Bundesgerichtshof Beschluss, 16. Nov. 2010 - 4 StR 530/10

bei uns veröffentlicht am16.11.2010

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 530/10
vom
16. November 2010
in der Strafsache
gegen
wegen schwerer Vergewaltigung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 16. November 2010
gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 22. Juni 2010 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "sexueller Nötigung (Vergewaltigung )" - richtig: schwerer Vergewaltigung (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Januar 2008 - 4 StR 595/07) - zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und die Anwendung des materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
Der Angeklagte rügt mit Recht, dass sich die Strafkammer in ihrem Urteil nicht mit einer von ihr als wahr unterstellten Tatsache auseinandergesetzt hat.
3
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen sich die Urteilsgründe zwar nicht stets mit einer als wahr unterstellten Behauptung auseinandersetzen. Eine Stellungnahme ist aber dann erforderlich, wenn nicht ohne Weiteres zu ersehen ist, wie die Beweiswürdigung mit der Wahrunterstellung in Einklang gebracht werden kann, oder wenn aus sonstigen Gründen ohne ausdrückliche Erörterung der als wahr unterstellten Tatsache die Überlegungen des Gerichts zur Beweisführung lückenhaft bleiben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. November 2000 - 1 StR 303/00, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 36, und vom 6. Juni 2002 - 1 StR 33/02, StV 2002, 641, 642; Becker in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 317 jeweils m.w.N.).
4
Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte die Vergewaltigung begangen, nachdem er "plötzlich etwa gegen 0.00 Uhr" vom späteren Opfer in dessen Schlafzimmer wahrgenommen worden war (UA 10). Mit dieser Feststellung ist nicht ohne Weiteres vereinbar, dass das Landgericht infolge der Ablehnung des auf die Vernehmung eines Zeugen gerichteten Beweisantrags (ohne nähere Begründung) als wahr unterstellt hat, dass der Zeuge am Vortag "bis gegen 24.00 Uhr in der Wohnung [des Angeklagten] gewesen ist und dabei auch den Angeklagten gehört hat". Angesichts dieser (durch Beweiserhebung bzw. Wahrunterstellung) festgestellten Zeiten hätte das Landgericht im Urteil erörtern müssen, ob bzw. dass es dem Angeklagten möglich war, in dem ihm verbleibenden Zeitraum die (ebenfalls nicht mitgeteilte) Entfernung zwischen seiner Wohnung und der seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau zu Fuß (UA 10) zu überwinden und dort in das Schlafzimmer zu gelangen.
Ernemann Roggenbuck Cierniak
Mutzbauer Bender

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Bundesgerichtshof Beschluss, 16. Nov. 2010 - 4 StR 530/10 zitiert 3 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

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Bundesgerichtshof Beschluss, 29. Jan. 2008 - 4 StR 595/07

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 595/07 vom 29. Januar 2008 in der Strafsache gegen wegen besonders schwerer Vergewaltigung u.a. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 29.

Bundesgerichtshof Beschluss, 06. Juni 2002 - 1 StR 33/02

bei uns veröffentlicht am 06.06.2002

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 33/02 vom 6. Juni 2002 in der Strafsache gegen wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Juni 2002 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf

Bundesgerichtshof Urteil, 07. Nov. 2000 - 1 StR 303/00

bei uns veröffentlicht am 07.11.2000

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 303/00 vom 7. November 2000 in der Strafsache gegen wegen Betrugs Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 7. November 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 595/07
vom
29. Januar 2008
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schwerer Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 29. Januar 2008 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 26. Juli 2007
a) im Schuldspruch dahin klargestellt, dass der Angeklagte der besonders schweren Vergewaltigung und der schweren Vergewaltigung schuldig ist,
b) mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen schuldig gesprochen, "wobei er in einem Fall ein gefährliches Werkzeug verwendete und in dem anderen Fall ein sonstiges Mittel bei sich führte, um den Widerstand einer anderen Person durch Drohung mit Gewalt zu verhindern". Es hat ihn deswegen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und im Fall II. 2 im Adhäsionsverfahren der Nebenklägerin Schadensersatz zuerkannt.
2
Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt, ist zum Schuld-, Straf- und Adhäsionsausspruch unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO, weil die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung insoweit keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat. Der Maßregelausspruch hat hingegen keinen Bestand.
3
1. Im Fall II. 2 tragen die Feststellungen eine Verurteilung des Angeklagten wegen des Qualifikationstatbestandes des § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB (vgl. BGH NStZ 2004, 261). Dass die Strafkammer dies bei der rechtlichen Würdigung der Tat in den Urteilsgründen nicht zum Ausdruck gebracht hat, steht dem nicht entgegen. Das Landgericht ist deshalb bei der Strafzumessung im Ergebnis zu Recht von dem sich aus § 177 Abs. 3 StGB ergebenden erhöhten Strafrahmen von drei Jahren bis 15 Jahren Freiheitsstrafe ausgegangen. Der Erörterung des § 177 Abs. 5 2. Halbs. StGB bedurfte es nicht, da die Annahme eines minder schweren Falles bei dem rechtsfehlerfrei festgestellten Tatgeschehen fern lag.
4
Jedoch ist die Urteilsformel mit Blick auf die Verwirklichung der Qualifikationstatbestände dahin klarzustellen, dass der Angeklagte im Fall II. 1 der besonders schweren Vergewaltigung (§ 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB) und im Fall II. 2 der schweren Vergewaltigung (§ 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB) schuldig ist (vgl. BGHR StPO § 260 IV 1 Urteilsformel 4).
5
2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
6
Die Anordnung dieser Maßregel kommt nur bei solchen Personen in Betracht , deren Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit durch einen positiv festgestellten, länger andauernden und nicht nur vorübergehenden Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB hervorgerufen ist (st. Rspr., BGHSt 34, 22, 27; 42, 385 f.). Diese Voraussetzungen sind nicht rechtsfehlerfrei dargetan.
7
Das Landgericht hat angenommen, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei bei der ersten Tat, nicht hingegen bei der zweiten Tat, erheblich im Sinne des § 21 StGB infolge einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung (UA 16) vermindert gewesen. Der Angeklagte weise eine kombinierte Persönlichkeitsstörung auf der "Basis einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur in Form eines sogenannten 'verdeckten Narzissmus' " auf, die für sich genommen zwar eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit nicht begründen könne. Jedoch habe sich der Angeklagte bei Begehung der Tat II. 1, anders als bei der zweiten Tat, auf Grund einer akuten und ernsten Beziehungskrise mit seiner damaligen Lebensgefährtin Oxana S. in einer belastenden Situation im Sinne einer Lebenskrise befunden. Dies habe im Zusammentreffen mit dem labilen Persönlichkeitsgefüge des Angeklagten bei Begehung der ersten Tat zum Nachteil der Sandra Sch. infolge einer affektiv bedingt eingeengten Wahrnehmung zu einem sexuellen Impulsdurchbruch geführt, welcher für den Angeklagten nur bedingt steuerbar gewesen sei.
8
a) Eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat II. 1 wird durch diese Ausführungen nicht belegt.
9
Die der Schuldfähigkeitsbeurteilung als Anknüpfungstatsache zu Grunde gelegte "akute und ernste" trennungsbedingte Krisensituation des Angeklagten kann dem angefochtenen Urteil nicht entnommen werden. Ausweislich der Urteilsgründe ging die Trennung nämlich nicht etwa von Oxana S. , sondern vom Angeklagten aus. Es war auch der Angeklagte, der darauf bestand, dass Oxana S. ca. zwei Monate vor der Tat aus der gemeinsamen Wohnung auszog, was diese auch befolgte. Vor diesem Hintergrund ist bereits nicht zu erkennen, weshalb sich die Trennung von seiner Lebensgefährtin für den Angeklagten noch zwei Monate später bei Begehung der Tat zum Nachteil der Sandra Sch. als schwere Belastungssituation darstellen konnte.
10
Hinzu kommt, dass sich die Strafkammer nicht damit auseinandergesetzt hat, dass die Tat II. 2, die der Angeklagte ca. zehn Monate nach der ersten Tat in - wovon die Strafkammer rechtsfehlerfrei ausgeht - uneingeschränkt schuldfähigem Zustand beging, ein nahezu identisches Tatmuster wie die erste Tat aufwies. Dies gilt nicht nur für das Sichbemächtigen der dem Angeklagten unbekannten jungen Frauen anlässlich nächtlicher Fahrten durch Halle und die Durchführung der Taten selbst, sondern auch für die sinngleichen, drohenden Äußerungen des Angeklagten gegenüber den jeweiligen Tatopfern, etwa "er habe nichts zu verlieren" bzw. ihm "sei sowieso alles egal". In Anbetracht der übereinstimmenden Tatbilder vermag die von der Strafkammer hervorgehobene Äußerung des Angeklagten gegenüber der Nebenklägerin bei Begehung der Tat II. 2 die unterschiedliche Schuldfähigkeitsbeurteilung nicht zu belegen (UA 16).
11
b) Darüber hinaus vermögen die Feststellungen des Landgerichts die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus auch deshalb nicht zu tragen, weil ihnen eine die Unterbringung rechtfertigende Stö- rung im Sinne eines länger andauernden "Zustands" nicht entnommen werden kann.
12
Nach den bisherigen Feststellungen führt die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung vielmehr erst dann zu einer Verminderung der Schuldfähigkeit, wenn sich der Angeklagte in "mehr oder weniger krisenhaften Situationen, insbesondere Beziehungskrisen" befindet. Diese auf die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung zurückzuführende Disposition, in bestimmten Belastungssituationen wegen mangelnder Fähigkeit zur Impulskontrolle in den Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit zu geraten, reicht zur Bejahung eines dauernden Zustands im Sinne des § 63 StGB nicht aus (vgl. Senatsbeschlüsse vom 2. Dezember 2004 - 4 StR 452/04 und vom 10. Januar 2008 - 4 StR 626/07).
13
3. Der Maßregelausspruch kann daher nicht bestehen bleiben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil sich möglicherweise noch Feststellungen treffen lassen, die die Maßregelanordnung tragen können. Für die neue Hauptverhandlung wird es sich jedoch empfehlen, einen weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen. Der Strafausspruch wird durch die Aufhebung der Unterbringungsanordnung nicht berührt, da der Angeklagte durch die Annahme des § 21 StGB im Fall II. 1 bei der Strafzumessung nicht beschwert ist.
Tepperwien Maatz RiBGH Athing ist infolge Urlaubs gehindertzuunterschreiben
Tepperwien
Solin-Stojanović Sost-Scheible

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 303/00
vom
7. November 2000
in der Strafsache
gegen
wegen Betrugs
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 7. November
2000, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Nack,
Dr. Wahl,
Schluckebier,
Schaal,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 10. März 2000 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung , auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Betruges unter Einbeziehung von Einzelfreiheitsstrafen aus einem anderen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt und eine in der anderen Sache zugleich verhängte Gesamtgeldstrafe daneben bestehen lassen. Die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge und mit der Sachbeschwerde Erfolg.

I.


Nach den Feststellungen des Landgerichts machte die Angeklagte unter der falschen Behauptung einer voraufgegangenen Darle-
henshingabe einen entsprechenden Rückzahlungsanspruch gegen Dr. L. geltend, der ein langjähriger Bekannter der Angeklagten und ihres Ehemannes war, mittlerweile aber verstorben ist. Dazu kam es wie folgt: Im Jahr 1986 hatten die Angeklagte und ihr Ehemann, der eine urologische Praxis betrieb, erhebliche finanzielle Probleme; sie benötigten dringend weitere Bankkredite. Um den Eheleuten zu helfen, übernahm Dr. L. , der in guten Vermögensverhältnissen lebte, selbstschuldnerische Bürgschaften in Höhe von 700.000 DM gegenüber deren Bank und ließ zu Gunsten der Bank eine Grundschuld in gleicher Höhe auf seinem Grundstück eintragen.
Im Jahr 1994 forderte die AngeklagteDr. L. durch Schreiben ihres Rechtsanwalts zur Rückzahlung eines - wie sie behauptete - von ihr am 20. Mai 1986 an Dr. L. gewährten Bardarlehens in Höhe von 400.000 DM nebst zwischenzeitlich angefallenen Zinsen auf. Sie ließ die Kopie einer Quittung über eine entsprechende Darlehensauszahlung vorlegen, welche sich nach der Beweiswürdigung des Landgerichts als Totalfälschung erweist. Im selben Jahr nahm die Bank Dr. L. als Bürge in Anspruch. Dieser mußte an die Bank der Angeklagten 504.582,61 DM für deren Schuld zahlen, um die Zwangsvollstreckung in sein Grundstück abzuwenden. Den daraus in gleicher Höhe erwachsenen Rückgriffsanspruch gegen die Angeklagte trat er an seine Ehefrau ab, die ihn im Klagewege gegen die Angeklagte geltend machte. In dem daraufhin geführten Zivilprozeß verteidigte sich die Angeklagte erneut damit, an Dr. L. ein Darlehen über 400.000 DM gegeben zu haben und legte wiederum die Kopie einer gefälschten Quittung über die angebliche Ausfolgung des Darlehens vor. Die Parteien schlossen schließlich einen au-
ßergerichtlichen Vergleich, wonach die Angeklagte an die Ehefrau des Dr. L. 250.000 DM zu zahlen hatte; die Klage wurde zurückgenommen. Das Landgericht ist überzeugt, daß die Angeklagte tatsächlich kein Darlehen an Dr. L. gegeben hatte. Es hat die Geltendmachung eines entsprechenden Rückzahlungsanspruchs als versuchten Betrug bewertet.
Die Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahin eingelassen , Dr. L. sei ein alter Freund ihres Ehemannes gewesen. 1986 habe er befürchtet, daß seiner Ehefrau im Scheidungsfalle ein hoher Zugewinnausgleichsanspruch zuerkannt werde; er habe diesen reduzieren wollen. Deshalb sei vereinbart worden, daß sie, die Angeklagte, Dr. L. ein Darlehen über 400.000 DM gebe. Sie habe das Geld im Tresor einer Freundin in der Nähe von Zürich deponiert gehabt und den Betrag im Beisein des - mittlerweile verstorbenen - A. , einem gemeinsamen Freund der Familien B. und Dr. L. , an Dr. L. übergeben und sich von beiden eine Quittung unterschreiben lassen. Zwei bis drei Tage später habeDr. L. gegenüber der Bank zwei selbstschuldnerische Bürgschaften im Gesamtwert von 700.000 DM übernommen. Das Original der Quittung habe A. aufbewahrt; nach dessen Tod sei es nicht mehr auffindbar gewesen.
Das Landgericht hält diese Einlassung für widerlegt. Die behauptete Darlehenshingabe erachtet es zunächst nach der Würdigung mehrerer Zeugenaussagen weder für nachgewiesen noch für sicher widerlegt. Die Überzeugung davon, daß die entsprechende Behauptung der Angeklagten unzutreffend sei, gewinnt es sodann maßgeblich auf der
Grundlage einer Bewertung der Vermögensverhältnisse der Angeklagten einerseits und des Dr. L. andererseits. Die Strafkammer hebt hervor, Dr. L. habe seinerzeit in besten Vermögensverhältnissen gelebt, die Angeklagte hingegen erhebliche Schulden und laufenden Kreditbedarf gehabt. Unter diesen Umständen sei es völlig unverständlich, wenn die Angeklagte Kredite mit entsprechenden Kreditkosten in Anspruch genommen hätte, anstatt den angeblich in der Schweiz frei verfügbaren Darlehensbetrag in Höhe von 400.000 DM einzusetzen. Auch der Erklärung der Angeklagten, Dr. L. habe das Darlehen von ihr genommen, um sein Endvermögen im Blick auf einen Zugewinnausgleich im Scheidungsverfahren zu reduzieren, folgt die Strafkammer nicht. Dr. L. habe in einem entsprechenden Anwaltsschriftsatz mit der Aufstellung seines Vermögens zwar seine Bürgschaftsverpflichtung, nicht aber eine Darlehensverbindlichkeit in Höhe von 400.000 DM in Abzug gebracht.

II.


Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist Erörterungsmängel auf.
1. Die Revision rügt mit Erfolg, das Landgericht habe eine auf einen entsprechenden Beweisantrag hin als wahr unterstellte Behauptung nicht in die Beweiswürdigung eingestellt und nicht erwogen. Die Verteidigung hatte die Vernehmung einer in der Schweiz aufenthältlichen Freundin der Angeklagten als Zeugin zum Beweis dafür beantragt, daß die Angeklagte tatsächlich am 20. Mai 1986 - dem Tag der behaupteten
Darlehenshingabe - bei der Zeugin erschienen sei, um Geld aus deren Tresor zu entnehmen, welches sie bereits seit längerer Zeit dort deponiert gehabt habe. Die Strafkammer hat diesen Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO abgelehnt, weil die Vernehmung der Zeugin zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei. Darüber hinaus hat sie in ihrem Ablehnungsbeschluß allerdings als wahr unterstellt, daß die Angeklagte an dem in Rede stehenden Tag bei der Zeugin erschienen sei und "etwas" aus dem Tresor entnommen habe. In ihrer Beweiswürdigung kommt die Strafkammer darauf nicht zurück.
Die Revision beanstandet mit Recht, daß sich das Landgericht in der Beweiswürdigung mit der als wahr unterstellten Tatsache nicht auseinandergesetzt hat. Das erweist sich hier als Verfahrensmangel (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwar anerkannt, daß sich der Tatrichter in den Urteilsgründen grundsätzlich nicht ausdrücklich mit als wahr unterstellten Tatsachen auseinandersetzen muß. Feststellungen und Beweiswürdigung dürfen der Wahrunterstellung lediglich nicht widersprechen; sie müssen sich mit ihr in Einklang bringen lassen. Die in der Wahrunterstellung liegende Zusage kann es aber im Einzelfall ausnahmsweise und weitergehend gebieten , die als wahr unterstellte Tatsache im Rahmen der Beweiswürdigung ausdrücklich mit zu erwägen. Das ist dann der Fall, wenn sich dies angesichts der im übrigen gegebenen Beweislage aufdrängt und die Beweiswürdigung sich sonst als lückenhaft erwiese (so schon BGHSt 28, 310, 311; vgl. auch BGH StV 1984, 142; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 12, 13). So aber liegt es hier. Gerade weil die Strafkammer nach ausführlicher Würdigung der Zeugenaussagen zur
Frage einer Darlehensgewährung von einem "non liquet" ausgeht und seine Überzeugung maßgeblich auf eine Bewertung der wirtschaftlichen Verhältnisse sowohl der Angeklagten als auch des Dr. L. s tützt, hätte die unterstellte Tatsache, daß die Angeklagte wirklich, wie von ihr behauptet , am 20. Mai 1986 in Zürich bei ihrer Freundin "etwas" aus deren Tresor entnommen hat, für ihre Einlassung sprechen und ein bedeutsames Indiz für ihre Sachverhaltsdarstellung sein können. Sie war ersichtlich geeignet, das Verteidigungsvorbringen in einem wesentlichen Detail zu stützen. Deshalb durfte sie in der Beweiswürdigung nicht übergangen werden, wenn auch gewichtige Indizien für eine Täterschaft der Angeklagten sprechen mochten.
Danach kann auf sich beruhen, daß auch die Ablehnung des in Rede stehenden Beweisantrages - soweit dessen Behauptungen über die Wahrunterstellung hinausgingen - nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO im Blick auf die Aufklärungspflicht des Tatrichters rechtlichen Bedenken begegnet. Ausweislich der Ablehnungsgründe hatte die benannte, in der Schweiz nahe Zürich lebende Zeugin im vorausgegangenen Zivilprozeß der Zivilkammer mitgeteilt, die Angeklagte habe ihr bereits vor Jahren "von diesem Darlehen an Dr. L. erzählt" (vgl. zur Aufklärungspflicht bei sogenannten Auslandszeugen BGH, Beschluß vom 5. September 2000 - 1 StR 325/00). Das hätte es nahelegen können, diesem Beweisantrag uneingeschränkt nachzugehen.
2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist darüber hinaus auch sachlich-rechtlich lückenhaft, weil es naheliegende, sich aufdrängende Möglichkeiten und Umstände nicht erwogen hat. Die Strafkammer nimmt
an, eine Darlehensgewährung der Angeklagten an den vermögenden Dr. L. sei wirtschaftlich nicht sinnvoll gewesen. Die Einlassung der Angeklagten , Dr. L. habe im Blick auf einen etwaigen Zugewinnausgleich sein Endvermögen reduzieren wollen, räumt die Strafkammer mit der Erwägung aus, daß er in seiner Vermögensaufstellung tatsächlich zwar die Bürgschaftsverpflichtung, nicht aber die Darlehensverbindlichkeit angegeben habe. Dabei geht die Strafkammer indessen daran vorbei, daß Dr. L. das Ziel einer Reduzierung seines Endvermögens möglicherweise nicht in dem erstrebten Umfang hätte erreichen können, wenn er neben der Bürgschaft zugleich das genommene Darlehen in die Vermögensaufstellung eingestellt hätte; denn das hätte Einfluß auf die Bewertung der selbstschuldnerischen Bürgschaftsverpflichtung haben können (vgl. § 1375 Abs. 1, § 1376 Abs. 2, 3 BGB). Für den Fall seiner Inanspruchnahme aus der Bürgschaft hätte hinsichtlich des - schon mit Übernahme der Bürgschaft aufschiebend bedingt entstandenen (vgl. BGH NJW 1974, 2000, 2001) - Rückgriffsanspruchs des Dr. L. einerseits und der Darlehensforderung der Angeklagten andererseits eine Aufrechnungslage entstehen können (vgl. § 774 Abs. 1 Satz 1, § 387 BGB).
Zudem mußte sich vor diesem Hintergrund die Frage aufdrängen, ob die Darlehensgewährung in Höhe von 400.000 DM - die mit der über einen Zehnjahreszeitraum anfallenden Zinslast dem Betrag der Bürgschaft und der auf dem Grundstück des Dr. L. eingetragenen Grundschuld entsprechen sollte - nicht gleichsam eine verdeckte Absicherung für den Fall der Inanspruchnahme des Dr. L. aus der Bürgschaft war. Dieser Gesichtspunkt bedurfte um so mehr der Würdigung, als der fest-
gestellte alleinige Beweggrund des Dr. L. für die Übernahme einer Bürgschaft in Höhe von 700.000 DM und die Eintragung einer Grundschuld auf seinem Grundstück (Hilfe für einen alten Freund) bei einem finanziellen Risiko in dieser Höhe eher als ungewöhnlich erscheint. Das Landgericht hat auch diesen Gesichtspunkt nicht erwogen, obgleich er nach Lage des Falles hätte bedacht werden müssen.
Nach allem kommt es nicht mehr darauf an, daß das Landgericht sich auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob es sich bei dem nach der Einlassung der Angeklagten in einem Schweizer Tresor lagernden Bargeldbetrag von 400.000 DM um sogenanntes Schwarzgeld handeln konnte, bei dem die Angeklagte und ihr Ehemann auch eingedenk ihrer hohen Verbindlichkeiten einen Grund gesehen haben könnten , ihn nicht zu deklarieren und in ihre Buchführung einzustellen. Darauf hat sich die Angeklagte zwar selbst nicht berufen; indessen hätte sie sich dann möglicherweise einer weiteren Straftat bezichtigen müssen.
3. Der Schuldspruch kann mithin nicht bestehen bleiben. Der Senat vermag nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß die Strafkammer zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn sie sich mit den bezeichneten Umständen näher auseinandergesetzt hätte. Auch der Rechtsfolgenausspruch muß danach entfallen. Sollte der neue Tatrichter keine weiteren Beweise für einen Betrugsversuch der Angeklagten erheben können, wird er auch zu beachten haben, daß eine Verurteilung nur auf eine hinreichend tragfähige Tatsachengrundlage gestützt werden kann (vgl. BGH NStZ 1981, 33; 1986, 373). Bei der rechtlichen Würdigung wäre zu bedenken, daß hinsichtlich der vorprozessualen Rückzahlungs-
aufforderung gegenüber Dr. L. auch die Merkmale der Täuschung und Irrtumserregung geprüft werden müßten (§ 263 Abs. 1 StGB).
Schäfer Nack Wahl Schluckebier Schaal

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn

1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist,
2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist,
3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist,
4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist,
5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder
6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.

(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.

(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 33/02
vom
6. Juni 2002
in der Strafsache
gegen
wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Juni 2002 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 24. September 2002 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I.


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von mehreren Ausländern in zehn Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge (§ 261 StPO) Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts vermittelte der Angeklagte im Rahmen einer vielköpfigen Schleuserorganisation zusammen mit seiner Ehefrau gegen Bezahlung von seiner Bar in S. /Schweiz aus Ausländer, die nicht die für einen Aufenthalt in Deutschland erforderlichen Papiere hatten, an Fahrer, welche die Einreisewilligen von Italien nach Deutschland brachten.
Dazu gewann der Angeklagte C. , St. und J. . In der Zeit vom 19. Mai 1999 bis zum 5. Juni 1999 führte C. zwei Schleusungsfahrten durch mit fünfzehn bzw. sieben Ausländern. Am 2. Juli 1999 transportierten C. und St. dreiundzwanzig Jugoslawen über den Grenzübergang Kiefersfelden-Autobahn illegal nach Deutschland. Zwischen dem 30. September und dem 18. November 1999schleuste J. sechsmal jeweils mindestens vier Ausländer und am 28. November 1999 drei Jugoslawen und vier Iraner. Die geständigen Fahrer wurden wegen ihrer Taten - J. bislang nur wegen der Tat vom 28. November 1999 - bereits rechtskräftig zu vergleichsweise geringen Freiheitsstrafen verurteilt.

II.


Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist lückenhaft, wie die zulässig erhobene Verfahrensrüge aufweist. Die Revision beanstandet mit Erfolg, daû das Landgericht ein wesentliches Ergebnis der Beweisaufnahme - hier eine als wahr unterstellte Behauptung - nicht in die Beweiswürdigung eingestellt und nicht erwogen hat.
aa) Die Verurteilung des Angeklagten beruht ausschlieûlich auf den Angaben der drei oben genannten Fahrer, die den Angeklagten jeweils als Auftraggeber identifizierten. Den Urteilsgründen ist zwar nicht zu entnehmen, ob und ggf. wie sich der Angeklagte eingelassen hat. Der Gesamtzusammenhang ergibt jedoch, daû geständige Einlassungen je-
denfalls nicht vorlagen. Die Feststellungen zur Tatbeteiligung der Ehefrau des Angeklagten, die sich noch in Italien in Auslieferungshaft befindet, basieren vor allem auf Angaben des C. . In der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten konnte nur der Zeuge St. als Zeuge vernommen werden. C. und J. erschienen nicht, obgleich beide die Ladung in der Schweiz erhalten hatten. Deren „polizeiliche und richterliche Aussagen“ (in den gegen diese gerichteten Verfahren) wurden verlesen.
bb) Der Angeklagte beantragte während der Hauptverhandlung, Rechtsanwalt Ce. aus Lugano zu vernehmen, zum Beweis der Tatsache, daû C. am 12. März 2001 bei Rechtsanwalt Ce. erschienen ist und folgende - schriftliche und von C. unterschriebene - Erklärung abgegeben hat: „Mit heutigem Datum werde ich von Fräulein G. Da. , Tochter der G. Sl. , in Kenntnis gesetzt, dass letztere von den italienischen Behörden auf Anweisung der deutschen Behörden wegen Verletzung des deutschen Bundesgesetzes über die Einwanderung festgenommen worden ist. Für dieses Vorgehen haben die Behörden auch von Protokollen Gebrauch gemacht, die angeblich von mir diktiert und unterschrieben worden sind. Aus diesem Grund erkläre ich hiermit, dass meine Bekanntschaft mit Frau G. Sl. sich allein auf die Tatsache beschränkt, dass ich seit über 10 Jahren Kunde des Cafés bin, das dem Ehemann der oben genannten Person gehört. Ich erkläre daher, dass die Protokolle, die meine persönlichen Daten angeben, nicht der Wirklichkeit entsprechen, da die Vergehen, für die mich die deutschen Behörden zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt haben, ohne Beihilfe der oben erwähnten G. SL. , bosnische Staatsbürgerin, 1956, wohnhaft in S. Schweiz begangen wurden, und ich bestätige , dass ich nie davon Kenntnis hatte, dass G. Sl. diese
Arten illegaler Aktivitäten ausgeübt hätte.“ (So der Wortlaut der Übersetzung des ebenfalls übergebenen Originals in italienischer Sprache.)
Die Vernehmung des Zeugen hat die Strafkammer gemäû § 244 Abs. 3 Satz 2 letzte Alt. StPO abgelehnt. ¹Das Beweisthema wird als wahr unterstellt.“
In den Urteilsgründen findet sich zu der als wahr unterstellten Tatsache kein Wort. Die Erklärung wird nicht erwähnt.
cc) Dies ist nicht frei von Rechtsfehlern.
Der Beweiswürdigung sind alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zugrunde zu legen (§ 261 StPO). In den schriftlichen Urteilsgründen muû sich dies widerspiegeln unter Darlegung der wesentlichen Aspekte der Beweisführung, soweit dies zu deren Verständnis und zur Überprüfung des Urteils notwendig ist (§ 267 Abs. 1 Satz 2 StPO). Beweiserhebungen, die sich für die Beweisführung als bedeutungslos herausstellen, bedürfen keiner Erwähnung. Dies gilt auch für - zunächst als erheblich angesehene - entlastende Tatsachen, deren Vorhandensein nach einem entsprechenden Beweisantrag als wahr unterstellt wurde.
Die Urteilsgründe müssen sich somit nicht stets mit einer als wahr unterstellten Behauptung auseinandersetzen. Eine Stellungnahme ist aber dann erforderlich, wenn nicht ohne weiteres zu ersehen ist, wie die Beweiswürdigung mit der Wahrunterstellung in Einklang gebracht werden kann, oder wenn aus sonstigen Gründen ohne ausdrückliche Erörterung
der als wahr unterstellten Tatsache die Überlegungen des Gerichts zur Beweisführung lückenhaft bleiben (BGHSt 28,310,311; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende, 11; BGH NStZ-RR 2001,261).
Hier war zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des ¹Zeugenª C. eine Auseinandersetzung mit seiner bei Rechtsanwalt Ce. in Lugano am 12. März 2001 abgegebenen schriftlichen Erklärung im Rahmen der Beweiswürdigung unverzichtbar.
Die Strafkammer stützte nicht nur den Schuldspruch im ersten Tatkomplex ausschlieûlich auf diesen Zeugen. Sie sah durch seine Angaben zudem die Glaubwürdigkeit des Zeugen St. bestätigt und meinte deshalb einem Alibibeweis für die -gewichtigste- Tat am 2. Juli 2001 durch Vernehmung eines Auslandszeugen gemäû § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO nicht nachgehen zu müssen. Demgegenüber bezichtigte sich C. in seiner schriftlichen Erklärung nunmehr der Lüge, er habe die Ehefrau des Angeklagten mit seinen Angaben in Deutschland zu Unrecht belastet. Darüber hinaus distanzierte sich C. von seinen früheren Angaben insgesamt. Dies hätte eingehender Erörterung bedurft. In diese wäre einzubeziehen gewesen, daû C. es vorgezogen hatte, in der Hauptverhandlung nicht zu erscheinen, deshalb auf die Verlesung seiner früheren Aussagen bei Polizei und Richter zurückgegriffen werden muûte und daû es sich dabei lediglich um Beschuldigtenvernehmungen handelte.
Die Lücke in der Beweiswürdigung wird nicht durch die Verweisung in den Urteilsgründen ¹auf den Beschluû der Kammer in der Hauptver-
handlung zu diesem Beweisantragª im Zusammenhang mit den Darlegungen zum Verzicht auf die Ladung des als Alibizeuge benannten Professor Dr. Jo. , Belgrad. Eine Verweisung auf andere Dokumente ist in den Urteilsgründen nur im Umfang des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO, d.h. bei Abbildungen , statthaft. Hinweise auf Schriften sind in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht grundsätzlich unbeachtlich (vgl. LR-Gollwitzer StPO 25. Aufl. § 267 Rdn. 9). Zwar teilt hier die Revisionsbegründung mit einer der Verfahrensrügen den Inhalt des Ablehnungsbeschlusses mit, so daû der Senat von dessen Inhalt Kenntnis hat. Doch genügen auch die darin enthaltenen knappen Ausführungen zur Glaubwürdigkeit des C. nicht. Der Satz, ¹Dessen Glaubwürdigkeit wird trotz der vorgelegten Erklärung von ihm bezüglich einer falschen Mittäterschaft von Frau G. vom Gericht bezüglich seiner Aussage gegen G. nicht bezweifeltª, mag ein mögliches Ergebnis der gebotenen Erörterung wiedergeben, ersetzt diese aber nicht.
Der Senat vermag nicht auszuschlieûen, daû die Strafkammer bei Einbeziehung der Erklärung des C. in die Beweiswürdigung dessen Angaben auch hinsichtlich des Angeklagten anders beurteilt hätte. Damit ist auch eine andere Bewertung der Aussagen der Zeugen St. und J. nicht auszuschlieûen. Auf den Angaben dieser drei Personen beruht das Urteil. Die Sache muû deshalb insgesamt neu verhandelt und entschieden werden.

b) Auf die weiteren Rügen kommt es deshalb nicht mehr an, insbesondere nicht auf die ebenfalls beanstandete Ablehnung der Vernehmung des Zeugen Professor Dr. Jo. , Belgrad, zum Beweis dafür,
daû sich der Angeklagte vom 15. Juni bis zum 8. Juli 1999 -also auch während der Haupttat am 2. Juli 1999- im ¹Serbischen Klinikzentrumª in Belgrad befand gemäû § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO. Ob der dazu vorgelegte ¹Entlassungsscheinª echt ist bzw. ob der Angeklagte während der angegebenen Zeit tatsächlich in der Klink in Belgrad lag, wird die nunmehr mit der Sache befaûte Strafkammer sinnvollerweise schon vor der Hauptverhandlung im Freibeweis herauszufinden versuchen. Denn zur Klärung der Voraussetzungen des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO steht auch das Freibeweisverfahren zur Verfügung (BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2, Auslandszeuge , 5 und 6).
Herr RiBGH Nack ist erkrankt. Schäfer Schäfer Boetticher Schluckebier Hebenstreit