Europäischer Gerichtshof Urteil, 14. Sept. 2017 - C-18/16

ECLI:ECLI:EU:C:2017:680
bei uns veröffentlicht am14.09.2017

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

14. September 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 9 – Berechtigung zum Verbleib in einem Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b – Haft – Überprüfung der Identität oder Staatsangehörigkeit – Sicherung der Beweise, auf die sich der Antrag auf internationalen Schutz stützt – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 und 52 – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑18/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande) mit Entscheidung vom 13. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Januar 2016, in dem Verfahren

K.

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter E. Juhász und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,

der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch E. Creedon, L. Williams und A. Joyce als Bevollmächtigte,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch T. Lukácsi und R. van de Westelaken als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Chavrier F. Naert und K. Pleśniak als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, H. Krämer und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 4. Mai 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn K. und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) wegen der Inhaftnahme von Herrn K.

Rechtlicher Rahmen

EMRK

3

Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt in Abs. 1:

„Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

f)

rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.“

Unionsrecht

Charta

4

Art. 6 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt:

„Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“

5

In Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta heißt es:

„(1)   Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

(3)   Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

(7)   Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“

Richtlinie 2011/95/EU

6

In Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2)   Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.

…“

Richtlinie 2013/32/EU

7

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist;

p)

‚Verbleib im Mitgliedstaat‘ den Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird;

…“

8

Art. 9 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.“

9

Art. 13 („Verpflichtungen der Antragsteller“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten verpflichten die Antragsteller, mit den zuständigen Behörden zur Feststellung ihrer Identität und anderer in Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 2011/95/EU genannter Angaben zusammenzuarbeiten. …“

Richtlinie 2013/33

10

In den Erwägungsgründen 2, 12, 15, 17, 20 und 35 der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„(2)

Eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen. …

(12)

Einheitliche Bedingungen für die Aufnahme von Antragstellern sollten dazu beitragen, die auf unterschiedliche Aufnahmevorschriften zurückzuführende Sekundärmigration von Antragstellern einzudämmen.

(15)

Die Inhaftnahme von Antragstellern sollte im Einklang mit dem Grundsatz erfolgen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht, insbesondere sollte die Inhaftnahme im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und unter Beachtung von Artikel 31 des [am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), ergänzt durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967] erfolgen. Antragsteller dürfen nur in den in der Richtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme in Haft genommen werden. Befindet sich ein Antragsteller in Haft, sollte er effektiven Zugang zu den erforderlichen Verfahrensgarantien haben und beispielsweise zur Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer nationalen Justizbehörde berechtigt sein.

(17)

Die in dieser Richtlinie aufgeführten Gründe für die Haft lassen andere Haftgründe – einschließlich der Haftgründe im Rahmen eines Strafverfahrens – unberührt, die nach dem einzelstaatlichen Recht unabhängig vom Antrag eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen auf internationalen Schutz anwendbar sind.

(20)

Die Inhaftnahme eines Antragstellers sollte lediglich als letztes Mittel eingesetzt werden und darf erst zur Anwendung kommen, nachdem alle Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen sorgfältig darauf geprüft worden sind, ob sie besser geeignet sind, die körperliche und geistige Unversehrtheit des Antragstellers sicherzustellen. Alle Alternativen zur Haft müssen mit den grundlegenden Menschenrechten der Antragsteller in Einklang stehen.

(35)

Diese Richtlinie steht in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden.“

11

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)

‚Antragsteller‘, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

h)

‚Haft‘ die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat;

…“

12

In Art. 8 („Haft“) der Richtlinie heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie [2013/32] ist.

(2)   In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)   Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)

um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)

um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

e)

wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist,

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

(4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.“

13

In Art. 9 („Garantien für in Haft befindliche Antragsteller“) der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„(1)   Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.

Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft.

(2)   Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.

(3)   Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist.

Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.

(4)   In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen.

(5)   Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten.

…“

Niederländisches Recht

14

Art. 8 der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz von 2000, im Folgenden: Ausländergesetz) bestimmt:

„Ein Ausländer hält sich nur dann rechtmäßig in den Niederlanden auf,

f)

wenn in Erwartung der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung [einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] die Abschiebung des Antragstellers nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung unterbleiben muss, bis über den Antrag entschieden wurde.

h)

wenn in Erwartung der Entscheidung über einen Widerspruch oder eine Klage die Abschiebung des Antragstellers nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung unterbleiben muss, bis über den Widerspruch oder die Klage entschieden wurde.

…“

15

In Art. 28 des Ausländergesetzes heißt es:

„Der Minister ist befugt,

dem Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis stattzugeben.

…“

16

Art. 59b des Ausländergesetzes sieht vor:

„(1)   Der Ausländer, dessen Aufenthalt aufgrund von Art. 8 Buchst. f … rechtmäßig ist, soweit dies einen Antrag auf Erteilung einer [befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] betrifft, kann von dem Minister in Haft genommen werden, wenn

a)

die Inhaftnahme erforderlich ist, um die Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers festzustellen;

b)

die Inhaftnahme erforderlich ist, um Beweise zu sichern, die für die Beurteilung eines Antrags auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis im Sinne von Art. 28 benötigt werden, insbesondere wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Zugriff entziehen wird;

(2)   Die Haftdauer beträgt in den Fällen von Abs. 1 Buchst. a, b oder c höchstens vier Wochen, es sei denn, dass Art. 39 des Ausländergesetzes zur Anwendung kommt. In diesem Fall beträgt die Haftdauer höchstens sechs Wochen.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

17

Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein Drittstaatsangehöriger, kam am 30. November 2015 mit einem Flug aus Wien (Österreich) am Flughafen Amsterdam Schiphol (Niederlande) an. Er hatte vor, am selben Tag nach Edinburgh (Vereinigtes Königreich) weiterzufliegen.

18

Bei der Ausweiskontrolle vor dem Boarding für den Flug nach Edinburgh geriet er in Verdacht, einen falschen Pass zu benutzen, und wurde deshalb in Untersuchungshaft genommen.

19

Am 15. Dezember 2015 erklärte der Strafrichter die Verfolgung der Straftat des Klägers des Ausgangsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft für unzulässig. Durch eine Anordnung der „sofortigen Freilassung“ vom 16. Dezember 2015 wurde seine Freilassung angeordnet.

20

Am 17. Dezember 2015 stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens einen Asylantrag. Durch Beschluss vom selben Tag wurde er gemäß dem zur Umsetzung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 erlassenen Art. 59b Abs. 1 Buchst. a und b des Ausländergesetzes inhaftiert. Der Beschluss wurde damit begründet, dass diese Maßnahme erforderlich sei, um die Identität oder Staatsangehörigkeit des Klägers festzustellen und um bei Fluchtgefahr Beweise zu sichern, die für die Beurteilung seines Antrags benötigt würden.

21

Am 17. Dezember 2015 erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens Klage gegen den Beschluss zur Anordnung seiner Inhaftierung und beantragte eine Entschädigung.

22

Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung beim vorlegenden Gericht am 28. Dezember 2015 war K. einmal zu seinem Asylantrag gehört worden, ohne dass darüber entschieden worden war. Somit war zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidung ihm gegenüber noch keine Rückkehrentscheidung erlassen worden.

23

K. macht im Ausgangsverfahren geltend, dass Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 gegen Art. 5 EMRK und daher gegen Art. 6 der Charta verstoße.

24

Das vorlegende Gericht verweist auf die Ähnlichkeit zwischen dem Ausgangsverfahren und der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84), ergangen ist, in der es um die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 ging.

25

Das vorlegende Gericht macht sich die Erwägungen sinngemäß zu eigen, die der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) in der Rechtssache angestellt hat, die zu jenem Urteil geführt hat, und möchte im Ausgangsverfahren wissen, ob Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta gültig ist.

26

Wie der Raad van State (Staatsrat) führt die Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande) zum einen aus, dass nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) die in Art. 6 vorgesehenen Rechte denen entsprächen, die durch Art. 5 EMRK gewährleistet seien, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hätten. Daraus folge, dass die Einschränkungen, die legitim an diesen Rechten vorgenommen werden könnten, nicht über die Einschränkungen hinausgehen dürften, die nach dem Wortlaut des Art. 5 EMRK zulässig seien.

27

Das vorlegende Gericht verweist zum anderen auf Rn. 29 des Urteils des EGMR vom 22. September 2015, Nabil u. a./Ungarn (CE:ECHR:2015:0922JUD006211612), wonach eine auf Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Halbsatz EMRK gestützte Freiheitsentziehung nur solange gerechtfertigt sei, wie ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange sei. Wenn ein solches Verfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben werde, sei die Inhaftierung nicht mehr durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK gerechtfertigt. Im Ausgangsverfahren sei gegenwärtig jedoch kein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange.

28

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta gültig,

1.

wenn ein Drittstaatsangehöriger gemäß Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b dieser Richtlinie in Haft genommen wurde und nach Art. 9 der Richtlinie 2013/32 das Recht hat, in einem Mitgliedstaat zu verbleiben, bis erstinstanzlich über seinen Asylantrag entschieden wurde, und

2.

angesichts der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, wonach die Einschränkungen, die legitim an den Rechten aus Art. 6 der Charta vorgenommen werden können, nicht über die Einschränkungen hinausgehen dürfen, die im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK zulässig sind, und der vom EGMR u. a. im Urteil vom 22. September 2015, Nabil u. a./Ungarn (CE:ECHR:2015:0922JUD006211612), vorgenommenen Auslegung dieser Bestimmung, nach der die Inhaftnahme eines Asylbewerbers gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK verstößt, wenn sie nicht im Hinblick auf die Abschiebung vorgenommen wird?

29

Am 1. Februar 2016 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es mit Urteil vom 25. Januar 2016 der Klage des Klägers des Ausgangsverfahrens gegen die damals gültige Haftmaßnahme stattgegeben und die Aufhebung der Maßnahme ab dem zweiten Datum angeordnet habe.

Verfahren vor dem Gerichtshof

30

Auf Antrag des vorlegenden Gerichts hat die hierfür bestimmte Kammer die Notwendigkeit geprüft, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Am 1. Februar 2016 hat die Kammer nach Anhörung der Generalanwältin beschlossen, diesem Antrag nicht stattzugeben.

Zur Vorlagefrage

31

Mit seiner Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta zu prüfen.

32

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die durch die EMRK anerkannten Grundrechte, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, zwar als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden, doch stellt die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, sowie vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung). Somit ist die Prüfung der Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Juli 2016, Ministerrat, C‑543/14, EU:C:2016:605, Rn. 23).

33

Insoweit ist festzustellen, dass Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 es erlaubt, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in Haft zu nehmen, um ihre Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen oder um Beweise zu sichern, auf die sich ihr Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr der Person besteht. Durch die Gestattung einer solchen Maßnahme sieht diese Bestimmung eine Einschränkung der Ausübung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit vor.

34

Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss aber jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und ihren Wesensgehalt achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte und Freiheiten nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

35

Hierzu ist festzustellen, dass die sich aus Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 ergebende Einschränkung der Ausübung des Rechts auf Freiheit von einem Rechtsetzungsakt der Union vorgesehen ist und den Wesensgehalt des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit nicht berührt. Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie stellt nämlich die Gewährleistung dieses Rechts nicht in Frage und verleiht, wie aus seinem Wortlaut und aus dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, den Mitgliedstaaten nur aufgrund eines individuellen Verhaltens eines Antragstellers und in den von dieser Bestimmung erfassten Ausnahmefällen, für die überdies alle in den Art. 8 und 9 der Richtlinie enthaltenen Voraussetzungen gelten, die Befugnis, ihn in Haft zu nehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 51 und 52).

36

Wie die Generalanwältin in den Nrn. 56 und 58 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus Art. 78 AEUV, dass das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf der Anwendung gemeinsamer Kriterien der Mitgliedstaaten beruht, ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel ist, das von der Union anerkannt wird. Dieses System trägt nach dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 zur Erreichung des Ziels der Union bei, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen. Eine auf die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie genannten Gründe gestützte Maßnahme entspricht jedoch dem Ziel, das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu gewährleisten, da sich mit ihr die Personen identifizieren lassen, die internationalen Schutz beantragen, und feststellen lässt, ob sie die Voraussetzungen erfüllen, um diesen Schutz beanspruchen zu können, um – sollte dies nicht der Fall sein – zu verhindern, dass sie unerlaubt in das Unionsgebiet einreisen und sich dort unerlaubt aufhalten.

37

Zur Verhältnismäßigkeit des festgestellten Eingriffs ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei die durch sie verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs ist zu berücksichtigen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 verpflichtet sind, mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, insbesondere zur Feststellung ihrer Identität, ihrer Staatsangehörigkeit und der Gründe für ihren Antrag, was voraussetzt, dass die geforderten Nachweise und gegebenenfalls die verlangten Erklärungen und Auskünfte vorgelegt werden.

39

Daher wird durch die Inhaftnahme eines Antragstellers zur Feststellung oder Überprüfung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit oder zur Sicherung der Beweise, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht, ermöglicht, dass der Antragsteller den nationalen Behörden weiterhin zur Verfügung steht, insbesondere um ihn anzuhören, und infolgedessen dazu beizutragen, dass etwaige Sekundärmigration von Antragstellern verhindert wird, wie es im zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 heißt und mit der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) angestrebt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. März 2016, Mirza, C‑695/15 PPU, EU:C:2016:188, Rn. 52). Folglich ist diese Maßnahme ihrer Art nach geeignet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu gewährleisten, und kann somit zur Erreichung des mit Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b dieser Richtlinie verfolgten Ziels beitragen, wie es in Rn. 36 des vorliegenden Urteils bestimmt worden ist.

40

Zur Erforderlichkeit der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung verliehenen Befugnis, einen Antragsteller in Haft zu nehmen, ist hervorzuheben, dass angesichts der Bedeutung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit und der Schwere des in einer solchen Inhaftnahme bestehenden Eingriffs in dieses Recht die Einschränkungen seiner Ausübung auf das absolut Notwendige beschränkt bleiben müssen (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Insoweit ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut und dem Kontext als auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 8 der Richtlinie 2013/33, dass diese Befugnis von der Einhaltung einer ganzen Reihe von Voraussetzungen abhängig ist, mit denen der Rückgriff auf eine solche Maßnahme eng begrenzt werden soll.

42

Erstens werden in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 die verschiedenen Gründe, aus denen eine Inhaftnahme gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt, und entspricht jeder von ihnen einem besonderen Bedürfnis und hat somit autonomen Charakter (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 59). Insoweit geht aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie hervor, dass ein Antragsteller nur dann einer solchen Maßnahme unterworfen werden kann, wenn er seine Identität oder Staatsangehörigkeit nicht mitgeteilt hat oder Identitätsdokumente zum Nachweis hiervon nicht übermittelt hat, obwohl er zur Zusammenarbeit verpflichtet ist. Desgleichen ergibt sich aus Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie, dass ein Antragsteller nur dann inhaftiert werden kann, wenn bestimmte Beweise, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt, „ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht“.

43

Ferner heißt es in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33, dass die Haftgründe im einzelstaatlichen Recht geregelt werden. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wenn die Bestimmungen einer Richtlinie ihnen einen Beurteilungsspielraum für die Festlegung der an die verschiedenen denkbaren Sachverhalte angepassten Umsetzungsmaßnahmen lassen, bei der Durchführung dieser Maßnahmen nicht nur ihr nationales Recht in einer mit der fraglichen Richtlinie konformen Weise auslegen müssen, sondern auch darauf zu achten haben, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinie stützen, die mit den Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Zweitens hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass in den übrigen Absätzen von Art. 8 der Richtlinie 2013/33 die den Mitgliedstaaten eingeräumte Befugnis zur Inhaftnahme erheblich eingeschränkt wird. So verbietet Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie den Mitgliedstaaten, eine Person allein deshalb in Haft zu nehmen, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Außerdem darf nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie eine Inhaftnahme nur in Fällen angeordnet werden, in denen dies erforderlich ist, und muss auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung erfolgen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten, wie z. B. Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 61).

45

Des Weiteren bestimmt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dass ein Antragsteller für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen wird, wie die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie genannten Gründe gegeben sind. Überdies sind nach Art. 9 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie bei der Haftanordnung wichtige das Verfahren und die gerichtliche Überprüfung betreffende Garantien zu beachten. So sind nach Art. 9 Abs. 2 und 4 der Richtlinie in der Haftanordnung die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft schriftlich anzugeben, und dem Antragsteller müssen in einer Sprache, die er versteht, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht, eine Reihe von Informationen übermittelt werden. Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie regelt, welche Modalitäten die Mitgliedstaaten für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme vorsehen müssen (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 62).

46

Drittens hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Haftgründe auf der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats über Maßnahmen zur Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern vom 16. April 2003 und auf den Richtlinien des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (HCR) über anzuwendende Kriterien und Standards betreffend die Haft von Asylsuchenden vom 26. Februar 1999 beruht, aus denen in ihrer im Jahr 2012 verabschiedeten Fassung hervorgeht, dass Haft zum einen nur in Ausnahmefällen und zum anderen nur als letztes Mittel verhängt werden darf, wenn festgestellt wurde, dass sie notwendig, angemessen und in Bezug auf einen legitimen Zweck verhältnismäßig ist (vgl. in diesem Sinne, Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 63).

47

Die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Einschränkungen der Ausübung des durch Art. 6 der Charta verliehenen Rechts stehen auch nicht außer Verhältnis zu den genannten Zielen. Insoweit ist festzustellen, dass in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie das dem Gemeinwohl dienende verfolgte Ziel – das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das es ermöglicht, den Antragstellern internationalen Schutz zu gewähren, die ihn tatsächlich benötigen, und die Anträge derjenigen abzulehnen, die die Voraussetzungen nicht erfüllen – und der durch eine Inhaftierung herbeigeführte Eingriff in das Recht auf Freiheit ausgewogen gewichtet werden.

48

Das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erfordert de facto zwar, dass die zuständigen nationalen Behörden über verlässliche Informationen bezüglich der Identität oder Staatsbürgerschaft der Person, die internationalen Schutz beantragt, und bezüglich der Beweise, auf die sich ihr Antrag stützt, verfügen, doch lässt sich mit dieser Vorschrift nicht rechtfertigen, dass Haftmaßnahmen beschlossen werden, ohne dass diese nationalen Behörden zuvor im Einzelfall geprüft haben, ob die Maßnahmen im Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen. Diese Prüfung verlangt die Vergewisserung, dass jede der in den Rn. 44 bis 46 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt ist, und insbesondere, dass die Inhaftnahme in jedem konkreten Fall nur als letztes Mittel eingesetzt wird. Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass die Inhaftierung in keinem Fall den kürzest möglichen Zeitraum überschreitet.

49

In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen hat der Unionsgesetzgeber beim Erlass von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Recht auf Freiheit des Antragstellers und den Erfordernissen hinsichtlich seiner Identifizierung bzw. der Feststellung seiner Staatsangehörigkeit oder hinsichtlich der Sicherung der Beweise, auf die sich sein Antrag stützt, gewahrt, den das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verlangt.

50

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Charta, da die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2016, JZ, C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher ist Art. 5 Abs. 1 EMRK bei der Auslegung von Art. 6 der Charta zu berücksichtigen. Beim Erlass von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 hat der Unionsgesetzgeber aber das durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK gebotene Schutzniveau nicht verkannt.

51

Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen zwar hervor, dass das vorlegende Gericht vor der Frage steht, wie sich der zweite Satzteil von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK auf Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 auswirkt, doch lässt das Ersuchen nichts erkennen, woraus sich schließen ließe, dass der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens unter Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK fiele oder inwiefern sich in der vorliegenden Rechtssache die auf das Urteil des EGMR vom 22. September 2015, Nabil u. a./Ungarn (CE:ECHR:2015:0922JUD006211612), zurückgehende Rechtsprechung auf die Beurteilung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 auswirken könnte. Die in dem Ersuchen enthaltene Information, dass gegenüber dem Kläger des Ausgangsverfahrens keine Rückkehrentscheidung erlassen worden ist, scheint vielmehr auszuschließen, dass ihm gegenüber ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil EMRK im Gange ist.

52

In Bezug auf die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f erster Satzteil EMRK enthaltene Garantie, dass die Freiheit nur bei rechtmäßiger Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise entzogen werden darf, wie sie vom EGMR ausgelegt wird, ist darauf hinzuweisen, dass sie nicht verhindert, dass gegenüber Drittstaatsangehörigen, die internationalen Schutz beantragt haben, erforderliche Haftmaßnahmen erlassen werden können, sofern eine solche Maßnahme rechtmäßig ist und unter Bedingungen durchgeführt wird, die dem Ziel des Schutzes des Einzelnen vor Willkür entsprechen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 29. Januar 2008, Saadi/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2008:0129JUD001322903, §§ 64 bis 74, und vom 26. November 2015, Mahamed Jama/Malta, CE:ECHR:2015:1126JUD001029013, §§ 136 bis 140).

53

Wie aus den Ausführungen im Rahmen der Prüfung der Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, genügt die zuerst genannte Bestimmung, deren Tragweite eng begrenzt ist, aber diesen Erfordernissen.

54

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Prüfung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 nichts ergeben hat, was die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 6 und Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta berühren könnte.

Kosten

55

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Prüfung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 6 und Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berühren könnte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 14. Sept. 2017 - C-18/16

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