Europäischer Gerichtshof Urteil, 25. Juli 2018 - C-216/18

ECLI:ECLI:EU:C:2018:586
bei uns veröffentlicht am25.07.2018

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

25. Juli 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht“

In der Rechtssache C‑216/18 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 23. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2018, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen gegen

LM

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Ilešič, J. L. da Cruz Vilaça, J. Malenovský, E. Levits und C. G. Fernlund sowie der Richter A. Borg Barthet, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin, F. Biltgen, C. Lycourgos und E. Regan,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 23. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2018, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Ersten Kammer vom 12. April 2018, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Minister for Justice and Equality, vertreten durch M. Browne als Bevollmächtigte im Beistand von S. Ní Chúlacháin, BL, R. Farrell, SC, und K. Colmcille, BL,

von LM, vertreten durch C. Ó Maolchallann, Solicitor, M. Lynam, BL, S. Guerin, SC, und D. Stuart, BL,

der spanischen Regierung, vertreten durch M. A. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch Ł. Piebiak, B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Tomkin, H. Krämer, B. Martenczuk, R. Troosters und K. Banks als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Juni 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen, die polnische Gerichte gegen LM (im Folgenden: Betroffener) erlassen haben, in Irland.

Rechtlicher Rahmen

EU-Vertrag

3

Art. 7 EUV bestimmt:

„(1)   Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.

(2)   Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

(3)   Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.

Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

…“

Charta

4

Titel VI („Justizielle Rechte“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) umfasst Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“), in dem es heißt:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

…“

5

In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) wird zu Art. 47 Abs. 2 der Charta klargestellt, dass diese Bestimmung Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht.

6

Art. 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“) der Charta lautet:

„(1)   Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.

(2)   Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“

Rahmenbeschluss 2002/584

7

In den Erwägungsgründen 5 bis 8, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wird ausgeführt:

„(5)

… Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht … die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. …

(6)

Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(7)

Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 [EU] und Artikel 5 [EG] Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus.

(8)

Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.

(10)

Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU, nach Änderung jetzt Art. 2 EUV,] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom [Europäischen] Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU, nach Änderung jetzt Art. 7 Abs. 2 EUV,] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 [EU, nach Änderung jetzt Art. 7 Abs. 3 EUV,] festgestellt wird.

(12)

Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EU] anerkannten Grundsätze, die auch in der [Charta], insbesondere in deren [Titel] VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.

…“

8

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

9

Die Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 nennen die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann.

10

Art. 7 („Beteiligung der zentralen Behörde“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat kann eine oder, sofern es seine Rechtsordnung vorsieht, mehrere zentrale Behörden zur Unterstützung der zuständigen Justizbehörden benennen.

(2)   Ein Mitgliedstaat kann, wenn sich dies aufgrund des Aufbaus seines Justizsystems als erforderlich erweist, seine zentrale(n) Behörde(n) mit der administrativen Übermittlung und Entgegennahme der Europäischen Haftbefehle sowie des gesamten übrigen sie betreffenden amtlichen Schriftverkehrs betrauen.

Ein Mitgliedstaat, der von den in diesem Artikel vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch machen möchte, übermittelt dem Generalsekretariat des Rates die Angaben über die von ihm benannte(n) zentrale(n) Behörde(n). Diese Angaben sind für alle Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats verbindlich.“

11

Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

…“

Irisches Recht

12

Der Rahmenbeschluss 2002/584 wurde durch den European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) in irisches Recht umgesetzt.

13

Section 37(1) des Gesetzes von 2003 über den Europäischen Haftbefehl bestimmt:

„Eine Person darf nach diesem Gesetz nicht übergeben werden, wenn

(a)

ihre Übergabe unvereinbar ist mit den Verpflichtungen des Staates nach

(i)

der [EMRK] oder

(ii)

den Protokollen zur [EMRK],

(b)

ihrer Übergabe eine Bestimmung der Verfassung entgegenstünde …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

Am 1. Februar 2012, 4. Juni 2012 und 26. September 2013 erließen polnische Gerichte drei Europäische Haftbefehle (im Folgenden: EuHb) gegen den Betroffenen, die seine Festnahme und Übergabe an die polnische Justiz zur Strafverfolgung u. a. wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen bezweckten.

15

Am 5. Mai 2017 wurde der Betroffene in Irland aufgrund dieser EuHb sistiert und dem vorlegenden Gericht, dem High Court (Hoher Gerichtshof, Irland), vorgeführt. Er teilte diesem Gericht mit, dass er seiner Übergabe an die polnischen Justizbehörden widerspreche, und wurde bis zu einer Entscheidung über seine Übergabe an diese Behörden in Haft genommen.

16

Der Betroffene begründete seine Haltung u. a. damit, dass er durch eine Übergabe der echten Gefahr einer gegen Art. 6 EMRK verstoßenden eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt würde. Hierzu gab er insbesondere an, dass ihm durch die jüngsten gesetzgeberischen Reformen des Justizsystems in der Republik Polen sein Recht auf ein faires Verfahren genommen werde. Diese Reformen beeinträchtigten die Grundlage gegenseitigen Vertrauens zwischen der den Europäischen Haftbefehl ausstellenden und der ihn vollstreckenden Behörde von Grund auf, was das Funktionieren des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls in Frage stelle.

17

Der Betroffene stützt sich namentlich auf den Begründeten Vorschlag der Kommission vom 20. Dezember 2017 nach Art. 7 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (COM[2017] 835 final) (im Folgenden: Begründeter Vorschlag) und auf die darin in Bezug genommenen Dokumente.

18

In dem Begründeten Vorschlag stellt die Kommission zunächst den Kontext und die Historie der gesetzgeberischen Reformen im Einzelnen dar. Sodann spricht sie zwei Punkte an, die besonderen Bedenken begegnen, nämlich zum einen das Fehlen einer unabhängigen und legitimen verfassungsgerichtlichen Kontrolle und zum anderen die Gefährdung der Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Schließlich ersucht sie den Rat, festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch die Republik Polen besteht, und die insoweit gebotenen Empfehlungen an diesen Mitgliedstaat zu richten.

19

Der Begründete Vorschlag greift auch die Feststellungen der Kommission für Demokratie durch Recht des Europarats zur Situation in der Republik Polen und zu den Auswirkungen der jüngsten gesetzgeberischen Reformen auf das Justizsystem dieses Mitgliedstaats auf.

20

Schließlich werden in dem Begründeten Vorschlag die ernsten Bedenken festgehalten, die in dieser Hinsicht vor seiner Annahme von mehreren internationalen und europäischen Organen und Einrichtungen wie dem Menschenrechtsausschuss der Organisation der Vereinten Nationen, dem Europäischen Rat, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Netz der Räte für das Justizwesen sowie auf nationaler Ebene vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen), vom Rzecznik Praw Obywatelskich (Bürgerbeauftragter, Polen), vom Krajowa Rada Sądownictwa (Landesrat für das Gerichtswesen, Polen) und von den Berufsverbänden der Richter und Rechtsanwälte geäußert worden waren.

21

Auf der Grundlage der in dem Begründeten Vorschlag enthaltenen Informationen und der Feststellungen der Kommission für Demokratie durch Recht des Europarats zur Situation in der Republik Polen und zu den Auswirkungen der jüngsten gesetzgeberischen Reformen auf das Justizsystem dieses Mitgliedstaats gelangt das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis, dass die gesetzgeberischen Reformen in der Republik Polen seit dem Jahr 2015, die insbesondere das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), den Landesrat für das Gerichtswesen, die ordentlichen Gerichte, die Staatliche Hochschule für Richter und die Staatsanwaltschaft beträfen, in ihrem Zusammenwirken die Rechtsstaatlichkeit in diesem Mitgliedstaat beschädigt hätten. Das vorlegende Gericht stützt dieses Ergebnis auf die Feststellung von Entwicklungen, die von ihm als besonders bedeutsam angesehen werden, wie z. B.

die Änderungen der verfassungsmäßigen Rolle des Landesrats für das Gerichtswesen bei der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz in Verbindung mit den rechtswidrigen Ernennungen an das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) durch die polnische Regierung und deren Weigerung, bestimmte Entscheidungen zu veröffentlichen;

den Umstand, dass der Justizminister nunmehr auch Generalstaatsanwalt sei, bei der Strafverfolgung eine aktive Rolle einnehmen könne und disziplinarischer Vorgesetzter der Gerichtspräsidenten sei, was eine abschreckende Wirkung auf diese und damit Konsequenzen für die Rechtspflege haben könne;

den Umstand, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) von Zwangspensionierungen und Neuernennungen berührt sei und dass der Landesrat für das Gerichtswesen in der neuen Zusammensetzung ganz überwiegend politisch besetzt sei, und

den Umstand, dass Integrität und Wirksamkeit des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) stark beeinträchtigt worden seien und die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in Polen nicht gewährleistet sei, was allein schon Auswirkungen auf das gesamte System der Strafgerichtsbarkeit haben müsse.

22

Unter diesen Umständen ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass für den Betroffenen eine echte Gefahr bestehe, während seines Verfahrens im Ausstellungsmitgliedstaat Opfer von Willkür zu werden, da die „weitreichenden und unkontrollierten“ Befugnisse der Justiz in der Republik Polen mit Befugnissen in einem demokratischen Rechtsstaat nicht in Einklang stünden. Somit würde die Übergabe des Betroffenen zu einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 6 EMRK führen und müsste daher nach irischem Recht und gemäß Art. 1 Abs. 3 in Verbindung mit dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 abgelehnt werden.

23

Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass der Gerichtshof im Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), im Zusammenhang mit einer möglicherweise zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führenden Übergabe entschieden habe, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie systemische oder allgemeine Mängel in den Schutzmechanismen des Ausstellungsmitgliedstaats feststelle, konkret und genau prüfen müsse, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, dass die betroffene Person der echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein werde. Der Gerichtshof habe in jenem Urteil auch ein zweistufiges Verfahren entwickelt, das die vollstreckende Justizbehörde unter solchen Umständen zu befolgen habe. Zuerst müsse sie das Vorhandensein allgemeiner oder systemischer Mängel in den Schutzmechanismen des Ausstellungsmitgliedstaats feststellen. Dann müsse sie die Justizbehörde dieses Mitgliedstaats um alle notwendigen zusätzlichen Informationen über die Schutzmechanismen für die betroffene Person ersuchen.

24

Das vorlegende Gericht fragt sich nun aber, ob in dem Fall, dass nach den Feststellungen der vollstreckenden Justizbehörde der in Art. 2 EUV verankerte gemeinsame Wert der Rechtsstaatlichkeit vom Ausstellungsmitgliedstaat verletzt worden ist und die systemische Verletzung der Rechtsstaatlichkeit ihrem Wesen nach einen grundlegenden Mangel des Justizsystems darstellt, das Erfordernis, gemäß dem Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), konkret und genau zu prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person der Gefahr einer Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren, wie es in Art. 6 EMRK niedergelegt ist, ausgesetzt sein wird, noch gilt oder ob unter solchen Umständen ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass eine ausstellende Behörde in Anbetracht des systemischen Charakters der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit niemals eine konkrete Garantie für ein faires Verfahren für die betroffene Person abgeben könnte, so dass die vollstreckende Justizbehörde nicht zu der Feststellung gehalten sein kann, dass solche Gründe vorliegen.

25

Unter diesen Umständen hat der High Court (Hoher Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zum Eilverfahren

26

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

27

Es hat diesen Antrag insbesondere darauf gestützt, dass dem Betroffenen derzeit bis zu der Entscheidung über seine Übergabe an die polnischen Behörden seine Freiheit entzogen sei und dass es für diese Entscheidung auf die Beantwortung der Vorlagefragen ankomme.

28

Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 betrifft, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

29

Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand zu berücksichtigen, dass dem Betroffenen derzeit seine Freiheit entzogen ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt. Ferner ist bei der Beurteilung der Situation des Betroffenen auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags abzustellen, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen (Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Im vorliegenden Fall steht zum einen fest, dass der Betroffene zu diesem Zeitpunkt inhaftiert war. Zum anderen hängt seine weitere Inhaftierung vom Ausgang des Ausgangsverfahrens ab, da seine Inhaftierung nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts im Rahmen der Vollstreckung der EuHb angeordnet wurde.

31

Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 12. April 2018 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

32

Überdies ist entschieden worden, die vorliegende Rechtssache an den Gerichtshof zu verweisen, damit sie der Großen Kammer zugewiesen wird.

Zu den Vorlagefragen

33

Eingangs ist festzustellen, dass sich aus den Gründen der Vorlageentscheidung und aus der Bezugnahme auf das Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), im Wortlaut der ersten Frage selbst ergibt, dass die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen die Voraussetzungen betreffen, unter denen die vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 davon absehen kann, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, weil im Fall einer Übergabe der gesuchten Person an die ausstellende Justizbehörde die Gefahr besteht, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht, wie es in Art. 6 Abs. 1 EMRK, dem, wie Rn. 5 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht, niedergelegt ist, verletzt wird.

34

Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen beiden zusammen zu prüfenden Fragen im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, zu entscheiden hat, wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, konkret und genau prüfen muss, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Bejahendenfalls ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um nähere Angaben zu den Bedingungen, denen eine solche Prüfung genügen muss.

35

Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist daran zu erinnern, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung), haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Bei der Durchführung des Unionsrechts können die Mitgliedstaaten somit unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 192).

38

Aus dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt sich, dass der Europäische Haftbefehl im Sinne dieses Rahmenbeschlusses im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung darstellt.

39

Wie sich insbesondere aus Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie den Erwägungsgründen 5 und 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt, soll mit diesem das auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhende multilaterale Auslieferungssystem durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung ersetzt werden (Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist daher darauf gerichtet, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (Urteil vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Im Regelungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584 kommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich namentlich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses ergibt, einen „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit im strafrechtlichen Bereich bildet, in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zur Anwendung, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen. Die vollstreckenden Justizbehörden können also die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss 2002/584 abschließend aufgezählten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung verweigern, und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls kann nur an eine der Bedingungen geknüpft werden, die in Art. 5 des Rahmenbeschlusses erschöpfend aufgeführt sind. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 49 und 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

42

So nennt der Rahmenbeschluss 2002/584 ausdrücklich die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3) oder abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a), sowie die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien (Art. 5) (vgl. Urteil vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 51).

43

Gleichwohl sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof anerkannt, dass die vollstreckende Justizbehörde unter bestimmten Umständen das mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 eingerichtete Übergabeverfahren beenden kann, wenn die Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person im Sinne des Art. 4 der Charta führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 104).

45

Dafür stützte er sich zum einen auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, nach dem dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in den Art. 2 und 6 EUV niedergelegt sind, zu achten, und zum anderen auf den absoluten Charakter des durch Art. 4 der Charta verbürgten Grundrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 83 und 85).

46

Im vorliegenden Fall hat der Betroffene unter Berufung auf den Begründeten Vorschlag und die darin in Bezug genommenen Dokumente seiner Übergabe an die polnischen Justizbehörden widersprochen und insbesondere geltend gemacht, dass er durch eine Übergabe der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt würde, weil es den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats infolge der Umsetzung der jüngsten gesetzgeberischen Reformen des Justizsystems in diesem Mitgliedstaat an Unabhängigkeit fehle.

47

Somit ist vor allem zu prüfen, ob die vollstreckende Justizbehörde – wie bei der echten Gefahr einer Verletzung von Art. 4 der Charta – bei einer echten Gefahr der Verletzung des Grundrechts der betroffenen Person auf ein unabhängiges Gericht und damit ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren im Sinne des Art. 47 Abs. 2 der Charta ausnahmsweise, auf der Grundlage des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, davon absehen kann, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten.

48

Insoweit ist zu betonen, dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehört, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Werts der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt.

49

Die Union ist nämlich eine Rechtsunion, in der den Einzelnen das Recht zusteht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung, mit der eine Handlung der Union auf sie angewandt wird, gerichtlich anzufechten (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Gemäß Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, ist es Sache der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den Schutz der Rechte, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen, zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, ist einem Rechtsstaat inhärent (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Deshalb hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems sind, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewähren (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 37).

53

Zur Gewährleistung dieses Schutzes ist aber die Wahrung der Unabhängigkeit dieser Einrichtungen von grundlegender Bedeutung, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 41).

54

Die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte ist insbesondere für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit, das durch den in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens verkörpert wird, von grundlegender Bedeutung, da nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs dieser Mechanismus nur von einer mit der Anwendung des Unionsrechts betrauten Einrichtung, die u. a. dieses Kriterium der Unabhängigkeit erfüllt, in Gang gesetzt werden kann (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 43).

55

Da der Rahmenbeschluss 2002/584, wie oben in Rn. 40 ausgeführt, die Einrichtung eines vereinfachten Systems der unmittelbaren Übergabe zwischen „Justizbehörden“ bezweckt, um den freien Verkehr strafrechtlicher justizieller Entscheidungen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sicherzustellen, ist die Wahrung der Unabhängigkeit solcher Behörden auch im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls von größter Wichtigkeit.

56

Der Rahmenbeschluss 2002/584 beruht nämlich auf dem Grundsatz, dass für die den Europäischen Haftbefehl betreffenden Entscheidungen alle Garantien gelten, die justiziellen Entscheidungen eigen sind, insbesondere diejenigen, die sich aus den Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben, auf die Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses abstellt. Dies bedeutet, dass nicht nur die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, sondern auch die Entscheidung über seine Ausstellung von einer Justizbehörde zu treffen ist, die den Anforderungen, die mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einhergehen – u. a. der Unabhängigkeitsgarantie –, genügt, damit das gesamte im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehene Verfahren der Übergabe zwischen Mitgliedstaaten unter justizieller Kontrolle stattfindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57

Im Übrigen ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Verfahren der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder auch im Rahmen strafrechtlicher Hauptverfahren, die nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584 und des Unionsrechts fallen, ebenso verpflichtet sind, die in der EMRK oder in ihrem nationalen Recht verankerten Grundrechte zu achten, einschließlich des Rechts auf ein faires Verfahren und der daraus folgenden Garantien (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2013, F, C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 48).

58

Das hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht, gründet sich somit auf die Prämisse, dass die Strafgerichte der übrigen Mitgliedstaaten, die nach der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls das Verfahren der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung sowie das strafrechtliche Hauptverfahren zu führen haben werden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen, zu denen u. a. gehört, dass sie unabhängig und unparteiisch sind.

59

Somit ist davon auszugehen, dass es bei Bestehen einer echten Gefahr, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, im Fall ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein kann, ausnahmsweise, auf der Grundlage des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, davon abzusehen, dem betreffenden Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten.

60

So muss, wenn wie im Ausgangsverfahren die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde unter Berufung auf das Vorhandensein systemischer oder zumindest allgemeiner Mängel widerspricht, die ihrer Ansicht nach geeignet sind, die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat zu beeinträchtigen und damit den Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren anzutasten, die vollstreckende Justizbehörde bei ihrer Entscheidung über die Übergabe dieser Person an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats beurteilen, ob eine echte Gefahr besteht, dass die betreffende Person eine Verletzung des genannten Grundrechts erleidet (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88).

61

Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde in einem ersten Schritt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben über das Funktionieren des Justizsystems im Ausstellungsmitgliedstaat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89) beurteilen, ob eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren gegeben ist, die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Staat zusammenhängt. Die Informationen in einem begründeten Vorschlag, der jüngst von der Kommission auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 1 EUV an den Rat gerichtet wurde, stellen dabei besonders relevante Angaben dar.

62

Als Maßstab für die besagte Beurteilung dient der Schutzstandard des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Das zum Wesensgehalt dieses Rechts gehörende Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit ist im Auftrag des Richters angelegt und umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt setzt voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Diese unerlässliche Freiheit von derartigen äußeren Einflüssen erfordert bestimmte Garantien, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen, wie z. B. die Unabsetzbarkeit (Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Auch eine der Bedeutung der ausgeübten Funktionen entsprechende Vergütung ist eine wesentliche Garantie für die richterliche Unabhängigkeit (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 45).

65

Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen. Nach der Rechtsprechung ist die Voraussetzung der Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtung insbesondere nur dann erfüllt, wenn die Fälle, in denen die Mitglieder der Einrichtung abberufen werden können, durch ausdrückliche Gesetzesbestimmungen festgelegt sind (Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C‑222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67

Das Unabhängigkeitserfordernis verlangt auch, dass die Disziplinarregelung für diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren.

68

Stellt die vollstreckende Justizbehörde am Maßstab der vorstehend in den Rn. 62 bis 67 dargelegten Anforderungen fest, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr besteht, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird, weil die Justiz dieses Mitgliedstaats systemische oder allgemeine Mängel aufweist, so dass die Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats gefährdet sein kann, muss sie in einem zweiten Schritt konkret und genau prüfen, ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird (vgl. entsprechend, zu Art. 4 der Charta, Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 92 und 94).

69

Diese konkrete Prüfung ist auch dann geboten, wenn wie im vorliegenden Fall zum einen die Kommission in Bezug auf den Ausstellungsmitgliedstaat einen begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommen hat, damit der Rat feststellt, dass namentlich wegen Beeinträchtigungen der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte wie desjenigen der Rechtsstaatlichkeit durch diesen Mitgliedstaat besteht, und zum anderen die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht ist, dass sie auf der Grundlage insbesondere eines solchen Vorschlags über Anhaltspunkte dafür verfüge, dass es im Hinblick auf diese Werte auf Ebene der Justiz des betreffenden Mitgliedstaats systemische Mängel gebe.

70

Aus dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 geht nämlich hervor, dass die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nur ausgesetzt werden darf, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Europäischen Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 3 EUV festgestellt wird.

71

Somit ergibt sich schon aus dem Wortlaut dieses Erwägungsgrundes, dass es dem Europäischen Rat zukommt, eine Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze, darunter desjenigen der Rechtsstaatlichkeit, im Ausstellungsmitgliedstaat im Hinblick auf die Aussetzung der Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gegenüber diesem Mitgliedstaat festzustellen.

72

Deshalb müsste die vollstreckende Justizbehörde nur dann, wenn der Europäische Rat unter den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 EUV eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Grundsätze wie derjenigen, die der Rechtsstaatlichkeit inhärent sind, im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt hat und die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 gegenüber diesem Mitgliedstaat daraufhin vom Rat ausgesetzt worden ist, die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen, die von dem besagten Mitgliedstaat ausgestellt worden sind, ohne Weiteres ablehnen, ohne in irgendeiner Weise konkret prüfen zu müssen, ob die betroffene Person der echten Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt angetastet wird.

73

Solange der Europäische Rat keinen entsprechenden Beschluss erlassen hat, kann also die vollstreckende Justizbehörde einem Europäischen Haftbefehl, der von einem Mitgliedstaat, in Bezug auf den ein begründeter Vorschlag im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EUV vorliegt, ausgestellt wurde, auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nur unter außergewöhnlichen Umständen keine Folge leisten, wenn sie nach einer konkreten und genauen Prüfung des Einzelfalls feststellt, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die dieser Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.

74

Im Rahmen einer solchen Prüfung muss die vollstreckende Justizbehörde u. a. untersuchen, inwieweit sich die systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats, von denen die ihr vorliegenden Anhaltspunkte zeugen, auf der Ebene der für die Verfahren gegen die gesuchte Person zuständigen Gerichte dieses Staates auswirken können.

75

Ergibt diese Untersuchung, dass die besagten Mängel diese Gerichte berühren können, muss die vollstreckende Justizbehörde noch im Licht der von der betroffenen Person geäußerten konkreten Bedenken und der von dieser gegebenenfalls gelieferten Informationen beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.

76

Außerdem muss die vollstreckende Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für notwendig hält, um das Bestehen einer solchen Gefahr zu beurteilen.

77

Im Rahmen eines solchen Dialogs zwischen der vollstreckenden und der ausstellenden Justizbehörde kann die Letztgenannte der Erstgenannten gegebenenfalls jeden objektiven Gesichtspunkt bezüglich etwaiger die Bedingungen des Schutzes der Garantie richterlicher Unabhängigkeit im Ausstellungsmitgliedstaat betreffender Änderungen mitteilen, der geeignet ist, das Bestehen der besagten Gefahr für die betroffene Person auszuschließen.

78

Sollte sich die vollstreckende Justizbehörde durch die Informationen, die ihr die ausstellende Justizbehörde mitgeteilt hat, nachdem diese erforderlichenfalls auf die Unterstützung der oder einer der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zurückgegriffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 97), nicht veranlasst sehen, das Bestehen einer echten Gefahr auszuschließen, dass die betroffene Person in diesem Mitgliedstaat eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, muss sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.

79

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, zu entscheiden hat, wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, und unter Berücksichtigung der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des genannten Rahmenbeschlusses mitgeteilt hat, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.

Kosten

80

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, zu entscheiden hat, wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Europäischen Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, und unter Berücksichtigung der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung mitgeteilt hat, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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