Bundesgerichtshof Urteil, 05. Nov. 2002 - 1 StR 254/02

published on 05/11/2002 00:00
Bundesgerichtshof Urteil, 05. Nov. 2002 - 1 StR 254/02
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 254/02
vom
5. November 2002
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
5. November 2002, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Boetticher,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 22. Februar 2002 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen 42 Fällen des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes und wegen eines Falles des schweren sexuellen Mißbrauch eines Kindes zur Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Angeklagte nahm den getroffenen Feststellungen zufolge in der Zeit vom 1. Juli 1995 bis zum Sommer 1998 in 43 Fällen sexuelle Handlungen an seiner am 27. April 1988 geborenen Stieftochter J. M. vor. Dabei handelte es sich um 42 Fälle des Oralverkehrs und einen Fall des versuchten Vaginal- oder Analverkehrs. Die Revision des Angeklagten meint, es fehle an einer wirksamen Anklageerhebung; überdies beanstandet sie eine Verletzung der richterlichen Hinweispflicht und rügt allgemein die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Es besteht kein Verfahrenshindernis. Die zugelassene Anklage erfüllt die gesetzlichen Anforderungen und ist wirksam (§ 200 Abs. 1 StPO). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt beim Vorwurf einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegen ein Kind die Anklage regelmäßig den gesetzlichen Erfordernissen, wenn in ihr das Tatopfer, der Tatzeitraum, die Art und Weise der Tatbegehung in den Grundzügen und die Höchstzahl der vorgeworfenen Taten mitgeteilt werden (vgl. nur BGHSt 40, 44, 46 f.; BGH NStZ 1996, 295, 296; BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 23). Diesen Konkretisierungs - und Umgrenzungsanforderungen wird die Anklage hier gerecht. Sie enthält - unter Einschluß des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen (vgl. dazu nur BGHSt 46, 130, 134) - neben der unverwechselbaren Bezeichnung des kindlichen Opfers genaue Begrenzungen der einzelnen Tatzeiträume, die sich hinsichtlich der Tatorte - abgesehen von den letzten beiden Fällen - an den jeweiligen verschiedenen Wohnungen des Angeklagten orientieren. Die ersten Fälle (Fallgruppen 1., 2., 3. und 4. der Anklage = 2.1., 2.2., 2.3. der Urteilsgründe ) ereigneten sich jeweils in den Wohnungen des Angeklagten in der F. straße 8, der Ki. straße 4 und der O. straße 38 a in K. ; sie lassen sich aufgrund der Wohnungswechsel datumsmäßig zweifelsfrei nach Zeiträumen erschließen. Ohne weiteres individualisierbar sind auch die letzten beiden Taten nach dem 25. Oktober 1997 auf einem "Jägerstand" im Wald zwischen G. und B. sowie im Sommer 1998 während eines Italienurlaubs in der Nähe von L. . Daß das Tatgeschehen - abgesehen von einem Fall des versuchten Anal- oder Vaginalverkehrs - lediglich als "Oralverkehr" des Kindes am Angeklagten charakterisiert wird, ist ersichtlich Folge des immer wieder gleich oder sehr ähnlich ablaufenden Geschehens, geht aber über das
Abstraktionsniveau eines gesetzlichen Merkmals der Strafvorschrift hinaus. Dies reichte hier. Daß die Taten in der Anklageschrift möglicherweise ausführlicher hätten geschildert werden können, ändert daran nichts.

II.

1. Die Anklage genügt überdies ihrer Informationsfunktion. Ein nachbessernder richterlicher Hinweis - der übrigens nicht protokollierungspflichtig gewesen wäre - war nicht geboten (vgl. BGH NStZ 1996, 95; NJW 1999, 802, 803). Das gilt zumal im Blick darauf, daß im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ausdrücklich auf die "glaubwürdige Aussage" der Geschädigten, das aussagepsychologische Gutachten und in diesem Zusammenhang auf Entstehung und Konstanz der Aussage sowie die Demonstrierbarkeit der Handlungen abgehoben wird. Die Revision trägt zudem selbst vor, daß die Geschädigte bereits bei der Polizei die Tatserien konkreter als in der Anklage wiedergegeben geschildert hat und die Anklage das folglich hätte aufgreifen können. Auch im Urteil wird weiter die Aussagekonstanz zwischen den Angaben der Geschädigten bei der Polizei, der Sachverständigen und vor dem Tatrichter betont. Der Angeklagte und die Verteidigung konnten von den Urteilsfeststellungen mithin nicht überrascht sein. 2. Von einer hinweispflichtigen Veränderung der Beweis- oder sonstigen Sachlage in der Hauptverhandlung kann danach keine Rede sein (§ 265 StPO; BGHSt 44, 153, 157; BGH NJW 1999, 802, 803). Die in den Urteilsfeststellungen hinsichtlich einiger Taten enthaltenen weiteren Einzelheiten kennzeichnen lediglich den Tatablauf näher. So stellt das Landgericht zur Fallgruppe 2.1. fest, die Taten hätten sich im Wohnzimmer ereignet, wobei der Angeklagte mit dem Rücken auf dem Sofa gelegen und J. vor ihm auf dem Fußboden gekniet habe. Ein Vorfall, der versuchte Vaginal- oder Analverkehr, trug sich im
Elternschlafzimmer zu. Bei der Fallgruppe 2.2. ist zu einem der mindestens sieben Fälle ergänzend festgestellt, daß der Angeklagte die Geschädigte vom Sofa warf, weil sie seinem Verlangen, seinen Samen zu schlucken, nicht nachkommen wollte. Bei einem Fall der Fallgruppe 2.3. war der Neffe des Angeklagten zugegen, bei dem die Geschädigte ebenfalls den Oralverkehr durchführte. 3. Der Senat entnimmt darüber hinaus den Urteilsgründen, daß der Angeklagte und die Verteidigung die in Rede stehenden Feststellungen zu den Tatmodalitäten auch dem Gang der Hauptverhandlung entnehmen und sich deshalb auf diese einstellen konnten. Deswegen sind auch sonst Verteidigungsrechte nicht beeinträchtigt. Zu Inhalt und Ergebnissen einzelner Beweiserhebungen muß sich der Tatrichter grundsätzlich nicht vorab erklären (vgl. BGHR StPO § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 14). Da die Geschädigte schon im Ermittlungsverfahren bei Polizei und Sachverständiger die zum Teil konkretere Darstellung der Taten gegeben hatte, die sie in der Hauptverhandlung wiederholt hat, ist auch auszuschließen, daß das Urteil auf einem unterstellten Verstoß gegen eine Hinweispflicht beruhen könnte.

III.

Die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. Nack Wahl Boetticher Hebenstreit Elf
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(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gel

(1) Die Anklageschrift hat den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen (Anklagesatz). In ihr sind ferner die Bew

Annotations

(1) Die Anklageschrift hat den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen (Anklagesatz). In ihr sind ferner die Beweismittel, das Gericht, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll, und der Verteidiger anzugeben. Bei der Benennung von Zeugen ist nicht deren vollständige Anschrift, sondern nur deren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben. In den Fällen des § 68 Absatz 1 Satz 3, Absatz 2 Satz 1 genügt die Angabe des Namens des Zeugen. Wird ein Zeuge benannt, dessen Identität ganz oder teilweise nicht offenbart werden soll, so ist dies anzugeben; für die Geheimhaltung des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Zeugen gilt dies entsprechend.

(2) In der Anklageschrift wird auch das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen dargestellt. Davon kann abgesehen werden, wenn Anklage beim Strafrichter erhoben wird.

(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.

(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn

1.
sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßnahme oder die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge rechtfertigen,
2.
das Gericht von einer in der Verhandlung mitgeteilten vorläufigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage abweichen will oder
3.
der Hinweis auf eine veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist.

(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den in Absatz 2 Nummer 1 bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.

(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.