Bundesgerichtshof Beschluss, 02. März 2010 - IV ZB 15/09

bei uns veröffentlicht am02.03.2010
vorgehend
Amtsgericht Dessau-Roßlau, 4 C 373/07, 27.11.2008
Landgericht Dessau-Roßlau, 1 S 32/09, 11.03.2009

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
IV ZB 15/09
vom
2. März 2010
in dem Rechtsstreit
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden
Richter Terno, den Richter Seiffert, die Richterinnen Dr. Kessal-Wulf,
Harsdorf-Gebhardt und den Richter Dr. Karczewski
am 2. März 2010

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 11. März 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 1.681,82 €

Gründe:


1
I. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Erstattung der Kosten für eine zahnärztliche Behandlung aus einer Krankenversicherung in Anspruch.
2
Das Amtsgericht wies die Klage mit Urteil vom 27. November 2008 ab. Das erstinstanzliche Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 26. Januar 2009 zugestellt. Gegen dieses Urteil legte der Kläger mit einem an das Amtsgericht Dessau-Roßlau gerichteten Schrift- satz vom 25. Februar 2009 Berufung ein. Dieser Schriftsatz ging zunächst per Telefax am 25. Februar 2009 beim Amtsgericht DessauRoßlau ein und wurde von dort am 27. Februar 2009 an das Landgericht Dessau-Roßlau weitergeleitet. Das Original des ebenfalls an das Amtsgericht Dessau-Roßlau adressierten Berufungsschriftsatzes vom 25. Februar 2009 weist einen Eingangsstempel des Amtsgerichts DessauRoßlau vom 26. Februar 2009 sowie einen weiteren Eingangsstempel des Justizzentrums Dessau-Roßlau vom 27. Februar 2009 auf. Das Amtsgericht Dessau-Roßlau (Willi-Lohmann-Straße 33 in Dessau) verfügt über einen eigenen Briefkasten, während das Landgericht DessauRoßlau (Willi-Lohmann-Straße 29) zusammen mit dem Finanz- und Arbeitsgericht eine gemeinsame Briefeinlaufstelle unter der Bezeichnung "Justizzentrum Dessau-Roßlau" unterhält.
3
Prozessbevollmächtigte Der des Klägers hat mit Schriftsatz vom 10. März 2009 gegenüber dem Landgericht erklärt, er habe das Original des Berufungsschriftsatzes selbst am 26. Februar 2009 gegen 17.30 Uhr in den Briefkasten des Justizzentrums eingeworfen. Das Landgericht hat die Berufung mit Beschluss vom 11. März 2009 als unzulässig verworfen. Hierbei hat es die Frage, ob das Original des Berufungsschriftsatzes noch fristgerecht am 26. Februar 2009 in den Briefkasten des Justizzentrums eingelegt wurde, offen gelassen. Der Schriftsatz sei nicht rechtzeitig in die Verfügungsgewalt des Berufungsgerichts gelangt, da er sich in einem verschlossenen Umschlag befunden habe und der Briefkasten des Justizzentrums Dessau-Roßlau als gemeinsame Briefeinlaufstelle nicht nur für das Land-, sondern auch für das Finanz- und Arbeitsgericht diene. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
4
II. 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V. mit § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, da die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts gebietet (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt den Kläger in seinem Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (BVerfGE 69, 381, 385; 77, 275, 284; 88, 118, 123 f.; NJW-RR 2002, 1004, 1005, 1007). Sie steht ferner im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Zulässigkeit der Berufung bei fehlerhafter Adressierung und gemeinsamer Posteinlaufstelle (BGH, Beschlüsse vom 21. Juni 2004 - II ZB 18/03 - NJW-RR 2005, 75 zu II 2; vom 10. Februar 1994 - VII ZB 30/93 - NJW 1994, 1354; vom 28. Januar 1992 - X ZB 17/91 - NJW 1992, 1047 zu II; vom 6. Oktober 1988 - VII ZB 1/88 - NJW 1989, 590 zu II 2).
5
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Ohne weitere Sachaufklärung lässt sich beim derzeitigen Verfahrensstand nicht abschließend beurteilen, ob die Berufung rechtzeitig am 26. Februar 2009 beim Landgericht Dessau-Roßlau eingelegt wurde. Zwar konnte die Berufungsfrist nicht durch das am 25. Februar 2009 beim Amtsgericht Dessau -Roßlau eingegangene Faxschreiben gewahrt werden, weil es zunächst beim Amtsgericht einging und von dort erst am 27. Februar 2009, als die zuständige Richterin die Akte vorfand, an das Landgericht weitergeleitet wurde, wo es ebenfalls am 27. Februar 2009 einging. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht demgegenüber die Frage offen gelassen, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Original der Berufungsschrift noch fristgerecht am 26. Februar 2009 in den Briefkasten des Justiuzzentrums Dessau-Roßlau eingelegt hat.
6
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein bei einer gemeinsamen Einlaufstelle mehrerer Gerichte eingegangener Schriftsatz einer Partei mit der Einreichung bei der Einlaufstelle bei dem Gericht eingegangen, an das er adressiert ist (BGH, Beschlüsse vom 18. Februar 1997 - VI ZB 28/96 - NJW-RR 1997, 892 zu II 1; vom 9. Juli 1986 - IVa ZB 9/86 - VersR 1987, 48, 49; Zöller/Heßler, ZPO 28. Aufl. § 519 Rdn. 13). Hiernach erlangt bei einer für mehrere Gerichte eingerichteten gemeinsamen Briefannahmestelle nur dasjenige Gericht die tatsächliche Verfügungsgewalt, an das der entsprechende Schriftsatz gerichtet ist. Es genügt, wenn sich das zuständige Rechtsmittelgericht ohne ausdrückliche Benennung eindeutig aufgrund der genauen Bezeichnung des angefochtenen Urteils im Übrigen zuordnen lässt (BGH, Beschluss vom 28. Januar 1992 - X ZB 17/91 - NJW 1992, 1047 unter II, wenn gegen ein Urteil des Landgerichts Berufung eingelegt wird, diese bei der gemeinsamen Annahmestelle eingeht und in dem Schriftsatz kein weiterer Empfänger bezeichnet ist). Maßgebend ist, dass der Schriftsatz trotz eines etwaigen Adressierungsfehlers tatsächlich fristgerecht in die Verfügungsgewalt des zuständigen Berufungsgerichts gelangt (BGH aaO; Zöller/Heßler aaO; Musielak/Ball, ZPO 6. Aufl. § 519 Rdn. 19; MünchKomm/Rimmelspacher, ZPO 3. Aufl. § 519 Rdn. 29). Eine falsche Adressierung ist bei Einwurf in einen Briefkasten ferner unschädlich, wenn die Einrichtung nur einem einzigen Gericht dient.
7
Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht beachtet. Die Berufungsschrift war hier zwar an das Amtsgericht Dessau-Roßlau adressiert , nach dem Vorbringen des Klägers hat sein Prozessbevollmächtigter indessen das Original der Berufungsschrift am 26. Februar 2009 persönlich in den Briefkasten des Justizzentrums Dessau-Roßlau eingeworfen. Da der eigentliche Briefkasten des Amtsgerichts sich an einem anderen Ort befindet, wäre ein Zugang beim unzuständigen Amtsgericht nur in dem Fall anzunehmen, in dem auch das Amtsgericht zugleich an den Briefkasten des gemeinsamen Justizzentrums angeschlossen ist. Das ist indessen nicht der Fall. Vielmehr hat das Amtsgericht einen eigenen Briefkasten, während der Briefkasten des Justizzentrums lediglich für das Land-, das Arbeits- und Finanzgericht dient. Mithin konnte der Schriftsatz, wenn er am 26. Februar 2009 in den Briefkasten des Justizzentrums eingeworfen wurde, nicht in die Verfügungsgewalt des Amtsgerichts gelangen. Vielmehr wäre er dann noch rechtzeitig beim Landgericht eingegangen. Der Umstand, dass der Briefkasten des Justizzentrums zugleich dem Arbeits- und Finanzgericht dient, ändert daran nichts. Aus dem Berufungsschriftsatz vom 25. Februar 2009 ergibt sich eindeutig , dass Berufung gegen ein nach Datum und Aktenzeichen näher bezeichnetes Urteil des Amtsgerichts Dessau-Roßlau eingelegt werden soll. Eine derartige Berufung kann indessen nur beim Landgericht, nicht dagegen beim Arbeits- oder Finanzgericht eingelegt werden. Insofern ist der Fall hier nicht anders zu behandeln als derjenige, bei dem eine an das falsche Gericht adressierte Berufung allein in den Briefkasten des zuständigen Rechtsmittelgerichts eingelegt wird. In einem solchen Fall ist die Berufung rechtzeitig eingegangen.
8
b) Anders liegt es dann, wenn der an ein falsches Gericht gerichtete Berufungsschriftsatz zwar tatsächlich in dem nur hierfür vorgesehenen Briefkasten des Rechtsmittelgerichts eingeht, der Schriftsatz sich aber in einem verschlossenen Umschlag befindet und der Umschlag mit der Adresse des unzuständigen Gerichts bezeichnet ist. In einem derartigen Fall ist die Posteingangsstelle des Rechtsmittelgerichts verpflichtet, die Sendung ungeöffnet an dasjenige Gericht weiterzuleiten, das auf dem Umschlag angegeben ist (BGH, Beschluss vom 10. Februar 1994 - VI ZB 30/93 - NJW 1994, 1354 unter II 1 a). Derartige Umstände stehen hier indessen gerade nicht fest. Der im Berufungsverfahren hierzu vom Kläger gehaltene Vortrag war erkennbar unzureichend. Er hat mit Schriftsatz vom 10. März 2009 lediglich vorgetragen, sein Prozessbevollmächtigter habe das Original der Berufungsschrift persönlich am 26. Februar 2009 gegen 17.30 Uhr in den Briefkasten des Justizzentrums geworfen. Der Umschlag sei nicht frankiert gewesen. Aus diesem unvollständigen Vortrag ergibt sich nicht, ob sich der Schriftsatz in einem verschlossenen Umschlag sowie ob und gegebenenfalls welche Anschrift sich auf dem Umschlag befand. Insoweit hat der Kläger seinen Vortrag nunmehr ergänzt und mit Schriftsatz vom 16. Februar 2010 vorgetragen, es habe sich um einen Umschlag ohne Sichtfeld gehandelt, bei dem sich links der Kanzleistempel befunden habe. Mittig auf dem Umschlag habe Landgericht Dessau gestanden. Der Umschlag sei nicht frankiert gewesen und auch eine Straße und Postleitzahl habe sich auf diesem nicht befunden, weil er ihn persönlich eingeworfen habe.
9
Das c) Berufungsgericht wird daher nunmehr - gegebenenfalls nach § 284 Satz 2 ZPO im Wege des Freibeweises (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Februar 2009 - IV ZB 25/08 - zu II 4) - zu klären haben, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers tatsächlich am 26. Februar 2009 das Original der Berufungsschrift in einem Briefumschlag, auf dem außen Landgericht Dessau stand, in den Briefkasten des Justizzentrums Dessau-Roßlau eingeworfen hat. Neben einer Vernehmung des Prozessbevollmächtigten des Klägers als Zeuge kommt hier auch eine Vernehmung der Mitarbeiter der Posteingangsstelle des Justizzentrums dazu in Betracht, wie bei Schriftstücken verfahren wird, die sich in einem an das Landgericht gerichteten Briefumschlag befinden, in denen sich aber ein an das Amtsgericht gerichteter Schriftsatz befindet. Hierbei wird auch zu klären sein, wie es mit dem Vortrag des Klägers zu vereinbaren sein soll, dass sich auf der ersten Seite des Originals des Berufungsschriftsatzes vom 25. Februar 2009 der Eingangsstempel des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 26. Februar 2009 befindet, auf der Rückseite der zweiten Seite des Schriftsatzes dagegen erst der Eingangsstempel des Justizzentrums Dessau-Roßlau vom 27. Februar 2009.
Terno Seiffert Dr. Kessal-Wulf
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Vorinstanzen:
AG Dessau, Entscheidung vom 27.11.2008 - 4 C 373/07 -
LG Dessau-Roßlau, Entscheidung vom 11.03.2009 - 1 S 32/09 -

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(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

Zivilprozessordnung - ZPO | § 522 Zulässigkeitsprüfung; Zurückweisungsbeschluss


(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwer

Zivilprozessordnung - ZPO | § 284 Beweisaufnahme


Die Beweisaufnahme und die Anordnung eines besonderen Beweisaufnahmeverfahrens durch Beweisbeschluss wird durch die Vorschriften des fünften bis elften Titels bestimmt. Mit Einverständnis der Parteien kann das Gericht die Beweise in der ihm geeignet

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(1) Das Berufungsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann durch Beschluss ergehen. Gegen den Beschluss findet die Rechtsbeschwerde statt.

(2) Das Berufungsgericht soll die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass

1.
die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat,
2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat,
3.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und
4.
eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
Das Berufungsgericht oder der Vorsitzende hat zuvor die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Beschluss nach Satz 1 ist zu begründen, soweit die Gründe für die Zurückweisung nicht bereits in dem Hinweis nach Satz 2 enthalten sind. Ein anfechtbarer Beschluss hat darüber hinaus eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen zu enthalten.

(3) Gegen den Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
II ZB 18/03
vom
21. Juni 2004
in dem Rechtsbeschwerdeverfahren
Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 21. Juni 2004 durch
den Vorsitzenden Richter Dr. h.c. Röhricht und die Richter Prof. Dr. Goette,
Kraemer, Dr. Strohn und Caliebe

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluß der 3. Zivilkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 20. Mai 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur Entscheidung über die Berufung und über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe:


I. Die Kläger sind die Erben des während des Berufungsverfahrens verstorbenen früheren Klägers D. H.. Sie begehren die Feststellung, daß der Beschluß des beklagten Sportvereins vom 21. Januar 2002 über den Ausschluß des Erblassers unwirksam war und dessen Mitgliedschaft beim Beklagten bis zu seinem Tode fortbestand.
Das Amtsgericht hat die gegen seinen Ausschluß und das ihm erteilte Hausverbot gerichtete Klage des Erblassers mit Urteil vom 22. November 2002 abgewiesen. Gegen diese ihm am 27. November 2002 zugestellte Entscheidung legte der frühere Kläger fristgerecht Berufung ein. Am Abend des 27. Januar 2003 warf sein Prozeßbevollmächtigter die an das zuständige Landgericht adressierte Berufungsbegründung in den gemeinsamen Nachtbriefkasten des Amts- und Landgerichts Landau ein. Der Schriftsatz befand sich mit für die Gerichtsvollzieherverteilungsstelle bestimmter Post in einem Sammelumschlag, der an die Gerichtsvollzieherverteilungsstelle adressiert war. Der Umschlag wurde am 28. Januar 2003 aus dem Nachtbriefkasten entnommen und ungeöffnet an die Gerichtsvollzieherverteilungsstelle übermittelt. Nachdem dort die für das Landgericht bestimmte Berufungsbegründung entdeckt worden war, wurde diese noch am gleichen Tag weitergeleitet.
Nachdem den Klägern der Eingang vom 28. Januar 2003 mitgeteilt worden war, haben sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zur Begründung ausgeführt, die Berufungsbegründung sei fristgerecht am 27. Januar 2003 in den Nachtbriefkasten der gemeinsamen Annahmestelle gelangt , jedenfalls treffe sie aber an der Nichteinhaltung der Frist kein Verschulden.
Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Kläger.
II. 1. Die gem. § 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist auch im übrigen zulässig, weil die Siche-
rung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 ZPO).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht auf einer Würdigung, die den Klägern den Zugang zu dem von der Zivilprozeßordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt den Anspruch der Kläger auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 69, 381, 385; 77, 275, 284; 88, 118, 123 f.; BVerfG NJW-RR 2002, 1004; aaO 1005; aaO 1007). Mit dem - fristgerechten - Einwurf der in dem Sammelbriefumschlag befindlichen Berufungsbegründung in den gemeinsamen Nachtbriefkasten des Amts- und Landgerichts wurde zumindest Mitgewahrsam des Berufungsgerichts an dem Briefumschlag nebst Inhalt begründet. Ein zur Entgegennahme von Schriftstücken für alle beteiligten Gerichte bestellter Beamter hätte somit beim Öffnen des Umschlags den Schriftsatz sogleich für das Berufungsgericht entgegengenommen, auch wenn der Sammelumschlag vor seiner Öffnung nicht erkennen ließ, daß er die an das Berufungsgericht adressierte Berufungsbegründungsschrift enthielt. Mit der Entgegennahme der Berufungsbegründung durch den Beamten der gemeinsamen Annahmestelle wäre aus dem Mitgewahrsam Alleingewahrsam des Berufungsgerichts geworden, mit der Folge , daß die Berufungsbegründungsfrist gewahrt gewesen wäre (BGH, Beschl. v. 21. Oktober 1960 - V ZB 11/60, NJW 1961, 361; BAG AnwBl. 2001, 72; s. auch Jauernig, ZZP 74, 199).
An der Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründungsschrift durch die Einlegung in den Nachtbriefkasten ändert sich nicht etwa deshalb
etwas, weil hier innerhalb der Gerichtsverwaltung die Anweisung bestand, Eingänge der Gerichtsvollzieherverteilungsstelle ungeöffnet dem Nachtbriefkasten zu entnehmen und der zuständigen Sachbearbeiterin zu übergeben.
Der Gesetzgeber hat in der Zivilprozeßordnung und in den dort in Bezug genommenen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches verbindlich festgelegt , wie und innerhalb welcher Zeit in einem Zivilprozeß Rechtsmittel eingelegt werden können. Daran sind die Gerichte gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Frage der Fristwahrung hängt allein von den im Gesetz genannten objektiven Voraussetzungen ab. Sie kann nicht von der jeweiligen, auf internen Anordnungen der Gerichtsverwaltung beruhenden Organisation der Behandlung der in den gemeinsamen Nachtbriefkasten gelangten Sendungen abhängig gemacht werden. Die Entscheidung, ob eine Rechtsmittelfrist gewahrt ist oder nicht, ergäbe sich dann nämlich nicht mehr aus dem Gesetz allein, sondern hinge zusätzlich von - der Partei regelmäßig unbekannten und bei einzelnen Gerichten teilweise unterschiedlichen - internen Anordnungen über die Behandlung der eingegangenen Postsendungen ab. Die an dem gemeinsamen Nachtbriefkasten beteiligten Gerichte könnten, würde man den internen Anweisungen Beachtung schenken, den bereits mit dem Einwurf in den gemeinsamen Nachtbriefkasten begründeten (Mit-) Gewahrsam des zuständigen Gerichts dadurch vereiteln oder rückwirkend wieder beseitigen, daß sie die gemeinsame Annahmestelle "hinter" dem Nachtbriefkasten dergestalt organisieren , daß verschlossene Umschläge nicht zu öffnen sind (BAG aaO).
Eine Berechtigung oder gar eine Verpflichtung zu der hier gegebenen gerichtsinternen Anordnung über die Behandlung der an die Gerichtsvollzieherverteilungsstelle adressierten Postsendungen folgt entgegen der Ansicht
des Berufungsgerichts auch nicht daraus, daß in § 35 Nr. 1 GVO geregelt ist, daß die Gerichtsvollzieherverteilungsstelle den Zeitpunkt der Übergabe eines Auftrags auf dem Schriftstück zu vermerken hat. Damit wird lediglich eine Pflicht der Gerichtsvollzieherverteilungsstelle begründet. Wird Post für die Gerichtsvollzieherverteilungsstelle in den Nachtbriefkasten eingeworfen, der, da die Verteilungsstelle bei dem Amtsgericht eingerichtet ist, auch für den Einwurf dieser Post bestimmt ist, läßt sich der Regelung in § 35 Nr. 1 GVO nicht entnehmen , daß allein die Gerichtsvollzieherverteilungsstelle und nicht - auch - der Beamte, der zur Entgegennahme der Schriftstücke für alle an dem Nachtbriefkasten beteiligten Gerichte zuständig ist, seinerseits diese Post entgegennehmen und ihren Eingang bestätigen darf. Insofern unterscheidet sich der Fall von den den Entscheidungen BGH NJW 1994 aaO und BGH, Urt. v. 5. April 1990 - VII ZR 215/89, NJW 1990, 2822 zugrundeliegenden Fällen, da dort jeweils die Befugnis des Beamten, den Briefumschlag zu öffnen, aufgrund der nicht das Gericht betreffenden Adressierung des Umschlags ersichtlich nicht gegeben war.
Röhricht Goette Kraemer
Strohn Caliebe

Die Beweisaufnahme und die Anordnung eines besonderen Beweisaufnahmeverfahrens durch Beweisbeschluss wird durch die Vorschriften des fünften bis elften Titels bestimmt. Mit Einverständnis der Parteien kann das Gericht die Beweise in der ihm geeignet erscheinenden Art aufnehmen. Das Einverständnis kann auf einzelne Beweiserhebungen beschränkt werden. Es kann nur bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage vor Beginn der Beweiserhebung, auf die es sich bezieht, widerrufen werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
IV ZB 25/08
vom
9. Februar 2009
in dem Rechtsstreit
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch die Richter Seiffert,
Dr. Schlichting, Wendt, die Richterin Dr. Kessal-Wulf und den Richter
Felsch
am 9. Februar 2009

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Essen vom 11. Juni 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Wert: 3.115,99 €

Gründe:


1
Das I. Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 3.115,99 € nebst Zinsen zu zahlen. Ihre Prozessbevollmächtigten haben gegen das ihnen am 28. Januar 2008 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Der Schriftsatz trägt den Eingangsstempel des Landgerichts vom 29. Februar 2008. Auf den Hinweis des Berufungsgerichts, das Rechtsmittel sei nicht binnen der Monatsfrist des § 517 ZPO eingelegt, haben die Prozessbevollmächtigten mitgeteilt, die Berufungsschrift sei von einer Kanzleimitarbeiterin am Tage des Fristablaufs, dem 28. Februar 2008, persönlich bei der Gerichtsvollzieherverteilerstelle - zugleich Gemeinsame Briefannahme des Land- und Amtsgerichts - abgegeben worden, und sich zur Glaubhaftmachung auf die beigefügte eidesstattliche Versicherung der Mitarbeiterin bezogen.
2
Das Berufungsgericht hat die Akten daraufhin der Gerichtsvollzieherverteilerstelle zur Stellungnahme zugeleitet. Ein dort eingesetzter Justizbeschäftigter hat sich dahin geäußert, dass die Berufungsschrift den Eingangsstempel des Landgerichts trage, nicht aber den der Gemeinsamen Briefannahme. Der Schriftsatz sei nicht über die Gemeinsame Briefannahme gelaufen und habe von dieser daher auch nicht präsentiert werden können. Das Berufungsgericht hat durch die Berichterstatterin verfügt, den Prozessbevollmächtigten - formlos - eine Ablichtung der dienstlichen Stellungnahme zu übersenden. Die Verfügung trägt einen "Ab-Vermerk" der Geschäftsstelle; eine Stellungnahme ist indes nicht eingegangen.
3
Berufungsgericht Das hat daraufhin das Rechtsmittel gemäß §§ 522 Abs. 1, 517 ZPO unter Bezugnahme auf die dienstliche Stellungnahme des Mitarbeiters der Gemeinsamen Briefannahme als unzulässig verworfen, weil der Beklagten der ihr obliegende Nachweis des rechtzeitigen Eingangs der Berufungsschrift nicht gelungen sei. Zusätzlich hat es darauf verwiesen, die Gemeinsame Briefannahme verwende zu Präsentationszwecken einen eigenen Stempel; auf der Berufungsschrift befinde sich indes der Aufdruck des Stempels, der ausschließlich von der Wachtmeisterei des Landgerichts eingesetzt werde.
4
Gegen diese Verwerfungsentscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer Rechtsbeschwerde.
5
II. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig, weil nicht auszuschließen ist, dass die Rechte der Beklagten aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt worden sind (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO; vgl. BGHZ 154, 288, 296 f.). Dadurch ist der Beklagten möglicherweise der Zugang zu den Gerichten und zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert worden (BVerfGE 52, 203, 207).
6
1. Die Rechtsbeschwerde rügt unter anderem die Verletzung rechtlichen Gehörs mit der Begründung, der Inhalt der seitens des Berufungsgerichts eingeholten dienstlichen Äußerung sei der Beklagten vor Verwerfung ihres Rechtsmittels nicht bekannt gewesen. Auf Nachfrage des Senats im Rechtsbeschwerdeverfahren hat sie ergänzend mitgeteilt, entgegen der gerichtlichen Verfügung habe ihrer Prozessbevollmächtigten eine Ablichtung der dienstlichen Äußerung nicht vorgelegen. Daher habe sie keine Gelegenheit erhalten, ihr Vorbringen zu ergänzen und für dessen Richtigkeit Zeugenbeweis anzutreten und auf diese Weise den Nachweis für den fristgerechten Eingang der Berufungsschrift zu führen. Sie sei deshalb gehindert worden, dem Berufungsgericht folgenden Sachverhalt zu unterbreiten:
7
Die Kanzleimitarbeiterin sei mit dem betreffenden Schriftsatz am Tage des Fristablaufs vormittags bei der Gemeinsamen Briefannahme erschienen, die organisatorisch zum Amtsgericht gehöre. Dort befinde sich neben einem Posteingangsfach für das Amtsgericht ein gesondertes und entsprechend beschriftetes Eingangsfach für das Landgericht. In dieses habe die Mitarbeiterin den Schriftsatz eingelegt. Der in der Poststelle eingesetzte Justizbeschäftigte, der die vom Berufungsgericht eingeholte dienstliche Äußerung abgegeben habe, sei nur für das Postfach des Amtsgerichts und für den am Gebäude angebrachten Tages- und Nachtbriefkasten des Amts- und Landgerichts zuständig; diese Post versehe er mit dem Stempel der Gemeinsamen Briefannahme. Das in der Poststelle für das Landgericht unterhaltene Fach werde in der Regel einmal am Tag von den Wachtmeistern des Landgerichts geleert, die die darin befindliche Post mit dem Posteingangsstempel des Landgerichts präsentierten, wie er sich auch auf der Berufungsschrift befinde. Dabei könne es durchaus geschehen, dass Post, die im Nachgang zu der täglichen Abholung in das Fach eingelegt werde, erst am darauf folgenden Tage entnommen und abgestempelt werde, auch wenn sie schon am Vortage in das Fach des Landgerichts gelangt sei. Auf diese Besonderheiten im dienstlichen Ablauf finde sich am Posteingangsfach des Landgerichts kein Hinweis; sie seien durch ihre Prozessbevollmächtigten erst im Nachhinein durch Rückfragen bei den zuständigen Mitarbeitern des Amts- und Landgerichts in Erfahrung gebracht worden. Zum Beweis ihres Vorbringens hätte sie sich auf die dienstlichen Äußerungen bzw. Zeugenaussagen eben dieser Mitarbeiter bezogen. Diese Möglichkeit sei ihr durch die Vorgehensweise des Berufungsgerichts genommen worden.
8
2. Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Beteiligten ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor deren Erlass zu äußern. Das gilt auch, wenn die Verfahrensordnung - wie hier § 522 ZPO - die Anhörung der Parteien nicht ausdrücklich vorsieht; denn die Pflicht zur Anhörung folgt unmittelbar aus dem Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 53, 109, 113 f.; 52 aaO; BGH, Beschlüsse vom 15. August 2007 - XII ZB 101/07 - FamRZ 2007, 1725 Tz. 7 f.; vom 18. Juli 2007 - XII ZB 162/06 - VersR 2008, 1087 Tz. 6; vom 29. Juni 1993 - X ZB 21/92 - NJW 1994, 392 unter

II).


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Der Pflicht zur Anhörung ist nicht allein dadurch genügt, dass die betreffende Partei auf die vom Gericht beabsichtigte Vorgehensweise - die Verwerfung der Berufung als unzulässig - hingewiesen wird und sie sich dazu äußern kann. Es ist vielmehr erforderlich, dass ihr der Tatsachenstoff , den das Gericht für seine Entscheidung einbeziehen möchte, vollständig bekannt gemacht worden ist, damit sie in der Lage ist, ihr Vorbringen gegebenenfalls zu ergänzen und unter Beweis zu stellen. Das gilt insbesondere für den Fall, dass eine erste Stellungnahme der Partei dem erkennenden Gericht Anlass gegeben hat, eine dienstliche Äußerung einzuholen, deren Inhalt dem Vortrag der Partei entgegensteht und auf die sich das Gericht in seiner späteren und für die Partei nachteiligen Entscheidung stützen möchte.
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Es lässt sich derzeit nicht feststellen, ob das Berufungsgericht diesen Anforderungen nachgekommen ist und die Beklagte die Gelegenheit hatte, sich mit dem aus der dienstlichen Äußerung hervorgehenden Sachverhalt zu befassen und diesem gegebenenfalls entgegenzutreten. Schon der Zugang einer Ablichtung lässt sich aus den Gerichtsakten nicht nachvollziehen, da das Berufungsgericht nur eine formlose Übersendung verfügt hat. Überdies wäre das Berufungsgericht gehalten gewesen , anstatt die Ablichtung "kommentarlos" zu übersenden, die Beklagte darauf hinzuweisen, dass die bis dahin vorgelegten Mittel zur Glaubhaftmachung nicht mehr ausreichten und dieser Gelegenheit geben müssen, Zeugenbeweis anzutreten (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 - VI ZB 30/99 - VersR 2000, 1129 unter 3).
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3. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der angefochtene Beschluss auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruht. Hätte das Berufungsgericht seinen prozessualen Pflichten genügt und die Beklagte vor Erlass der angegriffenen Entscheidung ausreichend gehört, hätte diese darlegen können, weshalb sie aus ihrer Sicht den Schriftsatz zur Einlegung der Berufung rechtzeitig beim Berufungsgericht eingereicht hat.
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Ihr Vorbringen wäre auch erheblich gewesen. Das geltende Zivilprozessrecht enthält keine Vorschrift, die für den Eingang eines Schriftsatzes bei Gericht dessen "Annahme" durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder einen sonstigen Bediensteten vorschreibt. Es genügt für die Fristwahrung, dass für die Partei erkennbar an dem Schriftstück der Gewahrsam der zuständigen Stelle begründet worden ist, der es dann überlassen bleibt, die weiteren - dem Einfluss der Partei entzogenen - organisatorischen Abläufe gerichtsintern zu regeln (BVerfGE 52 aaO 208 ff.; BGHZ 80, 62, 63 f.).
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Daher ist es gleich, ob die Wachtmeister des Landgerichts das in der Gemeinsamen Briefannahme unterhaltene Postfach noch am selben Tage, an dem ein Schriftstück dort eingelegt worden ist, entleert und die darin befindlichen Schriftsätze mit dem Eingangsstempel des Landgerichts versehen haben. Es kann ebenso dahinstehen, ob sich am Postfach des Landgerichts ein Hinweis darauf befunden hat, mit welcher Regelmäßigkeit bzw. zu welchen Zeiten die darin eingelegte Post entnom- men wird. Entscheidend ist allein, wann der Schriftsatz in das Fach eingelegt worden und damit in den Empfangsbereich und die Verfügungsgewalt des Landgerichts gelangt ist, gleich ob die Partei mit einer Leerung des Fachs noch am selben Tage rechnen konnte (vgl. BGH, Urteile vom 25. Januar 1984 - IVb ZR 43/82 - VersR 1984, 388; vom 21. Juni 1989 - VIII ZR 252/88 - VersR 1989, 932; Beschluss vom 19. Juni 1986 - VII ZB 20/85 - VersR 1986, 1204 unter b). Kann die Beklagte den Nachweis für den von ihr beschriebenen fristgerechten Eingang am Vormittag des 28. Februar 2008 führen, ist ihr zugleich in Bezug auf den Eingangsstempel des Landgerichts, der das Datum vom 29. Februar 2008 trägt, der nach § 418 Abs. 2 ZPO erforderliche Gegenbeweis gelungen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1985 - X ZB 11/85 - VersR 1986, 60 unter 2 b).
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4. Das Berufungsgericht wird daher Veranlassung haben, sich mit dem ergänzenden Vorbringen der Beklagten auseinanderzusetzen, ihr Gelegenheit zu entsprechenden Beweisantritten zu geben und die von der Beklagten vorgebrachten gerichtsinternen organisatorischen Abläufe zu klären. Für die gebotene weitere Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsmittels der Beklagten gilt der Freibeweis, auch soweit es um die rechtzeitige Einlegung der Berufung geht und in diesem Zusammenhang um die Entkräftung des aus dem Eingangsstempel des Landgerichts ersichtlichen Datums. Dadurch werden die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung nicht herabgesetzt; zur Beweisführung ist der volle Beweis zu erbringen, wenn dieser auch nicht auf die Mittel des Strengbeweises beschränkt ist. Dabei ist der Beweiswert einer eidesstattlichen Versicherung, die lediglich auf Glaubhaftmachung angelegt ist, zum Nachweis der Fristwahrung regelmäßig nicht ausreichend. Insoweit muss - liegen entsprechende Beweisantritte vor - auf die Ver- nehmung der Beweispersonen als Zeugen oder auf andere Beweismittel zurückgegriffen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Juli 2007 aaO Tz. 8; vom 7. Dezember 1999 aaO unter 2; vom 29. Juni 1993 aaO; vom 8. Oktober 1985 aaO; Urteil vom 25. Oktober 1977 - VI ZR 198/76 - VersR 1978, 155 unter II 2 a). Die Beweislast, dass die Berufung rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen ist, trägt nach allgemeinen Grundsätzen die Beklagte als Rechtsmittelklägerin (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 1979 - III ZB 13/79 - VersR 1980, 90 unter 1 m.w.N.).
Seiffert Dr. Schlichting Wendt
Dr. Kessal-Wulf Felsch
Vorinstanzen:
AG Essen, Entscheidung vom 25.01.2008 - 20 C 342/07 -
LG Essen, Entscheidung vom 11.06.2008 - 10 S 84/08 -