Bundesgerichtshof Beschluss, 31. Jan. 2002 - III ZB 69/01

bei uns veröffentlicht am31.01.2002

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
III ZB 69/01
vom
31. Januar 2002
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Zu den Sorgfaltsanforderungen an den Prozeßbevollmächtigten, in dessen
Büro am letzten Tag der Berufungsfrist Handwerkerarbeiten in begrenztem
Umfang vorgenommen werden.
BGH, Beschluß vom 31. Januar 2002 - III ZB 69/01 - Thüringer OLG
LG Meiningen
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31. Januar 2002 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. Rinne und die Richter Dr. Wurm, Streck, Schlick und
Dörr

beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde der Kläger wird der Beschluû des 2. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts vom 13. August 2001 - 2 U 757/01 - aufgehoben.
Den Klägern wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Meiningen vom 29. März 2001 gewährt.

Gründe:


I.


Die Kläger legten gegen das ihrem Prozeûbevollmächtigten am 8. Mai 2001 zugestellte Urteil des Landgerichts am 20. Juni 2001 Berufung ein und beantragten wegen Versäumung der Berufungsfrist zugleich mit folgender Begründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Ihr Prozeûbevollmächtigter erster Instanz habe auf dem angefochtenen Urteil die Eintragung des Tages des Fristablaufs (8. Juni 2001) und zweier Vorfristen (4. und 6. Juni 2001) als
"Rotfrist" mit dem Zusatz "Berufung" verfügt. Die seit mehr als sechs Jahren für die Behandlung der Fristen allein verantwortliche Frau F., eine ausgebildete Rechtsanwalts- und Notargehilfin, die regelmäûig überwacht worden sei und bislang fehlerfrei gearbeitet habe, habe die Fristen im Rotfristenkalender eingetragen und die Akte am 8. Juni 2001 mit einem aufgeklebten Zettel "Rotfrist - letzte!" auf den Arbeitstisch des Prozeûbevollmächtigten unmittelbar vor dem Arbeitsstuhl vorgelegt. Der Prozeûbevollmächtigte sei am Vormittag dieses Tages nicht im Büro gewesen. Ein Tischler habe die Höhe eines Nebentisches im Büro des Prozeûbevollmächtigten verändern müssen. Da er den Nebentisch mit vielen Akten, darunter etwa 15 bis 20 Ordnern, belegt vorgefunden habe, habe dieser, um seine Arbeiten ausführen zu können, die Akten auf den Arbeitstisch des Prozeûbevollmächtigten gelegt. Nach Beendigung seiner Arbeiten habe er diese Akten wieder auf den Nebentisch gelegt. Darunter habe sich versehentlich auch die Akte in der vorliegenden Sache befunden. Der Prozeûbevollmächtigte habe sie dort erst am 9. Juni 2001 vorgefunden. Frau F. habe am 8. Juni 2001 entgegen der Weisung, vor dem Nachhausegehen den Fristenkalender zu kontrollieren, ihre Arbeitsstelle verlassen.
Das Berufungsgericht hat die Erteilung von Wiedereinsetzung versagt und die Berufung der Kläger als unzulässig verworfen.

II.


Die nach §§ 238 Abs. 2, 519 b Abs. 2, 547 ZPO statthafte und auch sonst (§§ 569, 577 ZPO) zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.

Die Kläger haben zwar die Berufungsfrist versäumt. Auf ihren rechtzeitigen Antrag ist ihnen jedoch gemäû §§ 233, 234 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Damit wird der die Berufung als unzulässig verwerfende Beschluû des Berufungsgerichts gegenstandslos.
Nach dem durch eidesstattliche Versicherungen des Prozeûbevollmächtigten erster Instanz, der Rechtsanwalts- und Notargehilfin F. und des die Arbeiten am Nebentisch ausführenden Handwerkers glaubhaft gemachten Vorbringen der Kläger waren sie ohne ein ihnen zuzurechnendes Verschulden ihres erstinstanzlichen Prozeûbevollmächtigten gehindert, die Berufungsfrist zu wahren. Hiernach beruhte die Versäumung der Berufungsfrist auf der Verkettung von zwei Umständen, nämlich der nicht voraussehbaren Entfernung der rechtzeitig vorgelegten Akte vom Arbeitstisch des Prozeûbevollmächtigten durch einen Handwerker, der an einem anderen Tisch Arbeiten auszuführen hatte, und der unterbliebenen Kontrolle von Frau F., ob die an diesem Tag anstehenden Fristsachen erledigt waren, als sie ihre Tätigkeit an diesem Arbeitstag beendete.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann ein Rechtsanwalt die Berechnung üblicher und in seiner Praxis häufig vorkommender Fristen sowie die Führung des Fristenkalenders seinem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen. Er muû aber durch geeignete organisatorische Maûnahmen dafür sorgen, daû Fristversäumnisse möglichst vermieden werden (vgl. BGH, Beschluû vom 6. Juli 1994 - VIII ZB 26/94 - NJW 1994, 2551 m.w.N.).
In Bezug auf das Verhalten von Frau F., der bislang bei der Behandlung von Fristensachen Fehler nicht unterlaufen waren, genügten die glaubhaft gemachten Weisungen und organisatorischen Maûnahmen, um ein Fristversäumnis möglichst zu vermeiden. Daû Frau F. an diesem Tag die Erledigung der anstehenden Fristsachen nicht kontrollierte, war nicht voraussehbar. Der ihr unterlaufene Fehler ist dem Prozeûbevollmächtigten der Kläger nicht zurechenbar.
Aber auch in Bezug auf das Verhalten des Handwerkers ist dem Prozeûbevollmächtigten der Kläger ein organisatorisches Versäumnis nicht anzulasten. Die insoweit andere Beurteilung des Berufungsgerichts überspannt die an den Rechtsanwalt zu stellenden Sorgfaltsanforderungen. Richtig ist die Überlegung des Berufungsgerichts, daû der hier unterlaufene Fehler ohne weiteres vermeidbar gewesen wäre, wenn der Nebentisch vor Beginn der Arbeiten durch Kanzleikräfte geräumt worden wäre oder wenn dem Handwerker genaue Instruktionen über die Zwischenlagerung der Akten erteilt worden wären. Um diese naheliegenden Maûnahmen zu ergreifen, bedurfte es jedoch nicht einer dahingehenden Anweisung durch den Prozeûbevollmächtigten. Der Auftrag des Handwerkers war begrenzt. Seine Ausführung lieû nicht besorgen, daû er für den reibungslosen Ablauf des Kanzleibetriebs eine erhöhte Gefahr darstellte. Auch ohne eine besondere Weisung durfte der Prozeûbevollmächtigte erwarten, daû seine Bediensteten das Notwendige veranlaûten, als der Handwerker, wie in der Beschwerde ausgeführt wird, zu einem nicht vorherge-
sehenen Zeitpunkt erschien, um die Arbeiten am Nebentisch auszuführen. Einer solchen Kleinigkeit muûte sich der Prozeûbevollmächtigte nicht persönlich annehmen.
Rinne Wurm Streck Schlick Dörr

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 577 Prüfung und Entscheidung der Rechtsbeschwerde


(1) Das Rechtsbeschwerdegericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Rechtsbeschwerde an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Rechtsbeschwerde a

Zivilprozessordnung - ZPO | § 233 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand


War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wieder

Zivilprozessordnung - ZPO | § 234 Wiedereinsetzungsfrist


(1) Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschw

Zivilprozessordnung - ZPO | § 569 Frist und Form


(1) Die sofortige Beschwerde ist, soweit keine andere Frist bestimmt ist, binnen einer Notfrist von zwei Wochen bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, oder bei dem Beschwerdegericht einzulegen. Die Notfrist beginnt, soweit nichts ande

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War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.

(1) Die sofortige Beschwerde ist, soweit keine andere Frist bestimmt ist, binnen einer Notfrist von zwei Wochen bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, oder bei dem Beschwerdegericht einzulegen. Die Notfrist beginnt, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit der Zustellung der Entscheidung, spätestens mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung des Beschlusses. Liegen die Erfordernisse der Nichtigkeits- oder der Restitutionsklage vor, so kann die Beschwerde auch nach Ablauf der Notfrist innerhalb der für diese Klagen geltenden Notfristen erhoben werden.

(2) Die Beschwerde wird durch Einreichung einer Beschwerdeschrift eingelegt. Die Beschwerdeschrift muss die Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diese Entscheidung eingelegt werde.

(3) Die Beschwerde kann auch durch Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden, wenn

1.
der Rechtsstreit im ersten Rechtszug nicht als Anwaltsprozess zu führen ist oder war,
2.
die Beschwerde die Prozesskostenhilfe betrifft oder
3.
sie von einem Zeugen, Sachverständigen oder Dritten im Sinne der §§ 142, 144 erhoben wird.

(1) Das Rechtsbeschwerdegericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Rechtsbeschwerde an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.

(2) Der Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts unterliegen nur die von den Parteien gestellten Anträge. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die geltend gemachten Rechtsbeschwerdegründe nicht gebunden. Auf Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, darf die angefochtene Entscheidung nur geprüft werden, wenn die Mängel nach § 575 Abs. 3 und § 574 Abs. 4 Satz 2 gerügt worden sind. § 559 gilt entsprechend.

(3) Ergibt die Begründung der angefochtenen Entscheidung zwar eine Rechtsverletzung, stellt die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen sich als richtig dar, so ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

(4) Wird die Rechtsbeschwerde für begründet erachtet, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen. § 562 Abs. 2 gilt entsprechend. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Gerichts erfolgen, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde liegt, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(5) Das Rechtsbeschwerdegericht hat in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Aufhebung der Entscheidung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Rechts auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist. § 563 Abs. 4 gilt entsprechend.

(6) Die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde ergeht durch Beschluss. § 564 gilt entsprechend. Im Übrigen kann von einer Begründung abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

War eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert, eine Notfrist oder die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde oder die Frist des § 234 Abs. 1 einzuhalten, so ist ihr auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Fehlen des Verschuldens wird vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft ist.

(1) Die Wiedereinsetzung muss innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Rechtsbeschwerde einzuhalten.

(2) Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist.

(3) Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.