Bundesgerichtshof Urteil, 12. Okt. 2023 - IX ZR 162/22

published on 17/05/2024 13:02
Bundesgerichtshof Urteil, 12. Okt. 2023 - IX ZR 162/22
ra.de-Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}

Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Submitted by

Languages
EN, DE

Principles

Amtliche Leitsätze

1. Übt der Schuldner eine vom Insolvenzverwalter freigegebene selbständige Tätigkeit tatsächlich aus, hat er die Gläubiger auch dann so zu stellen, als ob er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre, wenn er dem regulären Arbeitsmarkt wegen seines Alters, aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund besonderer berücksichtigungsfähiger Umstände nicht zur Verfügung steht oder stehen kann, sofern er aus der selbständigen Tätigkeit einen Gewinn erzielt.

2. Bei der Festlegung der Höhe des sich nach dem fiktiven Nettoeinkommen zu bestimmenden Abführungsbetrags ist bei einem Schuldner, von dem wegen seines Alters, aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund besonderer berücksichtigungsfähiger Umstände eine Erwerbstätigkeit nicht verlangt werden kann, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Schuldner überobligatorisch selbständig tätig ist.

Author’s summary

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Urteil vom 12. Oktober 2023 (Az.: IX ZR 162/22) entschieden, dass auch ein Insolvenzschuldner, der krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten müsste, aber dennoch einer selbstständigen Tätigkeit nachgeht, einen Teil seines Einkommens in die Insolvenzmasse einzahlen muss. 

Der Fall betraf einen ehemaligen Rechtsanwalt, der trotz seiner schweren Erkrankung freiberuflich als Schiedsrichter tätig war. Der Insolvenzverwalter forderte einen Teil des Honorars für die Insolvenzmasse, was das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zunächst ablehnte.

Der BGH stellte jedoch nun klar, dass der Schuldner auch bei überobligatorischer, also nicht notwendiger, selbstständiger Tätigkeit verpflichtet ist, zur Befriedigung seiner Gläubiger beizutragen. Der BGH führte aus, dass das fiktive Nettoeinkommen des Schuldners nicht mit null Euro anzusetzen sei, und dass die Höhe des Abführungsbetrags nach den Grundsätzen der Pfändungsfreigrenzen bemessen werden sollte, um den Schuldner jedoch weiterhin zu motivieren, seine Tätigkeit fortzuführen und damit zum Wohl der Gläubiger beizutragen.

Bundesgerichtshof

Urteil vom 12. Okt. 2023

Az.: IX ZR 162/22

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 3. August 2022 - unter Verwerfung der Anschlussrevision des Beklagten - aufgehoben, soweit zum Nachteil des Klägers entschieden worden ist, und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Mit Beschluss vom 15. Dezember 2015 eröffnete das Amtsgericht das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beklagten und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter. Der seit dem Jahr 2003 an einer fortschreitenden Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) leidende Beklagte stellte mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens seine bisherige Tätigkeit als Rechtsanwalt ein und gab seine Anwaltszulassung zurück. In der Folgezeit war er freiberuflich als Schiedsrichter tätig. Mit Schreiben vom 7. März 2018 gab der Kläger gegenüber dem Beklagten dessen Vermögen aus seiner selbständigen Tätigkeit frei und forderte ihn auf, nach § 295 Abs. 2 InsO Zahlungen an die Insolvenzmasse zu leisten. Trotz mehrfacher Aufforderung durch den Kläger führte der Beklagte keine Beträge ab.

Der Kläger verlangt von dem Beklagten für die Zeit von März 2018 bis November 2019 Zahlung von insgesamt 11.270,14 €. Der selbständig tätige Beklagte habe als angestellter Mediator einen monatlichen Bruttoverdienst von 2.500 € erwirtschaften können. Hieraus ergebe sich ein pfändbarer Betrag von 529,34 € monatlich im Jahr 2018 und von 543,34 € monatlich im Jahr 2019.

Der Beklagte verlangt von dem Kläger widerklagend einen Betrag von 26.180 € als Vergütung von Dienstleistungen, die er bei vier verschiedenen rechtlichen Angelegenheiten sowie der Kommunikation mit dem Kläger im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren erbracht haben will.

Das Landgericht hat Klage und Widerklage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision beschränkt auf die Klage zugelassen. Der Kläger verfolgt mit seiner Revision seine Klageforderung weiter, der Beklagte mit der Anschlussrevision seine Forderung auf Vergütung von Dienstleistungen.

 

Gründe

Die Revision hat Erfolg; sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, soweit zum Nachteil des Klägers entschieden worden ist. Die Anschlussrevision des Beklagten ist unzulässig.

I.

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung von Abführungsbeträgen. Nach § 35 Abs. 2, § 295 Abs. 2 InsO in der bis zum 30. Dezember 2020 geltenden Fassung obliege es dem Schuldner, dessen freiberufliche Tätigkeit vom Insolvenzverwalter freigegeben worden sei, ein fiktives pfändbares Einkommen, welches er nach seiner beruflichen Qualifikation in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis hätte verdienen können, an den Insolvenzverwalter abzuführen. Nach den Intentionen des Gesetzgebers habe mit dieser Regelung eine Besserstellung des selbständig tätigen Schuldners, dessen Tätigkeit vom Insolvenzverwalter freigegeben worden sei, gegenüber einem abhängig Beschäftigten vermieden werden sollen. Falls der Schuldner aufgrund seines gesundheitlichen Zustands aber tatsächlich nicht in der Lage sei, eine abhängige Beschäftigung einzugehen, folge aus der Freigabe der selbständigen Tätigkeit keine Besserstellung des selbständig tätigen Schuldners gegenüber einem abhängig Beschäftigten, weil ihm die Erzielung eines der Masse zugutekommenden Arbeitseinkommens auf dem regulären Arbeitsmarkt gerade nicht möglich sei. Die Frage, ob eine Abführungspflicht des Schuldners voraussetze, dass er tatsächlich ein Dienstverhältnis hätte eingehen können, sei bislang in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht geklärt. Sie sei auch entscheidungserheblich, weil der Kläger mit seiner Berufung die Feststellungen des Landgerichts nicht substantiiert angegriffen habe, wonach der Beklagte aufgrund seiner schweren Nervenerkrankung praktisch nicht die Möglichkeit gehabt habe, eine abhängige Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt zu finden.

Der Beklagte habe seinerseits keinen Anspruch auf Vergütung für die von ihm abgerechneten Tätigkeiten, weil er nicht nachgewiesen habe, dass zwischen ihm und dem Kläger insoweit Dienstleistungsverträge zustande gekommen seien.

II.

Zur Revision des Klägers:

1. Zutreffend ist der Ausgangspunkt des Beschwerdegerichts, dass die vom Schuldner erzielten Einkünfte nicht dem Insolvenzbeschlag unterliegen, wenn der Insolvenzverwalter - wie hier - die selbständige Tätigkeit des Schuldners aus der Insolvenzmasse freigegeben hat. Der Schuldner ist dann nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO in der gemäß Art. 103m Satz 1 EGInsO anwendbaren, bis zum 30. Dezember 2020 geltenden Fassung (fortan: InsO aF) verpflichtet, Zahlungen an den Insolvenzverwalter zu leisten, wie wenn er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre. Auf diesem Weg wird dem Befriedigungsinteresse der Gläubiger Rechnung getragen, denen kein wirtschaftlicher Nachteil aus der privatautonomen Gestaltungsfreiheit des Schuldners, auch während des Insolvenzverfahrens eine selbständige Tätigkeit auszuüben, entstehen soll.

Den Maßstab für die Höhe der nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO aF zugunsten der Insolvenzmasse abzuführenden Beträge bildet das fiktive Nettoeinkommen aus einer angemessenen abhängigen Tätigkeit und nicht der Gewinn aus der tatsächlich ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit des Schuldners. Auch nach Einführung einer Erwerbsobliegenheit für die Dauer des Insolvenzverfahrens im für das Insolvenzverfahren des Schuldners geltenden § 287b InsO mit Wirkung vom 1. Juli 2014 durch das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. Juli 2013 (BGBl. I S. 2379) verbleibt es dabei, dass der Schuldner nicht seine gesamten Einkünfte aus seiner freigegebenen selbständigen Tätigkeit an den Insolvenzverwalter abführen muss. Vielmehr ist die Abführungspflicht nach dem Maßstab des § 295 Abs. 2 InsO aF der Höhe nach beschränkt auf den pfändbaren Betrag, den er bei unselbständiger Tätigkeit erzielen würde (BGH, Beschluss vom 13. Juni 2013 - IX ZB 38/10, WM 2013, 1612 Rn. 17, 21; Urteil vom 13. März 2014 - IX ZR 43/12, WM 2014, 751 Rn. 22). Die Regelungen in § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO aF bezwecken nach den Vorstellungen des Gesetzgebers zum einen, den Schuldner zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit zu motivieren (vgl. BT-Drucks. 16/3227, S. 11). Zum anderen sollen die mit der Beurteilung des wirtschaftlichen Erfolgs und mit der Ermittlung des Gewinns aus der selbständigen Tätigkeit verbundenen Probleme ohne besonderen Verwaltungs- und Kontrollaufwand gelöst werden (BT-Drucks. 16/3227, S. 17). Diese Gesetzeszwecke haben auch nach Einführung der Erwerbsobliegenheit für die Dauer des Insolvenzverfahrens nach § 287b InsO, welche auch für den selbständig tätigen Schuldner gilt (BT-Drucks. 17/13535, S. 28; HK-InsO/Waltenberger, 11. Aufl., § 287b Rn. 2; MünchKomm-InsO/Stephan, 4. Aufl., § 287b Rn. 7), Bestand.

Im Zusammenhang mit der Versagung der Restschuldbefreiung wegen einer Verletzung der Obliegenheit nach § 295 Abs. 2 InsO aF geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass nur eine dem Schuldner mögliche abhängige Tätigkeit angemessen im Sinne des § 295 Abs. 2 InsO aF ist (BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 - IX ZB 224/09, WM 2011, 1338 Rn. 6; vom 12. Juli 2012 - IX ZB 270/11, WM 2012, 1638 Rn. 9; vom 26. Februar 2013 - IX ZB 165/11, WM 2013, 579 Rn. 7; vom 12. April 2018 - IX ZB 60/16, WM 2018, 1224 Rn. 11). Dabei kommt es auf die individuelle Situation des Schuldners an, insbesondere auf seine Ausbildung und seinen beruflichen Werdegang (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2013 - IX ZB 98/11, WM 2013, 380 Rn. 14; vgl. auch BT-Drucks. 12/2443, S. 192 f), etwaige gesundheitliche oder altersbedingte Einschränkungen (BGH, Beschluss vom 7. Mai 2009 - IX ZB 133/07, WM 2009, 1291 Rn. 4; vom 12. Juli 2012 - IX ZB 270/11, WM 2012, 1638 Rn. 9; vom 10. Oktober 2013 - IX ZB 119/12, WM 2014, 41 Rn. 13) oder sonstige Umstände, aufgrund derer der Schuldner keine abhängige Beschäftigung mehr finden kann (BGH, Beschluss vom 5. April 2006 - IX ZB 50/05, WM 2006, 1158 Rn. 12 f). Ist es dem Schuldner nicht möglich, durch eine abhängige Beschäftigung ein Einkommen zu erzielen, so verstößt er nicht gegen die Erwerbsobliegenheit und darf ihm deswegen die Restschuldbefreiung nicht versagt werden, wenn er keine Zahlungen leisten kann.

Die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn ein Schuldner, der keine abhängige Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt mehr finden kann, aus einer selbständigen Tätigkeit aber gleichwohl Gewinn erzielt, hat der Senat zuletzt wiederholt offengelassen. Dem Schuldner obliegen aber jedenfalls dann keine Zahlungen nach § 295 Abs. 2 InsO aF, wenn die ausgeübte selbständige Tätigkeit ebenfalls keine solchen Erträge hervorbringt (BGH, Beschluss vom 5. April 2006 - IX ZB 50/05, WM 2006, 1158 Rn. 13; vom 19. Juli 2012 - IX ZB 188/09, WM 2012, 1597 Rn. 16; vom 13. Juni 2013 - IX ZB 38/10, WM 2013, 1612 Rn. 12).

2. Aus dieser Rechtsprechung wird verbreitet geschlossen, dass ein Schuldner, der aufgrund seines Alters oder aus gesundheitlichen Gründen keine abhängige Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt mehr finden kann, keinerlei Abführungsbeträge nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO aF zu zahlen hat, selbst wenn er aus einer gleichwohl ausgeübten selbständigen und vom Insolvenzverwalter freigegebenen Tätigkeit Gewinne erzielt (Uhlenbruck/Sternal, InsO, 15. Aufl., § 295 Rn. 76; HambKomm-InsO/Streck, 9. Aufl., § 295a Rn. 2; MünchKomm-InsO/Stephan, 4. Aufl., § 295 Rn. 148; Schmidt/Henning, InsO, 20. Aufl., § 295a Rn. 4; Schmidt/Montag, Privatinsolvenzrecht, 2. Aufl., §§ 35, 36 Rn. 301; Trendelenburg, ZInsO 2000, 437, 439; vgl. auch Schmidt, ZVI 2014, 41, 42). Es entspreche dem gesetzgeberischen Willen, dass der selbständig tätige Schuldner nach § 295 Abs. 2 InsO aF nur dasjenige abzuführen habe, was er aus einer vergleichbaren abhängigen Beschäftigung erzielen könne. Wenn der Schuldner tatsächlich nicht in der Lage sei, eine abhängige Beschäftigung zu finden, sei das maßgebliche fiktive Nettoeinkommen aus einem angemessenen Dienstverhältnis mit 0 € anzusetzen, mit der Folge, dass er sämtliche Gewinne aus der selbständigen Tätigkeit für sich behalten könne (vgl. AG Hamburg, InsVZ 2009, 28, 29; FK-InsO/Ahrens, 10. Aufl., § 295a Rn. 41; Schmidt, ZVI 2014, 41, 42).

3. Dieser Auffassung folgt der Senat nicht.

a) Dem Schuldner obliegt es, schon während des Insolvenzverfahrens zur Befriedigung seiner Gläubiger durch seine Einkünfte beizutragen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Schuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt oder einer abhängigen Beschäftigung nachgeht. Übt der Schuldner eine abhängige Beschäftigung aus, fällt der pfändbare Teil seines Arbeitseinkommens als Neuerwerb in die Masse; geht er einer selbständigen Tätigkeit nach, werden alle Einkünfte aus dieser Tätigkeit vom Insolvenzbeschlag erfasst (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2003 - IX ZB 388/02, NZI 2003, 389, 392; vom 18. Mai 2004 - IX ZB 189/03, WM 2004, 1589; vom 26. Juni 2014 - IX ZB 87/13, WM 2014, 1432 Rn. 7). Ist die selbständige Tätigkeit vom Insolvenzverwalter gemäß § 35 Abs. 2 InsO aF freigegeben, besteht gegenüber der Masse die Abführungspflicht entsprechend § 295 Abs. 2 InsO aF. Nach der Regelung in § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO aF sollen den Gläubigern bei einer freigegebenen selbständigen Tätigkeit des Schuldners jedenfalls Mittel zur Befriedigung ihrer Forderungen in dem Umfang zufließen, wie sie ihnen bei einem abhängig beschäftigten Schuldner über § 35 Abs. 1 InsO oder bei Abgabe der Abtretungserklärung nach § 287 Abs. 2 InsO zufließen würden (vgl. Jaeger/Preuß, InsO, 2020, § 295 Rn. 32, 35 ff zur Treuhandphase). Die ständige Rechtsprechung des Senats, wonach nur eine dem Schuldner mögliche abhängige Tätigkeit angemessen im Sinne des § 295 Abs. 2 InsO aF ist, dient damit in erster Linie dazu, die Höhe der gebotenen Zahlung mit Rücksicht auf Art und Umfang der Erwerbstätigkeit näher zu bestimmen.

b) Für einen Schuldner, der dem regulären Arbeitsmarkt wegen seines Alters, aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund besonderer berücksichtigungsfähiger Umstände nicht zur Verfügung steht oder stehen kann, hat dies zur Folge, dass er nicht gegen die Erwerbsobliegenheit verstößt, wenn er keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und daher auch keine Zahlungen leisten kann. Übt der Schuldner aber gleichwohl eine selbständige Tätigkeit aus, ist er mithin überobligatorisch tätig, entspricht es der Zielrichtung des § 35 InsO, die Gläubiger an diesen Einkünften und Gewinnen teilhaben zu lassen. Ebenso wie beim abhängig beschäftigten Schuldner, dessen Einkünfte nach § 35 Abs. 1 InsO unterschiedslos in die Insolvenzmasse fallen, soweit sie die Pfändungsfreigrenze übersteigen, soll auch ein selbständig tätiger Schuldner nach der Freigabe seiner Tätigkeit nicht bessergestellt werden. Es kommt danach allein darauf an, ob die Tätigkeit tatsächlich ausgeübt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 2018 - IX ZB 60/16, WM 2018, 1224 Rn. 11; vgl. auch Jaeger/Preuß, InsO, 2020, § 295 Rn. 35 ff).

So hat der Senat bereits entschieden, dass ein Schuldner, der eine vom Insolvenzverwalter freigegebene selbständige Tätigkeit ausübt, zu Zahlungen an die Insolvenzmasse nach Maßgabe eines angemessenen abhängigen Dienstverhältnisses verpflichtet sein kann, auch wenn er bereits das Renteneintrittsalter erreicht hat und wegen seines Alters nicht mehr verpflichtet ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben (BGH, Beschluss vom 12. April 2018 - IX ZB 60/16, WM 2018, 1224 Rn. 11). Bei einem Schuldner, der aufgrund seines Gesundheitszustands keine abhängige Beschäftigung mehr finden kann, gilt nichts anderes als bei einem Schuldner, der aufgrund seines hohen Alters keine abhängige Beschäftigung mehr findet.

4. Zur klageweisen Geltendmachung seines Anspruchs nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO aF muss der Insolvenzverwalter die für seine Leistungsanträge erforderlichen Voraussetzungen, insbesondere die dem Schuldner mögliche abhängige Tätigkeit und das anzunehmende fiktive Nettoeinkommen, darlegen und beweisen (BGH, Urteil vom 13. März 2014 - IX ZR 43/12, WM 2014, 751 Rn. 24). Maßgeblich ist dabei ein fiktives Einkommen aus einem angemessenen, nicht notwendigerweise der selbständigen Tätigkeit entsprechenden Dienstverhältnis, welches dem Schuldner nach seiner Ausbildung und seinem beruflichen Werdegang möglich gewesen wäre (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2013 - IX ZB 98/11, WM 2013, 380 Rn. 21).

Diesen Anforderungen genügt der Vortrag des Klägers, der das fiktive Nettoeinkommen des Beklagten aus einer Tätigkeit als angestellter Mediator ermittelt hat. Diese Tätigkeit mag zwar mit einer selbständigen Tätigkeit als Schiedsrichter nicht in allen Punkten vergleichbar sein, sie wäre dem Beklagten aber unter Berücksichtigung seiner Ausbildung, seines beruflichen Werdegangs und der von ihm tatsächlich ausgeübten selbständigen Tätigkeit als Schiedsrichter möglich.

Bei der Festlegung der Höhe des sich nach dem fiktiven Nettoeinkommen zu bestimmenden Abführungsbetrags wird allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass der Beklagte überobligatorisch tätig ist, weil von ihm aufgrund seiner Erkrankung eine Erwerbstätigkeit nicht verlangt werden kann. So hat der Senat im Fall eines aufgrund seines Alters überobligatorisch selbständig tätigen Schuldners bei der Festlegung des dem Schuldner nach § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO, § 850i Abs. 1 ZPO zu belassenden pfandfreien Betrags den Rechtsgedanken des § 850a Nr. 1 ZPO herangezogen. Der Schuldner kann auf diesem Weg dazu motiviert werden, eine überobligatorische Tätigkeit weiter auszuüben und zum eigenen und zum Wohl der Gläubiger Einkünfte zu erzielen. Müsste der Schuldner die Vergütung für die Mehrarbeit insgesamt an seine Gläubiger weiterleiten, hätte er keinen Anreiz eine Tätigkeit auszuüben, zu der er aufgrund seines Alters oder seiner Gesundheit nicht mehr verpflichtet wäre (BGH, Beschluss vom 26. Juni 2014 - IX ZB 87/13, WM 2014, 1432 Rn. 12 f; vom 6. April 2017 - IX ZB 40/16, WM 2017, 913 Rn. 16 ff; vgl. Grote, ZInsO 2004, 1105, 1111; Heyn, InsbürO 2014, 115, 120).

5. Das Berufungsurteil hat danach keinen Bestand. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil das Berufungsgericht bislang keine Feststellungen zur Höhe des aus einem möglichen fiktiven Nettoeinkommen des Beklagten pfändbaren Betrags sowie zur Höhe des von ihm tatsächlich erzielten Gewinns getroffen hat. Den Parteien muss insoweit Gelegenheit zur Ergänzung ihres Vortrags gegeben werden.

III.

Zur Anschlussrevision des Beklagten:

1. Die Anschlussrevision des Beklagten ist nicht zulässig. Gemäß § 554 Abs. 1 ZPO kann sich der Revisionsbeklagte grundsätzlich der Revision anschließen. Die Anschlussrevision ist aber nur statthaft, wenn sie einen Lebenssachverhalt betrifft, der mit dem von der Revision erfassten Streitgegenstand in einem unmittelbaren rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang steht (BGH, Urteil vom 22. November 2007 - I ZR 74/05, BGHZ 174, 244 Rn. 38 ff).

2. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Revision betrifft den Anspruch des Klägers auf Zahlung von Abführungsbeträgen nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 295 Abs. 2 InsO aF, die Anschlussrevision des Beklagten die Forderung auf Zahlung von Vergütung oder Aufwendungsersatz für von ihm behauptete Dienstleistungen für die Masse. Ein rechtlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang zwischen diesen Streitgegenständen besteht nicht.

ra.de-Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}
{{count_recursive}} Urteilsbesprechungen zu {{shorttitle}}