Bundesgerichtshof Beschluss, 19. Juni 2008 - 4 StR 314/07

bei uns veröffentlicht am19.06.2008

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 314/07
4 StR 391/07
vom
19. Juni 2008
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Juni 2008 beschlossen:
Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Steht es der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist?

Gründe:

I.

1
1. Beim 4. Strafsenat sind zwei – zur Durchführung des Verfahrens nach § 132 GVG verbundene – Revisionsverfahren anhängig, in denen gegen die revisionsführenden Angeklagten gemäß § 66 b Abs. 3 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. In beiden Fällen hatten die Angeklagten zum Zeitpunkt der Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischem Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch (Rest-) Freiheitsstrafen zu verbüßen, auf die zugleich mit der Unterbringung nach § 63 StGB erkannt worden war, und zwar der Angeklagte W. (Verfahren 4 StR 314/07) eine Freiheitsstrafe von drei Monaten und 26 Tagen, der Angeklagte H. (Verfahren 4 StR 391/07) eine solche von einem Jahr und sechs Monaten.
2
2. Der Senat beabsichtigt, beide Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen. Hieran sieht er sich jedoch durch das Urteil des 1. Strafsenats vom 28. August 2007 – 1 StR 268/07 (NJW 2008, 240) gehindert. In dieser Entscheidung hat der 1. Strafsenat unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien die Ansicht vertreten, dass die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 3 StGB „regelmäßig“ nicht in Betracht kommt, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nach § 67 d Abs. 6 StGB noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war. Er hat allerdings offen gelassen , ob dies auch gilt, wenn nach der Erledigungsentscheidung nur noch für „sehr kurze Zeit“ Freiheitsstrafe zu vollstrecken wäre.
3
3. Der Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen, auch wenn er grundsätzlich das Bestreben teilt, die Vorschriften über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen des schwerwiegenden Eingriffs in Freiheitsrechte der Betroffenen restriktiv auszulegen. Er ist der Ansicht, dass die vom 1. Strafsenat vorgenommene Auslegung nicht nur im Gesetzeswortlaut keine Stütze findet, sondern dass auch die für sie angeführten Gesetzesmaterialien unklar sind. Nach Auffassung des Senats führt zudem die vom 1. Strafsenat vorgenommene Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 66 b Abs. 3 StGB insbesondere mit Blick auf diejenigen Täter, die ohne Schuld (§ 20 StGB) gehandelt haben und gegen die daher keine Freiheitsstrafe verhängt worden ist, zu Wertungswidersprüchen. Schließlich könnte die Frage, ob § 66 b Abs. 3 StGB oder aber die enger gefassten Absätze 1 und 2 des § 66 b StGB anwendbar sind, von bloßen Zufälligkeiten des Vollstreckungsverfahrens abhängen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten, auch bezüglich des Gegenstandes und Ablaufes der beiden betroffenen Revisionsverfahren, wird auf die Darstellung im Anfragebeschluss des Senats vom 5. Februar 2008 (NStZ 2008, 333 m. Anm. Ullenbruch) Bezug genommen.
4
4. Mit dem vorgenannten Beschluss hat der Senat bei dem 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs angefragt, ob er an seiner entgegenstehenden Entscheidung vom 28. August 2007 festhält, bei den übrigen Strafsenaten, ob der beabsichtigten Entscheidung dortige Rechtsprechung entgegensteht und ob gegebenenfalls an dieser festgehalten wird.
5
Der 1. Strafsenat hat mit Beschluss vom 2. April 2008 ausgesprochen, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält. Die übrigen Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben mitgeteilt, dass dortige Rechtsprechung der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegensteht.

II.

6
Der Senat legt die streitige Rechtsfrage dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor (§ 132 Abs. 2 GVG); nach seiner Auffassung ist sie auch von grundsätzlicher Bedeutung, so dass die Vorlage sowohl aus Gründen der Divergenz zur Rechtsprechung des 1. Strafsenats als auch nach § 132 Abs. 4 GVG erfolgt.
7
Zur Begründung der Vorlage nimmt der Senat auf die Ausführungen im Anfragebeschluss vom 5. Februar 2008 Bezug. Lediglich zu den im Antwortbeschluss des 1. Strafsenats vom 2. April 2008 angesprochenen zusätzlichen Gesichtspunkten wird ergänzend folgendes angemerkt:
8
1. Aus dem Wortlaut des § 66 b Abs. 3 Nr. 2 StGB, wonach im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose „ergänzend … (die) Entwicklung (des Verurteilten) während des Vollzugs der Maßregel“ heranzuziehen ist (vgl. Rdn. 5 und 6 des Antwortbeschlusses), lässt sich für die Auffassung des 1. Strafsenats nichts herleiten. Die genannte Bestimmung verlangt für die Gefährlichkeitsprognose eine „Gesamtwürdigung des Betroffenen“ (Hervorhebung durch den Senat) zum Zeitpunkt der Entscheidung. Hierzu zählt naturgemäß auch die Entwicklung in einem vorausgegangenen Strafvollzug. Niemand wird etwa in Frage stellen, dass bei einem (vollständigen) Vorwegvollzug von Freiheitsstrafe nach § 67 Abs. 2 StGB die während des Vollzugs der Freiheitsstrafe erfolgte Entwicklung des Verurteilten in die Prognose nach § 66 b Abs. 3 Nr. 2 StGB mit einzustellen ist. Dass dieser Gesichtspunkt nicht ausdrücklich in den Gesetzeswortlaut aufgenommen worden ist (etwa: „während des Vollzugs der Maßregel sowie während eines etwaigen Strafvollzugs“), lässt keine Rückschlüsse auf einen bestimmten gesetzgeberischen Willen zu. Dies zeigt gerade der Blick auf die entsprechenden Regelungen in § 66 b Abs. 1 und 2 StGB, in denen – nunmehr umgekehrt – ausschließlich die Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzuges angesprochen wird. Auch hieraus ist bisher nicht der Schluss auf eine Einengung der Beurteilungsgrundlage oder gar des Anwendungsbereichs dieser Bestimmungen gezogen worden.
9
2. Die vom 1. Strafsenat herangezogene Passage in der Stellungnahme des Bundesrats vom 2. April 2004 (BRDrucks. 202/04 [Beschluss] S. 4) zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (vgl. Rdn. 17 des Antwortbeschlusses) führt nach Auffassung des Senats ebenfalls nicht weiter. Der Bundesrat hat dort lediglich – ohne dies näher zu spezifizieren – darauf hingewiesen, dass vieles von den „Zufälligkeiten des Vollstreckungsverlaufs“ abhinge und im Übrigen eine Reihe von Fragen bezeichnet , die seiner Auffassung nach noch eingehender Erörterung bedürften. Die Antwort der Bundesregierung hierauf hat sich in dem Hinweis erschöpft, „dass sich alle in der Begründung für die Stellungnahme [des Bundesrats] aufgeworfenen Fragen auf der Basis der vorgeschlagenen Vorschrift nebst ihrer Begründung schlüssig beantworten lassen“ (BTDrucks. 15/2945 S. 5). Dieser pauschalen Bemerkung kann wohl kaum entnommen werden, der Gesetzgeber habe es bewusst hingenommen, dass die Anwendbarkeit des § 66 b Abs. 3 StGB von den vom Senat in seinem Anfragebeschluss aufgezeigten Zufälligkeiten des Vollstreckungsverfahrens abhängig ist.
10
3. Offen bleibt weiterhin, wie zu verfahren ist, wenn nach der Entscheidung über die Erledigung nur noch „für kurze Zeit“, d.h. unter Umständen nur noch für wenige Tage, Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der Hinweis auf die „fragmentarische Natur des Strafrechts“ erscheint wenig hilfreich, wenn die Lückenhaftigkeit die Folge einer Gesetzesauslegung ist, die im Wortlaut der Norm keinen Niederschlag gefunden hat. Auch der Ultima-ratio-Charakter der (nachträglichen ) Sicherungsverwahrung führt hier nicht weiter. Er vermag nicht zu erklären, warum von zwei gleichermaßen gefährlichen Straftätern der eine, der seine Strafe vor der Maßregel voll verbüßt hat, nach § 66 b Abs. 3 StGB untergebracht werden kann, wohingegen der andere, gegen den einige Monate, gegebenenfalls aber auch nur noch wenige Tage Freiheitsstrafe zu vollstrecken sind, im Anschluss unmittelbar in Freiheit gelangt. Soweit der 1. Strafsenat Ausnahmen für denkbar hält, wenn nach der Erledigungsentscheidung nur noch für „sehr kurze Zeit“ Freiheitsstrafe zu vollstrecken wäre, verweist der Senat darauf, dass die Grenzen richterlicher Rechtsschöpfung überschritten würden , wollte der Bundesgerichtshof diese Zeitspanne ohne jeden Anhalt im Gesetz willkürlich auf weniger als sechs Monate oder drei Monate oder einen Monat festlegen. Tepperwien Maatz Kuckein Solin-Stojanović Ernemann

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(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 314/07
vom
10. Februar 2009
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 10. Februar 2009 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 28. Februar 2007 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht Bielefeld hat gegen den Verurteilten die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB angeordnet. Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt er die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
Der jetzt 63jährige Verurteilte war durch Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 20. Dezember 2002 wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Zugleich wurde gegen ihn - zunächst - die Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB angeordnet. Nach den Feststellungen hatte er in erheblich alkoholisiertem Zustand (Tatzeit-BAK 4,02 Promille) einen Zechgenossen durch Schläge mit der Faust und einer Taschenlampe sowie durch Fußtritte misshandelt, so dass die- ser u.a. ein Schädelhirntrauma und mehrere Gesichtsfrakturen erlitt. Das Landgericht ging davon aus, dass der Verurteilte die Rauschtat (gefährliche Körperverletzung ) im Zustand erheblich verminderter, möglicherweise sogar völlig aufgehobener Schuldfähigkeit begangen hatte, während er bei Trinkbeginn (im Zeitpunkt des "Sichberauschens") voll schuldfähig war. Nach den Feststellungen des Landgerichts lag beim Verurteilten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor, die zwar seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hinsichtlich der Alkoholaufnahme beeinträchtigte, die jedoch nicht so erheblich war, dass sie in den Anwendungsbereich des § 21 StGB fiel. Deshalb lehnte das Landgericht eine Unterbringung gemäß § 63 StGB ab. Von der Unterbringung des Verurteilten nach § 64 StGB sah es wegen mangelnder Erfolgsaussichten ab.
3
Auf die Revision des Angeklagten hob der Senat das Urteil durch Beschluss vom 8. Januar 2004 (= NStZ 2004, 384) im Maßregelausspruch mit den Feststellungen auf und verwarf die Revision im Übrigen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass dem Angeklagten kein Nachteil daraus erwachsen dürfe, dass er nicht wegen der Rauschtat (gefährliche Körperverletzung), sondern (weil seine Steuerungsfähigkeit möglicherweise aufgehoben war) in Anwendung des Zweifelssatzes wegen Vollrausches verurteilt worden sei. In erneuter Anwendung des Zweifelssatzes (diesmal zum Rechtsfolgenausspruch) habe das Landgericht die Voraussetzungen des § 63 StGB prüfen und nach § 72 Abs. 1 StGB der Maßregel den Vorzug geben müssen, die den Angeklagten am wenigsten beschwere.
4
Durch Urteil des Landgerichts vom 17. Juni 2004, rechtskräftig seit 11. August 2004, wurde gegen den Verurteilten - neben der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe - die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Nach den Feststellungen in diesem Urteil litt der Verurteilte an einer schweren dissozialen Persönlichkeitsstörung. Diese habe zwar für sich betrachtet seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht erheblich beeinträchtigt. Jedoch habe zwischen der dissozialen Persönlichkeitsstörung und der Alkoholsucht des Verurteilten eine Wechselwirkung bestanden; die Persönlichkeitsstörung sei für das Fortbestehen der Alkoholsucht kausal. Zur Tatzeit sei der Verurteilte entweder gar nicht oder nur erheblich vermindert in der Lage gewesen, sein Verhalten im Hinblick auf die von ihm begangene gefährliche Körperverletzung zu steuern. Von ihm seien infolge seines weiter andauernden Zustandes auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten; von ihm gehe deshalb eine Gefahr für die Allgemeinheit aus.
5
Ab dem 16. November 2004 wurde die Maßregel vollzogen. Durch Beschluss des Landgerichts Paderborn vom 22. September 2006, rechtskräftig seit dem 17. Oktober 2006, wurde die Unterbringung gemäß § 67 d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt erklärt, weil bei dem Verurteilten eine Persönlichkeitsstörung nicht vorliege, so dass - obwohl er weiterhin gefährlich sei - die Voraussetzung für den weiteren Vollzug der Maßregel entfalle. Die noch offene Restfreiheitsstrafe von 116 Tagen aus dem Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 20. Dezember 2002 wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Verurteilte verbüßte die Restfreiheitsstrafe in der Zeit vom 18. Oktober 2006 bis zum 25. Januar 2007. Seit dem 26. Januar 2007 wird der nach § 275 a Abs. 5 StPO erlassene Unterbringungsbefehl des Landgerichts Bielefeld gegen ihn vollzogen.
6
Die Staatsanwaltschaft hat am 26. Oktober 2006 die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten gemäß § 66 b Abs. 3 StGB beantragt. Dem ist das Landgericht Bielefeld gefolgt.
7
Nach den Feststellungen des nunmehr angefochtenen Urteils ist der Verurteilte seit nahezu 45 Jahren alkoholabhängig. Außerdem bestehe bei ihm eine Persönlichkeitsfehlentwicklung mit dissozialen und narzisstischen Strukturen, die lediglich als eine Persönlichkeitsakzentuierung zu werten sei und daher nicht die Kriterien einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB erfülle. Das Landgericht nimmt an, dass der Verurteilte wegen seiner therapieresistenten Alkoholabhängigkeit und seiner Persönlichkeitsfehlentwicklung mit dissozialen und narzisstischen Anteilen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Freiheit sehr rasch wieder alkoholrückfällig und unter alkoholischer Beeinflussung erneut Straftaten begehen werde, wobei Delikte zu erwarten seien, die zumindest schwere körperliche Schäden der davon betroffenen Personen zur Folge haben werden (UA 29).
8
Das Landgericht stützt seine Prognose insbesondere auf zwei - der insgesamt 19 im Urteil näher ausgeführten - Vorverurteilungen: Zum einen war gegen den Verurteilten am 5. Februar 1986 wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verhängt worden. Unter Einbeziehung von Strafen aus einem vorangegangenen Urteil war eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren festgesetzt, ferner war die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Die zu Grunde liegende Tat hatte der Verurteilte während eines mehrtägigen Zechgelages am 25. Januar 1985 begangen. Er wurde am 25. Juni 1993 - ohne Therapieerfolg - aus Haft und Unterbringung entlassen. Zum anderen war der Verurteilte am 21. März 1997 wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Zugleich war abermals die Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet worden. Der Verurteilte hatte am 5. April 1996 einen Zechgenossen durch Schläge gegen den Kopf mit einem Hammer oder Brech- eisen getötet. Der Vollzug von Strafe und Maßregel endete am 15. März 2001, wobei die Unterbringung im Jahre 1999 nicht weiter vollzogen wurde, weil nicht zu erwarten war, dass das Maßregelziel erreicht werden konnte.

II.


9
Der Senat hat im Hinblick auf die Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 28. August 2007 - 1 StR 268/07 (= BGHSt 52, 31), nach der bei einem Verurteilten, der - wie hier - im Anschluss an die Erledigungserklärung nach § 67 d Abs. 6 StGB noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war, die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nach § 66 b Abs. 3 StGB, sondern regelmäßig nur unter den Voraussetzungen von § 66 b Abs. 1 StGB oder § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet werden kann, mit Beschluss vom 19. Juni 2008 (= NJW 2008, 2661) dem Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Steht es der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist?
10
Der Große Senat für Strafsachen hat in seinem Beschluss vom 7. Oktober 2008 - GSSt 1/08 - die Rechtsauffassung des 1. Strafsenats bestätigt. Für die Annahme neuer Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 StGB genüge allerdings, dass vor dem Hintergrund der nicht (mehr) vor- handenen Voraussetzungen der Unterbringung nach § 63 StGB die qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten auf abweichender Grundlage belegt werde.

III.


11
Nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen steht der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage des § 66 b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Verurteilte nach der Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben. Da nach den Feststellungen jedoch eine Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung unter den Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB in Betracht kommt, ist die Sache unter Aufhebung der Feststellungen an das Landgericht zurückzuverweisen.
12
1. Der Senat erachtet den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB (Bd. II Bl. 303 f. d.A.) als Voraussetzung zur Durchführung des Verfahrens für noch genügend, weil der Verfahrensgegenstand hinreichend genau bestimmt und dem Verurteilten nach der Antragstellung ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden ist (Bd. II Bl. 308, 323, 325, 331, 351 ff. d.A.). Das Fehlen einer Begründung des Antrags dahin, dass die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB vorliegen, macht den Antrag ausnahmsweise nicht unzulässig, da erst durch die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen dieser Vorschrift Bedeutung zukommt. Insoweit ist hinzunehmen, dass dem Verurteilten die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB, insbesondere die konkreten neuen Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB, erst in der neuen Hauptverhandlung mitgeteilt werden (vgl. BGHSt 50, 284, 292; 50, 373, 376).
13
2. Eines näheren Eingehens auf die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen bedarf es nicht, da die Sachrüge durchgreift. Soweit die Revision geltend macht, § 66 b StGB verstoße gegen europäisches Recht, teilt der Senat diese Auffassung nicht (vgl. BGHSt 50, 373, 377 ff.; s. auch BVerfG [Kammer] JR 2006, 474, 475 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2008 - 2 BvR 749/08; BGHSt 50, 284, 295; BGH StV 2008, 304, 306 [zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift]).
14
3. In dem angefochtenen Urteil sind die Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 StGB nicht im Einzelnen dargetan. Damit musste sich das Landgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung auch nicht befassen.
15
a) Nach den bisherigen Feststellungen liegen allerdings die formellen Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 66 Abs. 1 StGB vor (vgl. hierzu BGH NStZ 2006, 178, 179). Der Verurteilte wurde mit Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 20. Dezember 2002 wegen einer vorsätzlichen Straftat im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB323 a i.V.m. § 224 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Vor dieser Tat wurde bereits zweimal jeweils eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr gegen ihn verhängt (§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Das Landgericht Bielefeld erkannte mit Urteil vom 5. Februar 1986 wegen sexueller Nötigung u.a. auf eine Einzelstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten und mit Urteil vom 21. März 1997 wegen vorsätzlichen Vollrausches auf eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten. Wegen dieser Taten befand sich der Verurteilte mehr als zwei Jahre sowohl in Strafhaft als auch im Maßregelvollzug (§ 66 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Rückfallverjährung (§ 66 Abs. 4 Sätze 3 und 4 StGB) ist - soweit ersichtlich - nicht eingetreten.
16
b) Das Landgericht Bielefeld hat in seinem Urteil vom 20. Dezember 2002, in dem es gegen den Verurteilten - zunächst - die Sicherungsverwahrung angeordnet hatte, festgestellt, dass der Verurteilte einen Hang zu erheblichen Straftaten hat (UA 22). Die materielle Voraussetzung des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB wird der nunmehr entscheidende Tatrichter neu zu prüfen haben (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 a.E. StGB). Festzustellen wird er auch haben, ob vor Ende des Vollzugs der (Rest-)Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar waren, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 1. HS StGB). Hierbei wird er mit sachverständiger Hilfe Folgendes zu berücksichtigen haben:
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aa) Wegen der schwer wiegenden Folgen, die mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach einer Erledigungserklärung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für den Verurteilten verbunden sind, muss über das Beschlussverfahren der Strafvollstreckungskammer nach § 67 d Abs. 6 StGB hinaus in der Hauptverhandlung nach § 66 b StGB geprüft werden, ob die (mögliche) qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten (weiterhin) auf der (dauerhaften) psychischen Störung des Verurteilten beruht, die in der Anlassverurteilung zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geführt hat (vgl. hierzu BGHSt 50, 373, 385 [Sachnähe des nach § 74 f GVG zuständigen Gerichts]). Ist dies der Fall, so kommt - für § 66 b Abs. 1 und 2 StGB schon mangels neuer Erkenntnisse - eine Unterbringung nach § 66 b StGB nicht in Betracht (vgl. Fischer, StGB 56. Aufl. § 66 b Rdn. 14). Für eine etwaige "Rückverweisung" des Verurteilten in den Maßregelvollzug nach § 63 StGB gibt es keine Rechtsgrundlage (vgl. BGH StV 2006, 413; NStZ-RR 2007, 301, 303; BGH, Urteil vom 23. März 2006 - 1 StR 476/05 Rdn. 30, 31; Fischer aaO § 66 b Rdn. 46, § 67 a Rdn. 6).
18
bb) Im Hinblick auf die erforderlichen neuen Tatsachen ("Nova"), die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen müssen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB), wird die nunmehr entscheidende Strafkammer unter Beachtung der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zu prüfen haben, ob die möglicherweise fortbestehende (qualifizierte) Gefährlichkeit des Verurteilten aus anderen Tatsachen herzuleiten ist als denjenigen, die im Anlassurteil zur Begründung des länger andauernden Zustands herangezogen wurden, die zur positiven Feststellung mindestens erheblich verminderter Schuldfähigkeit bei der Tatbegehung und zur Anordnung nach § 63 StGB geführt haben (BGH - GS - Rdn. 34). Die neuen Tatsachen dürfen sich nicht darin erschöpfen, dass die der Persönlichkeitsstörung bzw. -akzentuierung des Verurteilten zu Grunde liegenden Tatsachen lediglich neu beschrieben oder umbewertet werden. Sie können sich etwa aus dem - bisher nicht näher erörterten - Vollzugsverhalten des Verurteilten ergeben. Die strafrechtlichen Vorbelastungen des Verurteilten können zur Stützung neuer Tatsachen Berücksichtigung finden (vgl. BGH - GS - Rdn. 35). Soweit zur Gefährlichkeitsbeurteilung Tests herangezogen werden (vgl. UA 26, 28), wird zu beachten sein, dass eine bloß abstrakte, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognoseentscheidung nicht ausreichend ist (vgl. BVerfG NStZ 2007, 87, 88; BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2008 - 2 BvR 749/08; BGHSt 50, 121, 130 f.; BGH NStZ 2007, 464, 465; s. auch BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2008 - 3 StR 350/08).
Tepperwien Maatz Kuckein
Solin-Stojanović Mutzbauer

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 391/07
vom
10. Februar 2009
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 10. Februar 2009 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 4. April 2007 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht Saarbrücken hat gegen den Verurteilten die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB angeordnet. Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt er die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO); das Rechtsmittel hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg.

I.


2
Der wiederholt, unter anderem wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung vorbestrafte Verurteilte, war durch Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. September 1989 wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Zugleich hatte das Landgericht seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Der Verurteilte hatte in einem Rausch die Tatbestände der gefährlichen Körperverletzung, der versuchten Vergewaltigung und des versuchten Totschlags verwirklicht. Die Anordnung der Maßregel hatte das Landgericht damit begründet, dass der Verurteilte auf Grund einer Persönlichkeitsstörung zur Begehung schwerster, sexuell motivierter Straftaten neige.
3
Durch Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Februar 1991 wurde in einem Sicherungsverfahren erneut die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Gegenstand dieses Verfahrens war eine gefährliche Körperverletzung, die der Verurteilte während einer Flucht aus dem Maßregelvollzug begangen hatte.
4
Der Verurteilte befand sich anschließend nahezu ununterbrochen im Maßregelvollzug. Mit Beschluss vom 28. November 2005 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Saarbrücken gemäß § 67 d Abs. 6 Satz 1 StGB beide Unterbringungsanordnungen für erledigt, da ein Zustand im Sinne des § 20 StGB nicht (mehr) gegeben sei; gleichwohl sei der Verurteilte weiterhin als gefährlich für die Allgemeinheit einzustufen. Seit dem 23. Dezember 2005 befand sich der Verurteilte sodann in Strafhaft. Er verbüßte bis zum 22. Juni 2007 die Restfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Seitdem ist er einstweilen untergebracht (§ 275 a Abs. 5 StPO).
5
Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken hat am 14. November 2006 die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten gemäß § 66 b Abs. 3 StGB beantragt. Dem ist das Landgericht Saarbrücken gefolgt.

II.


6
Der Senat hat im Hinblick auf die Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 28. August 2007 - 1 StR 268/07 (= BGHSt 52, 31), nach der bei einem Verurteilten, der im Anschluss an die Erledigungserklärung nach § 67 d Abs. 6 StGB noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war, die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nach § 66 b Abs. 3 StGB, sondern regelmäßig nur unter den Voraussetzungen von § 66 b Abs. 1 StGB oder § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet werden kann, mit Beschluss vom 19. Juni 2008 (= NJW 2008, 2661) dem Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Steht es der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist?
7
Der Große Senat für Strafsachen hat in seinem Beschluss vom 7. Oktober 2008 - GSSt 1/08 - die Rechtsauffassung des 1. Strafsenats bestätigt. Für die Annahme neuer Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 StGB genüge allerdings, dass vor dem Hintergrund der nicht (mehr) vorhandenen Voraussetzungen der Unterbringung nach § 63 StGB die qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten auf abweichender Grundlage belegt werde. Weiter hat der Große Senat für Strafsachen entschieden, dass nur die Vollstreckung des Restes derjenigen Strafe, die in der jeweiligen Anlassverurteilung ausgesprochen worden war, der Anwendung des § 66 b Abs. 3 StGB entgegenstehe. Werden - wie im vorliegenden Fall - zwei Maßregelanordnungen ge- mäß § 67 d Abs. 6 StGB für erledigt erklärt und ist nur im Hinblick auf eines der beiden Urteile noch Freiheitsstrafe zu vollstrecken, so ist für die andere § 66 b Abs. 3 StGB anwendbar (BGH - GS - Rdn. 36).

III.


8
Nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen steht der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB im Hinblick auf die Verurteilung durch das Landgericht Saarbrücken vom 28. September 1989 entgegen, dass der Verurteilte nach der Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war. Hier käme eine Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nur unter den Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB in Betracht (vgl. hierzu den Senatsbeschluss vom 10. Februar 2009 - 4 StR 314/07). Im Hinblick auf die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - ohne Verhängung einer Strafe - durch das Landgericht Trier vom 28. Februar 1991 ist dagegen § 66 b Abs. 3 StGB anwendbar. Es bedarf einer erneuten Entscheidung des Landgerichts.
9
1. Der Senat erachtet den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB (Bd. V Bl. 1045 ff. d.A.) als Voraussetzung zur Durchführung des Verfahrens für ausreichend , weil in diesem Antrag beide Urteile genannt sind, auf die sich die Erledigungserklärung vom 28. November 2005 erstreckt hat (S. 2, 7 f. des Antrags ). Dass zwischen beiden Urteilen nicht differenziert wurde, macht den Antrag im Hinblick auf das Urteil des Landgerichts Trier nicht unzulässig, da erst durch die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen dieser Differenzie- rung Bedeutung zukommt. Das Landgericht Saarbrücken ist auch für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Hinblick auf das Urteil des Landgerichts Trier zuständig (§ 74 f Abs. 3 Satz 1 GVG i.V.m. § 462 a Abs. 3 Satz 2 StPO).
10
2. Das Landgericht wird daher insbesondere zu prüfen haben, ob die Anordnung der nachträglichen Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB im Hinblick auf das Urteil des Landgerichts Trier vom 28. Februar 1991 in Betracht kommt. Wegen der schwer wiegenden Folgen, die mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach einer - als formelle Voraussetzung für § 66 b Abs. 3 StGB erforderlichen - Erledigungserklärung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für den Verurteilten verbunden sind, muss - was bisher nur unzureichend geschehen ist (UA 30) - über das Beschlussverfahren der Strafvollstreckungskammer nach § 67 d Abs. 6 StGB hinaus auch im Verfahren nach § 66 b Abs. 3 StGB geprüft werden, ob die mögliche qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten (weiterhin) auf der (dauerhaften) psychischen Störung des Verurteilten im Sinne des § 20 StGB beruht, die in der Anlassverurteilung zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geführt hat (vgl. hierzu BGHSt 50, 373, 385 [Sachnähe des nach § 74 f GVG zuständigen Gerichts]). Ist dies der Fall, so kommt eine Unterbringung nach § 66 b StGB nicht in Betracht (vgl. Fischer, StGB 56. Aufl. § 66 b Rdn. 14). Für eine "Rückverweisung" des Verurteilten in den Maßregelvollzug nach § 63 StGB in einem solchen Falle gibt es keine Rechtsgrundlage (vgl. BGH StV 2006, 413; NStZ-RR 2007, 301, 303; BGH, Urteil vom 23. März 2006 - 1 StR 476/05 Rdn. 30, 31; Fischer aaO § 66 b Rdn. 46, § 67 a Rdn. 6).
Tepperwien Maatz Kuckein
Solin-Stojanović Mutzbauer

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 268/07
vom
28. August 2007
BGHSt: ja
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
________________________
Wird die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt
(§ 67d Abs. 6 StGB), so kann dies regelmäßig nur dann Grundlage nachträglicher
Sicherungsverwahrung (§ 66b Abs. 3 StGB) sein, wenn der Betroffene
andernfalls in die Freiheit zu entlassen wäre. Hat er dagegen im Anschluss
an die Erledigung noch Freiheitsstrafe zu verbüßen, auf die zugleich mit der Unterbringung
erkannt worden war, kann nachträgliche Sicherungsverwahrung regelmäßig
nur unter den Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 StGB oder § 66b
Abs. 2 StGB angeordnet werden.
BGH, Urteil vom 28. August 2007 - 1 StR 268/07 - LG Augsburg
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 28. August
2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 22. Januar 2007 wird verworfen. 2. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die dem Betroffenen hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen

Gründe:

1
Das Landgericht hat es abgelehnt, gegen den Betroffenen gemäß § 66b Abs. 3 StGB nachträglich Sicherungsverwahrung anzuordnen. Die hiergegen gerichtete auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft bleibt erfolglos.

I.

2
1. Folgender Verfahrensgang war vorausgegangen:
3
Der wiederholt und auch einschlägig vorbestrafte Betroffene war am 3. Juli 1997 wegen näher geschilderten sexuellen Missbrauchs eines acht Jahre alten Jungen in 13 Fällen - Gewalt hatte hierbei nie eine Rolle gespielt - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten (Einzelstrafen je sechs Monate) verurteilt worden; zugleich war er gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden. Sachverständig beraten hatte das Gericht erheblich verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) wegen "einer hirnorganischen Leistungsbeeinträchtigung bzw. einer organischen Persönlichkeitsstörung" und wegen Pädophilie bejaht.
4
Der Betroffene befand sich - mit einer Unterbrechung - im psychiatrischen Maßregelvollzug, bis die Strafvollstreckungskammer am 21. Dezember 2005 die Maßregel "in entsprechender Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB" für erledigt erklärte, da ein die Unterbringung gemäß § 63 StGB rechtfertigender Zustand gemäß §§ 20, 21 StGB nicht gegeben sei. Sachverständig beraten hat sie festgestellt, dass zwar eine Pädophilie vorliege, die im Erkenntnisverfahren gestellte Diagnose im Übrigen aber eine "Fehlbeurteilung" gewesen sei. Der Betroffene habe "die Angaben, auf die die Diagnose gestützt wurde, lediglich aus Angst gemacht, um statt ins Gefängnis in die Psychiatrie zu kommen". Zugleich wurde die Vollstreckung des noch nicht erledigten Teils der zugleich mit der Unterbringung ausgesprochenen Freiheitsstrafe (letztlich 311 Tage) angeordnet, die er dann bis Februar 2007 vollständig verbüßt hat.
5
2. Nach sachverständiger Beratung hat die Jugendkammer beim Betroffenen eine Störung der Sexualpräferenz vom Prägnanztyp der Pädophilie (ICD 10 F 65.4) im Sinne einer homosexuell ausgerichteten Pädophilie mit einer Orientierung auf pubertierende Jungen und jugendliche Männer festgestellt. Seine Persönlichkeit sei darüber hinaus von infantilen und dependenten Persönlichkeitszügen geprägt. Ein chronisches organisches Psychosyndrom vom Prägnanztyp der organischen Wesensänderung infolge frühkindlicher Hirnschädigung bzw. cerebraler Dysfunktion liege dagegen nicht vor. Ein Hang zu Taten wie den abgeurteilten sei zu bejahen. Es bestehe auch die hohe Wahrscheinlichkeit , dass er weiterhin derartige Taten begehen werde.
6
3. Die Ablehnung von nachträglicher Sicherungsverwahrung hat die Jugendkammer wie folgt begründet:
7
a) § 66b Abs. 3 StGB setze voraus, dass die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Abs. 6 StGB für erledigt erklärt worden sei. Die Strafvollstreckungskammer habe ihrer Entscheidung demgegenüber auf eine entsprechende Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB gestützt. Daher sei § 66b Abs. 3 StGB hier schon aus formalen Gründen nicht anwendbar.
8
b) Es sei auch nicht sicher, dass die Opfer der zu erwartenden Taten hierdurch seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden würden. Der Betroffene habe bei seinen früheren Taten nie Gewalt angewendet; "eine Progredienz der Sexualdelinquenz mit zunehmender Gewaltanwendung" sei bei ihm "wenig wahrscheinlich". Wende er aber keine Gewalt an, sei "mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen" bei den Opfern seiner künftigen Taten "kaum zu rechnen". Obwohl "größere" seelische Schäden bei ihnen nicht sicher auszuschließen seien, fehle es an der gemäß § 66b Abs. 3 StGB erforderlichen erhöhten Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts.
9
c) Außerdem führt die Jugendkammer, der Sache nach hilfsweise, weitere Gesichtspunkte an, die die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung hier unverhältnismäßig erscheinen ließen: (1) die Fehldiagnose im Erkenntnisverfahren hätte bei gehöriger Sorgfalt vermieden werden können; (2) es falle ins Gewicht, dass der Betroffene nach seiner Entlassung unter Führungsaufsicht stünde, wodurch die Gefahr künftiger Straftaten "minimiert" würde; (3) schließlich sei noch Freiheitsstrafe zu vollstrecken, nachdem die Unterbringung für erledigt erklärt worden sei; in derartigen Fällen sei nach dem Willen des Gesetzgebers § 66b Abs. 1 bzw. § 66b Abs. 2 StGB vor § 66b Abs. 3 StGB vorrangig.

II.

10
Das Urteil hat im Ergebnis Bestand.
11
Allerdings liegen die formalen Voraussetzungen von § 66b Abs. 3 StGB vor. Die fehlerhafte Bezeichnung der Rechtsgrundlage für die Erledigung der Unterbringung durch die Strafvollstreckungskammer ist unschädlich (1.). Ebenso wenig kommt es darauf an, dass die für erledigt erklärte Unterbringung von vorneherein hätte vermieden werden können (2.). Der abstrakte Hinweis auf die Möglichkeiten der Führungsaufsicht könnte die Notwendigkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung hier nicht in Frage stellen (3.). Auch die Erwägungen zu den Unklarheiten über die seelischen Schäden, die durch die zu befürchtenden künftigen Straftaten bei deren Opfern eintreten werden, sind nicht tragfähig (4.).
12
Jedoch weist die Jugendkammer zu Recht darauf hin, dass der Betroffene nach der Erledigung der Unterbringung nicht in die Freiheit zu entlassen war; vielmehr hatte er zugleich mit der Unterbringungsanordnung verhängte Freiheitsstrafe zu verbüßen. Dies begründet nach Auffassung des Senats regelmäßig eine Sperrwirkung von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB gegenüber § 66b Abs. 3 StGB (5.).
13
1. Zwar weist die Jugendkammer zu Recht darauf hin, dass die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss vom 21. Dezember 2005 die Unterbringung in entsprechender Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB für erledigt erklärt hat. § 66b Abs. 3 StGB verlangt dagegen, dass die Unterbringung ge- mäß § 67d Abs. 6 StGB für erledigt erklärt worden ist. Die Auffassung der Jugendkammer , hieraus folge aus zwingenden rechtlichen Gründen ohne weiteres , dass § 66b Abs. 3 StGB unanwendbar sei, geht jedoch fehl.
14
Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer entsprach, wie auch die Jugendkammer nicht verkennt, der früheren ganz überwiegenden Rechtsprechung der Strafvollstreckungsgerichte. Diese hatten in richterrechtlicher Rechtsfortbildung die Maßregel in analoger Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB für erledigt erklärt, wenn zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung die Maßregelvoraussetzungen nicht vorlagen, sei es, dass sie von Anfang an gefehlt hatten, sei es, dass sie nachträglich weggefallen waren (vgl. Berg/Wiedner StV 2007, 434 ff. mit umfangreichen Nachw. aus der Rspr.). Diese Rechtsprechung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers durch den durch das Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I 1838) neu geschaffenen § 67d Abs. 6 StGB festgeschrieben werden (BTDrucks. 15/2887 S. 10, 13 f.); die materiellen Voraussetzungen einer solchen Erledigterklärung sollten sich also gerade nicht ändern. Dies verkennt die Jugendkammer, wenn sie hervorhebt, dass es an der erforderlichen "qualifizierten" Erledigterklärung - gemeint: gemäß § 67d Abs. 6 StGB - fehle. Für solche Erwägungen wäre, ebenso wie für die Überlegungen der Jugendkammer zu planwidriger Regelungslücke und Analogieverbot nur Raum, wenn sich die materiellen Voraussetzungen einer Erledigterklärung gemäß § 67d Abs. 6 StGB wegen Fehlens der Unterbringungsvoraussetzungen im Vergleich zur früheren Rechtslage in hier relevanter Weise geändert hätten. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall.
15
Die Strafvollstreckungskammer hat der Sache nach, wie dies § 66b Abs. 3 StGB erfordert, die Maßregel für erledigt erklärt, weil der die Schuldfähigkeit vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat. Sie hat lediglich übersehen, dass sich die paragraphenmäßige Bezeichnung der sachlich unverändert gebliebenen rechtlichen Voraussetzungen für diese Entscheidung geändert hat.
16
Dieser Mangel führt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zur Unanwendbarkeit von § 66b Abs. 3 StGB. Entscheidend ist nicht, ob die - ohnehin nicht in Rechtskraft erwachsenden - Gründe des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer die Worte "§ 67d Abs. 6 StGB" enthalten oder ob sie gar keine Rechtsgrundlage ausdrücklich nennen oder ob sie, wie hier, eine veraltete Rechtsgrundlage nennen; entscheidend ist vielmehr, ob die Unterbringung aus den in § 66b Abs. 3 StGB genannten Gründen der ersten Alternative von § 67d Abs. 6 StGB - fehlende Unterbringungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Beschlussfassung - für erledigt erklärt worden ist. Da dies der Fall ist, ist § 66b Abs. 3 StGB hier anwendbar.
17
2. Die Jugendkammer und zuvor auch die Strafvollstreckungskammer gehen übereinstimmend davon aus, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus bei deren Anordnung nicht vorgelegen haben und dass dies auch im Erkenntnisverfahren hätte bemerkt werden können. Der Senat teilt die Auffassung der Jugendkammer nicht, dass diese - im Einzelfall schwierige und oft nicht klar mögliche (vgl. Berg/Wiedner StV 2007, 434, 440) - Unterscheidung die Frage der Verhältnismäßigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung beträfe.
18
a) Für die von § 66b Abs. 3 StGB vorausgesetzte Erledigterklärung gemäß § 67d Abs. 6 StGB ist nach der Konzeption des Gesetzgebers der Zustand bei der vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung maßgebend (BTDrucks. 15/2887 S. 14). Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes. Die unterschiedlich beurteilte Frage, ob von diesem Grundsatz Ausnahmen in Fällen zu machen sind, in denen eine - von Anfang an vorliegende - "Fehlein- weisung" auf bloßer rechtsfehlerhafter Wertung der zutreffend festgestellten Tatsachen durch das erkennende Gericht beruhte (vgl. einerseits OLG Frankfurt StV 2007, 430; hierzu auch BVerfG NStZ-RR 2007, 29; andererseits KG StV 2007, 432; Berg/Wiedner aaO 433), braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.
19
b) Mit der von ihr vorgenommenen Differenzierung überträgt die Jugendkammer letztlich für die Anwendung von § 66b Abs. 1 und 2 StGB maßgebliche Gesichtspunkte auf § 66b Abs. 3 StGB. Hierfür ist jedoch in diesem Zusammenhang kein Raum. (1) Allerdings kann nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 oder 2 StGB nicht auf Tatsachen gestützt werden, die im Erkenntnisverfahren schon bekannt waren oder bei entsprechender Sorgfalt (§ 244 Abs. 2 StPO) hätten bekannt sein können (BGHSt 50, 121, 126; 50, 275, 278). Die Nachholung einer schon früher möglichen , aber fehlerhaft unterbliebenen Entscheidung ist nicht zulässig. (2) Nach der gesetzlichen Konzeption - Entscheidung gemäß § 67d Abs. 6 StGB auch bei Fehlern im Erkenntnisverfahren; diese Entscheidung kann (soweit hier von Interesse) stets Grundlage einer Entscheidung gemäß § 66b Abs. 3 StGB sein - verhält es sich bei § 66b Abs. 3 StGB anders. Hier sind - anders als bei § 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB - keine "Nova" erforderlich. Gegebenenfalls kann also nachträgliche Sicherungsverwahrung auch auf der Grundlage von solchen Erkenntnissen angeordnet werden, welche schon im Erkenntnisverfahren vorlagen oder hätten gewonnen werden können. (3) Die Jugendkammer nimmt nicht ausreichend darauf Bedacht, dass in den Fällen von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB eine im Erkenntnisverfahren nicht angeordnete freiheitsentziehende Maßregel von unbe- stimmter Dauer nachträglich hinzugefügt wird. Demgegenüber geht es in § 66b Abs. 3 StGB im Kern darum, bei einem nach wie vor hochgefährlichen Täter eine bereits angeordnete, dann aber erledigte freiheitsentziehende Maßregel von unbestimmter Dauer (§ 63 StGB) durch eine andere freiheitsentziehende Maßregel von unbestimmter Dauer zu ersetzen (Koller R & P 2007, 57, 65). Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die ebenso wie die Sicherungsverwahrung den Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern bezweckt, ist gegenüber dieser im Grundsatz auch kein geringeres Übel (BGH NStZ 2002, 533, 534 m.w.N.). Der Schutz vor Verurteilten, von denen mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Straftaten gegen bedeutende Individualrechtsgüter zu erwarten sind, ist ein überragendes Gemeinwohlinteresse (BVerfGE 109, 190, 236; BVerfG NJW 2006, 3483, 3484). Daher stünden namentlich Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte auch bei einer ursprünglich fehlerhaften Entscheidung im Erkenntnisverfahren der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung hier nicht im Wege.
20
3. Die im Zusammenhang mit Führungsaufsicht angestellten Erwägungen der Jugendkammer sind nicht rechtsfehlerfrei. Bei einer Erledigterklärung gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB tritt regelmäßig Führungsaufsicht ein, § 67d Abs. 6 Satz 2 StGB. Gleichwohl ist bei entsprechend gefährlichen Verurteilten nach einer solchen Erledigterklärung die Möglichkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung vorgesehen. Die Annahme der Jugendkammer, allein der Umstand, dass Führungsaufsicht eingetreten sei, spreche schon im Ansatz gegen die Notwendigkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung, entfernt sich daher von der gesetzlichen Wertung. Soweit im Einzelfall konkret prognostizierbar ist, dass vom Verurteilten im Hinblick auf die Führungsaufsicht keine erheblichen Straftaten zu erwarten sind, wirkt sich dies auf die Beurteilung seiner Gefährlichkeit aus. Hierfür enthält das Urteil keine Anhaltspunkte. Die Erwägungen , die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten sei einerseits sehr hoch, jedoch andererseits allein wegen des Eintritts von Führungsaufsicht sehr gering, sind ohne nähere Darlegungen unvereinbar.
21
4. Schließlich bestehen auch rechtliche Bedenken gegen die Erwägungen der Jugendkammer, soweit sie eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Eintritts schwerer seelischer Schäden bei den künftigen Opfern (§ 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB) verneint.
22
Die Jugendkammer geht letztlich davon aus, dass der Betroffene Taten gemäß § 176 StGB mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder begehen werde; schwere Schäden bei den nicht individualisierbaren Opfern seien zwar nicht ausgeschlossen, aber nicht in dem erforderlichen Maße wahrscheinlich. Begründet ist dies im Kern damit, dass mit Gewalttätigkeiten auch künftig nicht zu rechnen sei.
23
Sind schon konkrete seelische Schäden durch sexuellen Missbrauch bei dessen kindlichen Opfern im Einzelfall nicht immer leicht festzustellen (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urt. vom 14. August 2007 - 1 StR 201/07 - Rdn. 35 f.), so gilt dies um so mehr für die Ermittlung und Gewichtung der Schwere von möglichen seelischen Schäden bei naturgemäß unbekannten Opfern künftiger, in ihrem Ablauf jedenfalls nicht in allen Einzelheiten feststehender Straftaten. Die Schwere seelischer Schäden hängt von einer Vielzahl einzelfallbezogener Umstände ab, deren vorausschauende konkrete Gewichtung praktisch kaum möglich ist (vgl. Hörnle NStZ 2000, 310 m.w.N.). Dementsprechend ist die erforderliche Wahrscheinlichkeitsprognose gemäß § 66b Abs. 3 StGB nicht im empiri- schen Sinne zu verstehen (BTDrucks. 15/2887 S. 13; kritisch hierzu Tröndle/Fischer , StGB 54. Aufl. § 66b Rdn. 22), sondern sie hat in wertender Abwägung zu erfolgen (BTDrucks. aaO). Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Frage, ob künftige Taten überhaupt zu erwarten sind, sondern auch für die Wahrscheinlichkeit schwerer Tatfolgen. Anhaltspunkte für eine derartige Differenzierung ergeben sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien. Eine Anordnung gemäß § 66b Abs. 3 StGB verlangt daher bei zu befürchtenden Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern nicht - auch kaum zu treffende - Feststellungen dazu, inwieweit die statistische Häufigkeit empirisch gesichert ist, mit der diese Taten bei den (potentiellen) Opfern schwerwiegende psychische Schäden auslösen.
24
Bei der genannten wertenden Abwägung ist vielmehr von den Grundentscheidungen des Gesetzes auszugehen. § 176 StGB wurde geschaffen und mehrfach (z.B. durch § 176a StGB) erweitert, weil durch derartige Taten eine schwerwiegende Beeinträchtigung der sexuellen Entwicklung von Kindern zu besorgen ist (vgl. BGHSt 45, 131, 132; Tröndle/Fischer aaO § 176 Rdn. 2, 36 m.w.N.). Sie weisen, so auch die Einschätzung des Gesetzgebers, einen erheblichen ("besonderen") Unrechts- und Schuldgehalt auf (vgl. BTDrucks. 15/350 S. 1, 17). Dementsprechend ist die Vorschrift in den Katalog des § 66 Abs. 3 StGB aufgenommen, auf den § 66b Abs. 3 Nr. 1 StGB verweist. Die Annahme, gleichwohl seien im Einzelfall schwere seelische Schäden wenig wahrscheinlich , bedarf daher konkreter Anhaltspunkte im Einzelfall (vgl. hierzu Hanack in LK 11. Aufl. § 66 Rdn. 139). Die in diesem Zusammenhang - allein - angestellte Erwägung der Strafkammer, es seien (auch) künftig keine Gewalttätigkeiten zu erwarten, würde letztlich bedeuten, dass bei Taten, die allein gegen § 176 StGB verstoßen, keine schweren Schäden im Sinne des § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB wahrscheinlich sind, sondern nur dann, wenn durch diese Taten zugleich § 177 StGB erfüllt wäre. Dieser Maßstab ist mit der aufgezeigten gesetzlichen Wer- tung unvereinbar (vgl. auch BGH NStZ 2007, 464, 465; Urt. vom 14. August 2007 - 1 StR 201/07 - Rdn. 33).
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5. Gleichwohl hat das Urteil letztlich Bestand. Nach Auffassung des Senats ist § 66b Abs. 3 StGB regelmäßig dann nicht anwendbar, wenn, wie hier, nach der Entscheidung gemäß § 67d Abs. 6 StGB noch eine mit der Unterbringung gemäß § 63 StGB zugleich verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der Wortlaut des Gesetzes bietet für diese Auffassung allerdings keine Anhaltspunkte. § 66b Abs. 3 spricht vielmehr auch von Fällen, in denen der die Schuldfähigkeit vermindernde Zustand nicht bestanden hat. In Fällen, in denen die Schuldfähigkeit aber nur (erheblich) vermindert war, ist aber, wie auch hier, eine - gegebenenfalls gemilderte - Strafe verhängt worden. Über den Stand der Strafvollstreckung ist nichts gesagt. Das bedeutet, dass § 66b Abs. 3 StGB auch anwendbar zu sein scheint, wenn die Unterbringung zwar erledigt, aber mit ihr zugleich verhängte Strafe noch zu vollstrecken ist.
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Die Gesetzesmaterialien zu § 66b Abs. 3 StGB weisen demgegenüber eindeutig darauf hin, dass § 66b Abs. 1 und § 66b Abs. 2 StGB in derartigen Fällen eine Sperrwirkung gegenüber § 66b Abs. 3 StGB entfalten. Der - insoweit im weiteren Gesetzgebungsverfahren auch nicht in Frage gestellte - Gesetzesentwurf der Bundesregierung enthält in diesem Zusammenhang folgende Ausführungen (BTDrucks. 15/2887 S. 14): "Anwendung soll die Vorschrift (§ 66b Abs. 3 StGB) vor allem in denjenigen Fällen finden, in denen der Untergebrachte von dem erkennenden Gericht für schuldunfähig gehalten und deshalb nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wurde, ohne dass parallel eine Freiheitsstrafe verhängt werden konnte. Erfasst werden von der Vorschrift daneben aber auch die Fälle, in denen das Gericht unter Anwendung des § 21 StGB neben der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine Freiheitsstrafe verhängt hatte, in denen die Freiheitsstrafe aber in Umkehrung der regelmäßigen Vollstreckungsreihenfolge (§ 67 Abs. 1 und 2 StGB) bereits vor dem Vollzug der Maßregel vollständig vollstreckt wurde und somit der Untergebrachte nunmehr aus der Maßregel in die Freiheit zu entlassen wäre. In Fällen, in denen nach Erledigung der Maßregel noch eine parallel verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist, ergibt sich demgegenüber zunächst kein Bedürfnis für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB - neu -. Hier kommt ggf. vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 und 2 StGB - neu - in Betracht."
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Nach dem Willen des Gesetzgebers steht also in Fällen, in denen nach der Erledigung der Unterbringung noch zugleich mit ihrer Anordnung verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist, nachträgliche Sicherungsverwahrung "zunächst" ohnehin nicht in Frage. Notwendigem Schutz der Allgemeinheit ist dann nämlich dadurch Rechnung getragen, dass sich der Betroffene auch nach Erledigung der Unterbringung in Haft befindet. Deswegen besteht für die Anwendbarkeit von § 66b Abs. 3 StGB kein Bedürfnis. Später - in Anbetracht der Entlassung aus dem Strafvollzug - sollen allein die gesetzlichen Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 und 2 StGB maßgebend sein. Dem entspricht, dass als Anwendungsbereich von § 66b Abs. 3 StGB im Zusammenhang mit ursprünglich neben der Unterbringung zugleich verhängter Strafe ausdrücklich die - nach forensischer Erfahrung praktisch eher seltenen (vgl. § 67 Abs. 4 StGB) - Fälle genannt sind, in denen diese Strafe bei Erledigung der Unterbringung bereits vollständig verbüßt ist. Dementsprechend weisen die Gesetzesmaterialien auch noch an anderer Stelle ausdrücklich darauf hin, dass § 66b Abs. 3 StGB verhindern soll, dass hochgefährliche Straftäter infolge der Erledigterklärung "ohne die Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung … der Sicherungsverwahrung … in die Freiheit entlassen werden müssten" (aaO S. 13).
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Der Senat hält es für zulässig, Vorstellungen des Gesetzgebers der Gesetzesauslegung auch dann zu Grunde zu legen, wenn diese Vorstellungen im Gesetzeswortlaut keinen Niederschlag gefunden haben, sich aber ausschließlich zu Gunsten des von der strafrechtlichen Bestimmung Betroffenen auswirken (vgl. auch Eser in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 1 Rdn. 31 f. zu Fällen von Analogie ausschließlich zu Gunsten des Angeklagten). Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen nur zum Nachteil des Betroffenen (vgl. BGHSt 43, 237, 238; BGH NJW 2007, 524, 525 jew. m.w.N.). Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs einer Bestimmung anhand der Vorstellungen des Gesetzgebers, die sich im Wortlaut der Bestimmung nicht oder jedenfalls nicht eindeutig widerspiegeln, kommt um so eher in Betracht, je schwerer die Sanktion ist, die die in Rede stehende Norm androht (in vergleichbarem Sinne zu § 239a Abs. 1, § 239b Abs. 1 StGB BGHSt 40, 350, 356 f.; Träger/Schluckebier in LK 11. Aufl. § 239a Rdn. 16; zu § 316a StGB BGHSt 49, 8, 11). Hier folgt der Senat schon deshalb der Gesetzesbegründung (vgl. auch Koller R & P 2007, 57, 66 f.), weil es sich bei der Sicherungsverwahrung schon generell um eine den Betroffenen außerordentlich beschwerende Maßregel handelt (vgl. BGHSt 50, 275, 278) und der hier in Rede stehende § 66b StGB als Vorschrift über deren nachträgliche Anordnung insgesamt restriktiv zu handhaben ist. Hierdurch bewahrt die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ihren Charakter einer auf seltene Einzelfälle beschränkten Maßnahme (vgl. BGHSt 50, 284, 296; 51, 25, 27; BGH NJW 2007, 1074, 1076), wie dies von Verfassungs wegen geboten (BVerfGE 109, 190, 236, 242; BVerfG NJW 2006, 3483, 3485) und dementsprechend vom Gesetzgeber beabsichtigt ist (BTDrucks. aaO S. 10, 12 f.).
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Inwieweit von dem aufgezeigten Grundsatz - keine Anwendbarkeit von § 66b Abs. 3 StGB, wenn nach Erledigung der Unterbringung zugleich mit der Unterbringung verhängte Freiheitsstrafe vollstreckt wird - etwa dann Ausnahmen denkbar sein könnten, wenn nach der Erledigterklärung nur noch sehr kurze Zeit Strafe zu vollstrecken wäre, braucht der Senat hier schon deshalb nicht zu entscheiden, weil gegen den Betroffenen noch mehr als zehn Monate Freiheitsstrafe zu vollstrecken waren. Nack Wahl Kolz Elf Graf

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

(1) Beim Bundesgerichtshof werden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Die Großen Senate bilden die Vereinigten Großen Senate.

(2) Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen, so entscheiden der Große Senat für Zivilsachen, wenn ein Zivilsenat von einem anderen Zivilsenat oder von dem Großen Zivilsenat, der Große Senat für Strafsachen, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen, die Vereinigten Großen Senate, wenn ein Zivilsenat von einem Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen oder ein Strafsenat von einem Zivilsenat oder von dem Großen Senat für Zivilsachen oder ein Senat von den Vereinigten Großen Senaten abweichen will.

(3) Eine Vorlage an den Großen Senat oder die Vereinigten Großen Senate ist nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befaßt werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluß in der für Urteile erforderlichen Besetzung; § 97 Abs. 2 Satz 1 des Steuerberatungsgesetzes und § 74 Abs. 2 Satz 1 der Wirtschaftsprüferordnung bleiben unberührt.

(4) Der erkennende Senat kann eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

(5) Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten und je einem Mitglied der Zivilsenate, der Große Senate für Strafsachen aus dem Präsidenten und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Legt ein anderer Senat vor oder soll von dessen Entscheidung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieses Senats im Großen Senat vertreten. Die Vereinigten Großen Senate bestehen aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der Großen Senate.

(6) Die Mitglieder und die Vertreter werden durch das Präsidium für ein Geschäftsjahr bestellt. Dies gilt auch für das Mitglied eines anderen Senats nach Absatz 5 Satz 2 und für seinen Vertreter. Den Vorsitz in den Großen Senaten und den Vereinigten Großen Senaten führt der Präsident, bei Verhinderung das dienstälteste Mitglied. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.

(1) Wird die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63 und 64 neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, so wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen.

(2) Das Gericht bestimmt jedoch, daß die Strafe oder ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird. Bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitigen Freiheitsstrafe von über drei Jahren soll das Gericht bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Dieser Teil der Strafe ist so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und einer anschließenden Unterbringung eine Entscheidung nach Absatz 5 Satz 1 möglich ist. Das Gericht soll ferner bestimmen, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist, wenn die verurteilte Person vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und zu erwarten ist, dass ihr Aufenthalt im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe beendet wird.

(3) Das Gericht kann eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 1 oder Satz 2 nachträglich treffen, ändern oder aufheben, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen. Eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 kann das Gericht auch nachträglich treffen. Hat es eine Anordnung nach Absatz 2 Satz 4 getroffen, so hebt es diese auf, wenn eine Beendigung des Aufenthalts der verurteilten Person im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes während oder unmittelbar nach Verbüßung der Strafe nicht mehr zu erwarten ist.

(4) Wird die Maßregel ganz oder zum Teil vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.

(5) Wird die Maßregel vor der Strafe oder vor einem Rest der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 zur Bewährung aussetzen, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist. Wird der Strafrest nicht ausgesetzt, so wird der Vollzug der Maßregel fortgesetzt; das Gericht kann jedoch den Vollzug der Strafe anordnen, wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen.

(6) Das Gericht bestimmt, dass eine Anrechnung nach Absatz 4 auch auf eine verfahrensfremde Strafe erfolgt, wenn deren Vollzug für die verurteilte Person eine unbillige Härte wäre. Bei dieser Entscheidung sind insbesondere das Verhältnis der Dauer des bisherigen Freiheitsentzugs zur Dauer der verhängten Strafen, der erzielte Therapieerfolg und seine konkrete Gefährdung sowie das Verhalten der verurteilten Person im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. Die Anrechnung ist in der Regel ausgeschlossen, wenn die der verfahrensfremden Strafe zugrunde liegende Tat nach der Anordnung der Maßregel begangen worden ist. Absatz 5 Satz 2 gilt entsprechend.