auslegung von Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 56 AEUV hat aber keinerlei Auswirkung auf den völkerrechtlichen Status des Hoheitsgebiets von Gibraltar, da damit nur klargestellt wird, dass insoweit, als das Unionsrecht auf dieses Hoheitsgebiet als europäisches Hoheitsgebiet, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat, nämlich das Vereinigte Königreich, wahrnimmt, Anwendung findet, die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. Diese Auslegung kann somit nicht in dem Sinne verstanden werden, dass damit der gesonderte und unterschiedliche Status von Gibraltar angetastet würde.

55

Hinzuzufügen ist in diesem Zusammenhang, dass das vorlegende Gericht lediglich angegeben hat, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende neue Steuerregelung unterschiedslos für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats und für die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten gelte, ohne, entgegen den Anforderungen des Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, sonstige konkrete Ausführungen zu machen, anhand deren sich ein Zusammenhang zwischen dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits und Art. 56 AEUV herstellen ließe (vgl. insoweit Urteil vom 15. November 2016, Ullens de Schooten, C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 55).

56

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.

Zur zweiten und zur dritten Frage

57

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich eine Beantwortung der zweiten und der dritten Frage.

Kosten

58

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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