Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
5 StR18/14
vom
12. März 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Computerbetruges
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
12. März 2014, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Prof. Dr. Sander,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König,
Richter Bellay
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. August 2013 wird verworfen. Der Angeklagte hat die durch sein Rechtsmittel entstandenen Kosten zu tragen.
- Von Rechts wegen -

Gründe:


1
Wegen Computerbetruges in 167 Fällen hat das Landgericht den im Tatzeitraum heranwachsenden Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten sowie einen erwachsenen, nicht revidierenden Mittäter zu einer solchen von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die auf eine Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützte, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten richtet sich primär gegen die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht. In dieser Hinsicht wird sie vom Generalbundesanwalt als begründet erachtet, bleibt jedoch insgesamt ohne Erfolg.
2
1. Nach den landgerichtlichen Feststellungen erwarb der umfassend geständige – im Tatzeitraum 20 Jahre und drei bis acht Monate alte – Angeklagte vom 8. Juli bis 20. November 2012 über das Online-Buchungsportal derD. B. AG hochwertige Fahrkarten im Gesamtwert von fast 64.000 €, die er unter Verwendung von Kreditkartendaten „bezahlte“, die den jeweiligen Berechtigten „abhanden gekommen waren“. Die auf diese Weise erlangten Online- Tickets verkaufte er in Internetportalen unter einer von ihm erstellten Legende zu erheblich geringeren Preisen an interessierte Dritte. Der Angeklagte und sein mit ihm arbeitsteilig agierender Mittäter erzielten so als von ihnen angestrebte fortlaufende Einnahmequelle Erlöse von mehr als 16.000 €, die sie hälftig teil- ten. Das Landgericht hat mehr als 2.000 weitere Fälle, die der Angeklagte ebenfalls pauschal eingeräumt hat, mit dem Ziel der Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO abgetrennt.
3
2. Die Rechtsfolgenentscheidungen halten rechtlicher Prüfung stand.
4
a) Das Landgericht hat seiner Prüfung, ob Jugendstrafrecht anzuwenden ist, zutreffende Maßstäbe zugrunde gelegt.
5
aa) Aufgrund der durch § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG gebotenen Gesamtwürdigung ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte zurzeit der Taten nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung einem Jugendlichen nicht mehr gleichstand. Dabei hat das Landgericht ausschließlich zulässige Kriterien herangezogen und keine relevanten Umstände übersehen. Es hat zutreffend auf den Tatzeitraum abgestellt, in dem der bislang unbestrafte Angeklagte „altersgemäß entwickelt gewesen ist“, „Entwicklungskräfte, jedenfalls in größerem Umfang, nicht mehr wirksam waren“ (UA S. 43; hierzu BGH, Beschluss vom 15. März 2011 – 5 StR 35/11, NStZ-RR 2011, 218) und der Angeklagte eine Ausbildung zum Bürokaufmann begonnen und „gewissenhaft verfolgt“ hat (UA S. 44). Diese rechtsfehlerfrei gewonnene Einschätzung hat das Landgericht in der Hauptverhandlung lediglich bestätigt gesehen, in der der sprachgewandte Angeklagte den „Eindruck eines intelligenten jungen Mannes hinterlassen“ hat (UA S. 44). Im Einzelnen durfte es zudem die mit einem guten mittleren Abschluss beendete Schullaufbahn, die ebenfalls im Sommer 2012 begonnene feste Beziehung sowie den Umstand berücksichtigen, dass der Angeklagte im Dezember 2011 eine Lehre zum Kfz-Mechatroniker abgebrochen hat, „weil er sich dort stark unterfordert fühlte“ (UA S. 4). Den Grund dafür, dass der bei Begehung der Tatserie „kurz vor Vollendung des 21. Lebensjahres stehende“ An- geklagte noch bei seinen Eltern wohnte, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei in wirtschaftlichen Erwägungen gesehen (UA S. 44) und darin folglich kein maßgebliches Kriterium für das Vorliegen von Reifeverzögerungen gefunden.
6
bb) Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat das Landgericht die vom Angeklagten begangenen Taten nicht als Jugendverfehlungen (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG) bewertet , also als Taten, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild oder nach den Beweggründen des Täters Merkmale jugendlicher Unreife aufweisen. In diesem Sinne für Jugendliche typisches Verhalten offenbart sich insbesondere in einem Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2007 – 5 StR 375/07, NStZ 2008, 696 mwN). Im Kontrast hierzu hat der Angeklagte jedoch über einen mehrmonatigen Zeitraum hinweg – wie das Landgericht zutreffend hervorgehoben hat – mit einem hohen Maß an Organisationsvermögen und ausgesprochen planvoll im Zusammenwirken mit seinem 32-jährigen Mittäter gehandelt.
7
b) Die daher nach Erwachsenenstrafrecht verhängten Einzelstrafen und die hieraus gebildete Gesamtstrafe sind rechtlich nicht zu beanstanden. Angesichts der Vielzahl gleichartiger Einzelfälle sowie des verursachten Gesamtschadens begegnet dabei die nicht unerhebliche Erhöhung der Einsatzstrafe keinen durchgreifenden Bedenken.
8
3. Die von der Revision erhobene Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) ist jedenfalls unbegründet. Es ist nicht erkennbar, welche beim Angeklagten bestehenden Auffälligkeiten oder welche sonstigen Besonderheiten des Falls die erfahrene Jugendkammer hätten drängen müssen, „hinsichtlich der Reifebeurteilung“ ein „medizinisch psychiatrisches und/oder psychologisches Sach- verständigengutachten“ einzuholen. Eine Besonderheit liegt insbesondere nicht in der abweichenden Beurteilung der Anwendung von Jugendstrafrecht durch die Jugendgerichtshilfe, denn diese beruhte auf keiner anderen Tatsachengrundlage.
9
Es war auch nicht unerlässlich (§§ 261, 267 Abs. 3 StPO), die bloße gegenteilige , im Ergebnis eher abseitig erscheinende Bewertung dieser Tatsachen durch die Jugendgerichtshilfe, an die das Landgericht nicht gebunden war, im Urteil näher abzuhandeln. Das Urteil weist ausdrücklich aus, dass ihr Bericht berücksichtigt worden ist (UA S. 38).
Basdorf Sander Schneider
König Bellay

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Bundesgerichtshof Urteil, 12. März 2014 - 5 StR 18/14 zitiert 5 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 154 Teileinstellung bei mehreren Taten


(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, 1. wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Bes

Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

Strafprozeßordnung - StPO | § 261 Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung


Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

Strafprozeßordnung - StPO | § 267 Urteilsgründe


(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese

Jugendgerichtsgesetz - JGG | § 105 Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende


(1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, we

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Bundesgerichtshof Beschluss, 15. März 2011 - 5 StR 35/11

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5 StR 35/11 BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS vom 15. März 2011 in der Strafsache gegen wegen Totschlags u.a. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. März 2011 beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts

Bundesgerichtshof Beschluss, 25. Sept. 2007 - 5 StR 375/07

bei uns veröffentlicht am 25.09.2007

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(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,

1.
wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder
2.
darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.

(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.

(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannten Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.

(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.

(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses.

(1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn

1.
die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder
2.
es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.

(2) § 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ist auch dann anzuwenden, wenn der Heranwachsende wegen eines Teils der Straftaten bereits rechtskräftig nach allgemeinem Strafrecht verurteilt worden ist.

(3) Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre. Handelt es sich bei der Tat um Mord und reicht das Höchstmaß nach Satz 1 wegen der besonderen Schwere der Schuld nicht aus, so ist das Höchstmaß 15 Jahre.

5 StR 35/11

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 15. März 2011
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. März 2011

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 30. Juli 2010 nach § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge, wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung, Raubes, versuchter Nötigung und Bedrohung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat im Umfang der Beschlussformel Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
1. Nach den Feststellungen der Jugendkammer zu dem mit der Einsatzstrafe von zehn Jahren Freiheitsstrafe geahndeten Tötungsdelikt stellte der Angeklagte einen Fahrradfahrer, nachdem dieser ihm stark alkoholisiert nachts auf der Landstraße auf seiner Fahrbahn entgegen gekommen war und ihn zum Ausweichen gezwungen hatte. Empört schlug und trat der Angeklagte mehrfach gegen den Kopf und insbesondere in das Gesicht des völlig wehrlosen Mannes, der zahlreiche Schädelfrakturen und schwerste Schädigungen des Hirngewebes erlitt. Infolge der Verletzungen befand sich der Geschädigte fast ein Jahr lang im Wachkoma, bevor er an den schweren Folgen verstarb.
3
2. Während der Schuldspruch frei von Rechtsfehlern zum Nachteil des Angeklagten ist, hat der Strafausspruch keinen Bestand.
4
a) Die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf den zur Tatzeit 20 Jahre und neun Monate alten Angeklagten begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
5
Für die Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG) ist maßgebend, ob in dem Täter noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1958 – 4 StR 327/58, BGHSt 12, 116, 118; Urteil vom 7. November 1988 – 1 StR 620/88, BGHSt 36, 37, 40). Die Erwägungen, mit denen die sachverständig beratene Jugendkammer dies für den Angeklagten verneint, sind ungeachtet des erheblichen tatgerichtlichen Beurteilungsspielraums in diesem Bereich angesichts der biografischen Besonderheiten des Angeklagten allein auf der Grundlage der benannten Kriterien im Ergebnis nicht nachvollziehbar, sondern erweisen sich vielmehr als lückenhaft.
6
b) Nach den Feststellungen verließ die Mutter des Angeklagten, als dieser acht Jahre alt war, die Familie ohne vorherige Ankündigung und meldete sich daraufhin jahrelang nicht mehr. Der Angeklagte litt darunter, dass sein Vater, der sich wenig um ihn und seine ein Jahr ältere Schwester kümmerte , ein „stadtbekannter Alkoholiker“ war. Mit 14 Jahren gelang es dem Angeklagten, wieder Kontakt zu seiner mit einem neuen Partner in einem Nachbarort lebenden Mutter aufzunehmen. Unterdessen verließ der Vater die Kinder, zog zu seiner Lebensgefährtin und ließ die Kinder in der Alltags- bewältigung im Wesentlichen auf sich allein gestellt. Als der Angeklagte 17 Jahre alt war, verließ auch die ältere Schwester die Wohnung. Der Angeklagte konsumiert seit seinem 14. Lebensjahr Alkohol, seit dem Abbruch seiner Ausbildung regelmäßig in größeren Mengen. Seit seinem 16. Lebensjahr beging er Straftaten, darunter auch Raubdelikte, und ist deswegen fünfmal jugendstrafrechtlich geahndet worden. Zuletzt wurde er am 20. November 2008, unmittelbar vor Begehung der verfahrensgegenständlichen Taten, vom Amtsgericht Riesa wegen zweifachen Fahrens ohne Fahrerlaubnis unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr verurteilt. Das Amtsgericht ging damals aufgrund seines „persönlichen Eindrucks“ von dem Angeklagten davon aus, dass er eher jugendtypisch wirke und sich auch so verhalte. Trotz eigener Wohnung gleiche seine Lebenssituation eher der eines Jugendlichen. Eine erkennbare Lebensplanung liege noch nicht vor, er lebe in den Tag hinein und lasse sich eher vom Lustprinzip leiten, als von Vernunfterwägungen steuern.
7
c) Das Landgericht gelangt zu dem Schluss, dass beim Angeklagten vorliegende „Defizite in den Reifekriterien“ nicht Folge einer Retardierung seien, sondern Merkmale einer dissozialen Persönlichkeit, die bereits zu den Tatzeitpunkten fertig entwickelt gewesen und damit einer erzieherischen Beeinflussung nicht mehr zugänglich sei; eine Nachreifung sei beim Angeklagten nicht zu erwarten, bei ihm seien keine „großen Entwicklungskräfte“ mehr wirksam (UA S. 65 f.). Es stützt sich dabei auf das Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen, die davon ausgeht, dass der Angeklagte in einem defizitären und sozial randständigen Umfeld aufgewachsen sei; deswegen sei seine soziale Integration nicht gelungen (UA S. 63). Aufgrund seiner Entwicklungsbedingungen sei er indes „notgedrungen zeitiger erwachsen geworden als andere Jugendliche“ (UA S. 64). Die Normorientierung des Angeklagten sei nur unzureichend am Beispiel erwachsener Bezugspersonen erfolgt , weshalb er sich eigene Normen abhängig von den Bezugspersonen seiner Altersgruppe erarbeitet habe. Seine Entwicklung weise gerade keine Retardierung aus, sondern sei lediglich in die falsche Richtung erfolgt.
8
d) Der Schluss, dass die vom Landgericht durchaus erkannten „Defizite in den Reifekriterien“ – Orientierung an Gruppennormen; soziale Beziehungen und Partnerschaft; Impulsivität und Konfliktmanagement – (UA S. 65) nicht Folge einer Retardierung, sondern Merkmale einer „fertig entwickelten“ dissozialen Persönlichkeit seien, bleibt ohne hinreichenden Beleg. Er wird allenfalls durch die Bewertung der Sachverständigen gestützt, dass der Angeklagte über „festgefasste Konzepte“ verfügt. Für deren Vorhandensein wird indes nur – unzureichend – angeführt, dass der Angeklagte „sehr bestimmt und deutlich“ erklärt habe, eine weitere Ausbildung komme für ihn nicht mehr in Betracht, hinsichtlich derer er sich für zu alt halte.
9
Den als Beleg für die Reife des Angeklagten herangezogenen Umständen , dass ihm ein Schulabschluss gelungen sei und er vorzeitig die erforderliche Selbständigkeit im Hinblick auf die alltägliche Versorgung erlangt habe, kann nur im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen ein Stellenwert zukommen (vgl. Eisenberg, JGG, 13. Aufl., § 105 Rn. 11, 20). Die von der Sachverständigen und ihr folgend der Jugendkammer vorgenommene Würdigung lässt indes wesentliche Gesichtspunkte außer Betracht: Die gegenwärtige Lebenssituation des Angeklagten wird nicht dargestellt und bewertet. Das Landgericht geht nicht auf aus den Begleitumständen der Taten sprechende Verhaltensweisen und Neigungen des Angeklagten ein, die typisch für einen in der Entwicklung befindlichen Jugendlichen sein können (Tat 1: Raub eines Fan-Schals eines vom Angeklagten nicht unterstützten Fußballclubs; Tat 2: ziel- und sinnloses Umherfahren zum Zeitvertreib); mit ihnen setzt sich das Urteil nicht auseinander. Die Sachverständige hat der Beurteilung der Reife des Angeklagten die in der „Bonner Delphi-Studie“ (vgl. Busch, ZJJ 2006, 264) erarbeiteten Kriterien zugrunde gelegt, sich jedoch gerade mit im Fall des Angeklagten möglicherweise kritischen Kriterien (insbesondere „Emotionalität: Stabilität emotionaler Reaktionen“ und „Impulsivität und Konfliktmanagement“) nicht erkennbar befasst. Schließlich wird die abweichende Stellungnahme der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe zur Frage der Reife des Angeklagten nur erwähnt; eine Darstellung ihrer Argumente und eine Auseinandersetzung mit ihnen findet jedoch nicht statt.
10
e) Die Frage der Anwendung von Jugend- oder allgemeinem Strafrecht muss daher aufgrund neuer Feststellungen erneut geprüft werden. Dabei kann auch dem Umstand Bedeutung zukommen, dass der Angeklagte, der in Unterbrechung der Untersuchungshaft in diesem Verfahren die vom Amtsgericht Riesa am 20. November 2008 verhängte Jugendstrafe verbüßte, auf seinen Antrag hin aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen und in den Erwachsenenstrafvollzug verlegt wurde. Insoweit wird das neue Tatgericht den Gründen für die Anordnung der Vollstreckung der Jugendstrafe nach den Vorschriften des Strafvollzugs für Erwachsene und der Frage näher nachzugehen haben, ob sich aus diesen Rückschlüsse auf den Reifestand des Angeklagten zum Zeitpunkt der Taten ergeben können.
11
Im Rahmen der zu treffenden Feststellungen muss das neue Tatgericht die Frage einer erheblichen Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten und des Vorliegens der Voraussetzungen des § 64 StGB mitprüfen , wenngleich insoweit bislang kein durchgreifender Rechtsfehler zu erkennen ist.
Basdorf Brause Schaal Schneider Bellay

(1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn

1.
die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder
2.
es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.

(2) § 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ist auch dann anzuwenden, wenn der Heranwachsende wegen eines Teils der Straftaten bereits rechtskräftig nach allgemeinem Strafrecht verurteilt worden ist.

(3) Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre. Handelt es sich bei der Tat um Mord und reicht das Höchstmaß nach Satz 1 wegen der besonderen Schwere der Schuld nicht aus, so ist das Höchstmaß 15 Jahre.

5 StR 375/07

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 25. September 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. September 2007 beschlossen
:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Leipzig vom 23. April 2007 nach § 349 Abs. 4 StPO
im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs.
2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels
, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1 Das Landgericht hat den zur Tatzeit 19 Jahre und zwei Monate alten
Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten ist zum Schuldspruch
aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet
, hat jedoch betreffend den Strafausspruch mit der Sachrüge Erfolg.
2 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts erstach der bisher nicht
strafrechtlich in Erscheinung getretene Angeklagte den Liebhaber seiner
Mutter, den er zuvor nur einmal flüchtig gesehen hatte. Das alkoholisierte
Opfer war hinter den Angeklagten getreten, der gerade Geschirr spülte, und
hatte ihm kräftig an die Schultern gefasst. Der hierdurch überraschte Angeklagte
fühlte sich zudem von möglicherweise beleidigenden Äußerungen des
Mannes gekränkt, nahm das gerade von ihm abgewaschene Küchenmesser
und versetzte ihm damit einen tödlichen Stich in die Brust. Als der Geschädigte
ein paar Schritte zurücktaumelte und den Angeklagten beschimpfte,
stach dieser ihm erneut in den Oberkörper. Sodann flüchtete der Angeklagte
aus der Wohnung seiner Mutter. Kurz darauf stellte er sich der Polizei.
3 Die Jugendkammer hat auf den zur Tatzeit heranwachsenden Angeklagten
allgemeines Strafrecht angewendet. Der Angeklagte sei nicht mehr
einem Jugendlichen gleichzusetzen (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG). Er entspreche
in der Entwicklung einem „normalen 19-jährigen Heranwachsenden“, Anhaltspunkte
für Entwicklungsrückstände seien demgegenüber nicht ersichtlich.
So sei er in den letzten drei Jahren durch die arbeitsbedingte Abwesenheit
seiner Mutter häufig auf sich gestellt gewesen und habe eigenverantwortlich
Entscheidungen getroffen. Ob es sich bei der Tat um eine Jugendverfehlung
(§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG) handelt, hat die Jugendkammer nicht
erörtert.
4 2. Die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht hat keinen Bestand.
5 Bereits die Ablehnung der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Nr. 1
JGG begegnet Bedenken. Die landgerichtliche Wertung zur Entscheidungsfähigkeit
des Angeklagten orientiert sich unter Verweis auf die dargestellten
Ausführungen des Sachverständigen nur an schulischen Belangen und lässt
andere Bereiche der Lebensführung unberücksichtigt (vgl. BGH NStZRR
2006, 187 f.; BGH bei Böhm NStZ 1990, 530; Eisenberg, JGG 12. Aufl.
§ 105 Rdn. 20 und 22). Die zum Beleg für den Reifegrad maßgeblich herangezogene
realistische Zukunftsplanung des Angeklagten – Besuch einer geeigneten
Schule zur Erlangung des Fachabiturs, um studieren zu können –
bezieht sich nicht auf die Tatzeit, sondern auf den Zeitpunkt der Begutachtung.
Zudem ist zu besorgen, die Jugendkammer könnte verkannt haben,
dass es nicht allein darauf ankommt, ob der Heranwachsende in seiner Entwicklung
zurückgeblieben ist oder ob er sich altersgemäß entwickelt hat,
sondern darauf, ob es sich bei ihm um einen noch in der Entwicklung befind-
lichen, noch prägbaren Menschen handelt (BGHSt 36, 37, 40; BGHR JGG
§ 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 2).
6 Ein durchgreifender Rechtsfehler liegt jedenfalls darin, dass sich die
Jugendkammer nicht damit auseinandersetzt, ob es sich bei der Tat um eine
Jugendverfehlung im Sinne von § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG handelt, was auch
bei schweren Gewaltdelikten der Fall sein kann. Denn auch diese Taten können
nach ihrem äußeren Erscheinungsbild oder nach den Beweggründen
des Täters Merkmale jugendlicher Unreife aufweisen (BGHR JGG § 105
Abs. 1 Nr. 2 Jugendverfehlung 1 und 2). Für die Jähtat des bis dahin nicht
durch aggressives Verhalten aufgefallenen Angeklagten zu Lasten des Liebhabers
seiner Mutter kann dies nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden.
Für Jugendliche typisches Verhalten offenbart sich insbesondere in einem
Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen (BGH
aaO), was auch in der Tat des Angeklagten durch fehlende Beherrschung
und Unterdrückung seiner durch eine bloße Beleidigung hervorgerufenen
Gefühle zu Tage getreten sein könnte. Dabei wäre auch zu beachten gewesen
, dass die Tat möglicherweise durch eine besonders enge Bindung an die
Mutter, die seit der Umsiedlung nach Deutschland im Jahre 2000 allein mit
ihren beiden Söhnen lebt, motiviert gewesen sein kann (vgl. hierzu Eisenberg
aaO Rdn. 30).
7 Sollten nach Ausschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten Zweifel
zum Entwicklungsstand nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG oder zu den Voraussetzungen
des § 105 Abs.1 Nr. 2 JGG verbleiben, wird Jugendstrafrecht anzuwenden
sein (BGHSt 36, 37, 40; BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 2 Jugendverfehlung
1; BGH NStZ-RR 2003, 186, 188).
Basdorf Häger Gerhardt
Brause Schaal

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn

1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist,
2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist,
3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist,
4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist,
5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder
6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.

(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.

(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.

(2) Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden.

(3) Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz Milderungen von dem Vorliegen minder schwerer Fälle abhängig, so müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb diese Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint werden; dies gilt entsprechend für die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen des § 47 des Strafgesetzbuches. Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird aber gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen, so gilt Satz 2 entsprechend. Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden ist; dies gilt entsprechend für die Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist auch dies in den Urteilsgründen anzugeben.

(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.

(5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.

(6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, eine Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht vorbehalten worden ist. Ist die Fahrerlaubnis nicht entzogen oder eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet worden, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam, so müssen die Urteilsgründe stets ergeben, weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist.