Bundesgerichtshof Beschluss, 28. Feb. 2012 - VIII ZB 71/11

published on 28/02/2012 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 28. Feb. 2012 - VIII ZB 71/11
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Amtsgericht Hamburg-Bergedorf, C 168/09, 04/02/2010
Landgericht Hamburg, 320 S 25/10, 23/08/2011

Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
VIII ZB 71/11
vom
28. Februar 2012
in dem Rechtsstreit
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Februar 2012 durch den
Vorsitzenden Richter Ball, die Richterin Dr. Hessel sowie die Richter
Dr. Achilles, Dr. Schneider und Dr. Bünger

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der Zivilkammer 20 des Landgerichts Hamburg vom 23. August 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückgegeben. Der Beschwerdewert wird auf 300 € festgesetzt.

Gründe:

I.

1
Die Klägerin begehrt von den beklagten Sonderkunden die Zahlung restlichen Entgelts für Gaslieferungen; insoweit streiten die Parteien über die Berechtigung von Gaspreiserhöhungen. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht (Zivilkammer 20) hat das Berufungsverfahren analog § 148 ZPO bis zur Entscheidung der beim Senat anhängigen Revisionsverfahren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11, die Parallelverfahren der Klägerin gegen andere Kunden betreffen, ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die vom Landgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Beklagten.

II.

2
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
3
1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
4
Zwar sei eine Vorgreiflichkeit im Sinne des § 148 ZPO nicht gegeben. Das vorliegende Verfahren könne aber analog § 148 ZPO ausgesetzt werden, da es sich hierbei um einen Teil eines "Massenverfahrens" handele und die Unmöglichkeit einer angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so erhöhe, dass hierdurch ein qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie begründet werde. Bei dem Landgericht Hamburg seien gegenwärtig 280 gleichgelagerte Berufungen anhängig, davon 98 bei der Zivilkammer 20. Die Kammer sei nicht in der Lage, diese Verfahren in absehbarer Zeit sämtlich zum Abschluss zu bringen. Nach Abschluss der beim Bundesgerichtshof anhängigen Revisionsverfahren sei zu erwarten, dass entweder die Klägerin ihre Berufung zurücknehme oder die Beklagtenseite den Klageanspruch anerkenne. Eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde daher zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen. Sie wäre insbesondere auch für die betroffenen Parteien in einem Maße unwirtschaftlich , dass es gerechtfertigt erscheine, dem Wertungsgesichtspunkt der Prozessökonomie das erforderliche Gewicht beizumessen.
5
2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
6
a) Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit die Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus, also dass die Entscheidung in dem einen Rechtsstreit die Entscheidung des anderen rechtlich beeinflussen kann (BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 375). Diese Voraussetzung ist - wie das Landgericht auch erkannt hat - vorliegend nicht erfüllt, da die beim Senat anhängigen Revisionsverfahren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11 im Hinblick auf das der Rechtsbeschwerde zu Grunde liegende Verfahren weder materielle Rechtskraft entfalten noch Gestaltungs- oder Interventionswirkung haben (vgl. Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 148 Rn. 23 ff.). Es genügt nicht, dass die in den genannten Revisionsverfahren zu erwartenden Entscheidungen (lediglich) geeignet sind, einen rein tatsächlichen Einfluss auf die im vorliegenden Fall zu treffende Entscheidung zu haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO; vom 25. Januar 2006 - IV ZB 36/03, juris Rn. 2; BAG, NJOZ 2005, 2318,

2324).

7
b) Allein die Tatsache, dass in einem anderen Verfahren über einen gleich oder ähnlich gelagerten Fall nach Art eines Musterprozesses entschieden werden soll, rechtfertigt für sich genommen ebenfalls noch keine Aussetzung analog § 148 ZPO (BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO S. 376, und X ZBX ZB 20/04, juris Rn. 11; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. Januar 2006 - IV ZB 36/03, aaO; Senatsurteil vom 21. Februar 1983 - VIII ZR 4/82, NJW 1983, 2496 unter II 2 a; OLG Stuttgart, OLGR 1999, 134 f.). Insbesondere enthält § 148 ZPO keine allgemeine Ermächtigung, die Verhandlung eines Rechtsstreits zur Abwendung einer vermeidbaren Mehrbelastung des Gerichts auszusetzen (BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO). Denn die Vorschrift stellt nicht auf sachliche oder tatsächliche Zusam- menhänge zwischen verschiedenen Verfahren, sondern auf die Abhängigkeit vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab. Allein die tatsächliche Möglichkeit eines Einflusses genügt dieser gesetzlichen Voraussetzung nicht, so dass die bloße Übereinstimmung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage die Aussetzung noch nicht erlaubt (BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO S. 377, und X ZBX ZB 20/04, juris Rn. 15; BFH, BFH/NV 2010, 1847). Dem entsprechend hat auch der Gesetzgeber mit § 7 KapMuG und § 93a VwGO eigens spezialgesetzliche Grundlagen für eine von § 148 ZPO beziehungsweise der parallelen Vorschrift des § 94 VwGO an sich nicht mehr gedeckte Aussetzung von Musterverfahren geschaffen (vgl. BTDrucks. 11/7030 S. 28; 15/5091 S. 14).
8
c) Die vom Bundesgerichtshof in diesem Zusammenhang bislang ausdrücklich offen gelassene Frage, ob bei "Massenverfahren" die Unmöglichkeit der angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so zu erhöhen vermag, dass hierin ein nicht nur quantitativ, sondern qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie hervortritt (BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, aaO S. 377, und X ZBX ZB 20/04, aaO Rn. 13; vgl. auch Stürner, JZ 1978, 499), bedarf auch vorliegend keiner Entscheidung. Voraussetzung für die Annahme eines derartigen "Massenverfahrens" wäre jedenfalls, dass das Gericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren befasst ist (BGH, Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 20/04, aaO Rn. 15). Dazu hat das Landgericht bislang keine zureichenden Feststellungen getroffen.
9
Der Umstand, dass 98 gleichgelagerte Berufungsverfahren bei der Zivilkammer 20 anhängig sind, hat für sich allein keine Aussagekraft zur Beantwortung der Frage, ob dieser Spruchkörper mit einer schlechthin nicht zu bewälti- genden Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren befasst ist. Zur Geschäftsbelastung dieses Spruchkörpers durch sonstige Verfahren ist nichts festgestellt. Insbesondere verhält sich das Berufungsgericht nicht zu der Frage, ob und inwieweit bei dem Landgericht Hamburg - etwa durch Verteilung der eingehenden Sachen im Rotationssystem - ein Verfahren eingerichtet ist, um die Geschäftsbelastung möglichst gleichmäßig auf alle Spruchkörper zu verteilen. Im Übrigen liegt es auch nicht auf der Hand, dass bei 98 gleichgelagerten Berufungsverfahren innerhalb eines landgerichtlichen Spruchkörpers, dessen Mitglieder sich bereits in den Streitstoff eingearbeitet haben, oder bei 280 gleichgelagerten Berufungsverfahren innerhalb eines großen Landgerichts eine Verfahrenserledigung binnen angemessener Zeit schlechthin nicht zu bewältigen ist.
10
Ebenso wenig wird eine solche Aussetzung durch die Überlegung des Berufungsgerichts gerechtfertigt, dass eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen würde und auch für die betroffenen Parteien in besonderer Weise unwirtschaftlich wäre. Auch zu einer solchen Mehrbelastung ist nichts Näheres festgestellt. Zudem läge eine solche, unterhalb der Schwelle einer nicht mehr hinnehmbaren Erschöpfung gerichtlicher Kapazität liegende Mehrbelastung genauso wie der damit verbundene Hinweis auf die Unwirtschaftlichkeit einer Verfahrensfortsetzung noch im Bereich "normaler" Prozessökonomie , welche die vom Berufungsgericht vorgenommene Verfahrens- aussetzung nicht trägt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, und X ZB 20/04; jeweils aaO). Ball Dr. Hessel Dr. Achilles Dr. Schneider Dr. Bünger
Vorinstanzen:
AG Hamburg-Bergedorf, Entscheidung vom 04.02.2010 - 410 D C 168/09 -
LG Hamburg, Entscheidung vom 23.08.2011 - 320 S 25/10 -
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(1) Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde

Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde fes

Mit Erlass des Vorlagebeschlusses ist die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 8 Absatz 1 auszusetzenden Verfahren unzulässig. Ein gleichwohl ergangener Vorlagebeschluss ist nicht bindend.
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Annotations

(1) Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.

(2) Das Gericht kann ferner, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von Feststellungszielen abhängt, die den Gegenstand eines anhängigen Musterfeststellungsverfahrens bilden, auf Antrag des Klägers, der nicht Verbraucher ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Musterfeststellungsverfahrens auszusetzen sei.

Mit Erlass des Vorlagebeschlusses ist die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens für die gemäß § 8 Absatz 1 auszusetzenden Verfahren unzulässig. Ein gleichwohl ergangener Vorlagebeschluss ist nicht bindend.

(1) Ist die Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme Gegenstand von mehr als zwanzig Verfahren, kann das Gericht eines oder mehrere geeignete Verfahren vorab durchführen (Musterverfahren) und die übrigen Verfahren aussetzen. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(2) Ist über die durchgeführten Verfahren rechtskräftig entschieden worden, kann das Gericht nach Anhörung der Beteiligten über die ausgesetzten Verfahren durch Beschluß entscheiden, wenn es einstimmig der Auffassung ist, daß die Sachen gegenüber rechtskräftig entschiedenen Musterverfahren keine wesentlichen Besonderheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen und der Sachverhalt geklärt ist. Das Gericht kann in einem Musterverfahren erhobene Beweise einführen; es kann nach seinem Ermessen die wiederholte Vernehmung eines Zeugen oder eine neue Begutachtung durch denselben oder andere Sachverständige anordnen. Beweisanträge zu Tatsachen, über die bereits im Musterverfahren Beweis erhoben wurde, kann das Gericht ablehnen, wenn ihre Zulassung nach seiner freien Überzeugung nicht zum Nachweis neuer entscheidungserheblicher Tatsachen beitragen und die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Die Ablehnung kann in der Entscheidung nach Satz 1 erfolgen. Den Beteiligten steht gegen den Beschluß nach Satz 1 das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Die Beteiligten sind über dieses Rechtsmittel zu belehren.

(1) Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.

(2) Das Gericht kann ferner, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von Feststellungszielen abhängt, die den Gegenstand eines anhängigen Musterfeststellungsverfahrens bilden, auf Antrag des Klägers, der nicht Verbraucher ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Musterfeststellungsverfahrens auszusetzen sei.

Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.