Bundesgerichtshof Beschluss, 25. Okt. 2001 - 1 StR 435/01

bei uns veröffentlicht am25.10.2001

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 435/01
vom
25. Oktober 2001
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. Oktober 2001 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 13. Juni 2001 aufgehoben. Der Angeklagte wird freigesprochen. 2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last. 3. Die Entscheidung über die Entschädigung des Angeklagten wegen der erlittenen Strafvollstreckungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
Im Rahmen eines Handgemenges in einer größeren Personengruppe verteidigte sich der Angeklagte – der sich in einer Notwehrsituation befand – mit einem Messerstich gegen den Angreifer B. . Die von dem Angeklagten gewählte Verteidigung hält das Landgericht jedoch weder für erforderlich
noch für geboten. Er habe zwar über die Grenzen des Notwehrrechts geirrt, sei dabei jedoch einem vermeidbaren Verbotsirrtum unterlegen. Auch lägen die Voraussetzungen des § 33 StGB nicht vor.
Die Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen war sein Handeln durch Notwehr gerechtfertigt.
1. In einer Gaststätte trafen der Angeklagte und seine beiden Begleiter mit dem ihm körperlich überlegenen Geschädigten B. zusammen, der sich dort mit sechs Bekannten aufhielt. Nach einer verbalen Auseinandersetzung kam es auûerhalb des Lokals zu einem Handgemenge, bei dem der Freund des Angeklagten ± der sich selbst daran nicht beteiligt hatte ± angegriffen wurde. Als der Angeklagte seinem Freund zu Hilfe kommen wollte, wurde er von einer nicht ermittelten Person, die hinter seinem Rücken stand, an seinen schulterlangen Haaren gepackt und zu Boden gezogen. Er kam in Rükkenlage zum Liegen, wobei der Zug an seinen Haaren andauerte und ihn so an den Boden fixierte.
In dieser Situation trat B. hinzu, den der Angeklagte bei der vorausgehenden Auseinandersetzung als streitsüchtig kennengelernt hatte. Beide waren erheblich alkoholisiert. B. kniete sich von links auf den rücklings am Boden liegenden Angeklagten, faûte mit seiner linken Hand an den Hals des Angeklagten und erhob seine zur Faust geballte rechte Hand, um auf ihn einzuschlagen. Der Angeklagte, der mit der linken Hand nach hinten gegriffen hatte, um den schmerzhaften Zug auf seine Haare abzuschwächen, fürchtete sich vor den drohenden Schlägen und suchte nach einer Verteidi-
gungsmöglichkeit, zumal keiner der Umstehenden Anstalten machte, einzugreifen. Er zog seinen am Gürtel getragenen Dolch und stach dem über ihm knienden B. mit bedingtem Tötungsvorsatz mit Wucht in einer sichelförmigen Bewegung um den ihn am Hals packenden Arm in den Oberbauch. Unmittelbar nach Zufügung des Stiches lieû B. vom Angeklagten ab und flüchtete.
2. Die vom Angeklagten gewählte Verteidigungshandlung war im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich.

a) Die Erforderlichkeit dieser Verteidigungshandlung hat das Landgericht mit der Begründung verneint, auch ein weniger gefährlicher Stich in die Arme oder Beine hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Angriff endgültig beendet. Zwar sei dem Angeklagten eine vorherige Androhung nicht mehr zumutbar gewesen, die Wahl der relativ milderen Verteidigungshandlung sei vom Angeklagten aber zu verlangen und ihm auch möglich gewesen.

b) Ob die Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich ist, hängt im wesentlichen von Art und Maû des Angriffs ab. Dabei darf sich der Angegriffene grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten läût. Das schlieût auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel ein. Zwar kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das letzte Mittel der Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf mit unge-
wissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen (st.Rspr., vgl. nur BGH NStZ 1998, 508; NStZ-RR 1999, 40; 1999, 264; StV 2001, 566; BGH, Beschluû vom 24. Juli 2001 ± 4 StR 256/01).

c) Nach diesen in der Rechtsprechung entwickelten Maûstäben durfte sich der Angeklagte wie geschehen verteidigen. Daû dies am ehesten durch den Einsatz des mitgeführten Messers zu erreichen war, liegt auf der Hand. Von daher war es ein geeignetes Mittel der Abwehr. Der Stich in den Körper des Angreifers war auch erforderlich. Die Auffassung des Landgerichts, ein Stich in Arme oder Beine hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Angriff endgültig beendet, ist nicht durch Tatsachen belegt. Im Gegenteil : Sogar nach dem wuchtigen Stich in den Oberbauch mit einem 10 cm tiefen Stichkanal war B. noch in der Lage, sich zu erheben und zu flüchten. Hinzu kommt, daû der Angeklagte durch den Zug an den Haaren ± den er mit einer Hand abzuwehren versuchte ± und den Würgegriff B. s in zweifacher Weise am Boden fixiert war. Durch den unmittelbar bevorstehenden Faustschlag drohten dem Angeklagten zudem ± anders als das Landgericht annimmt ± nicht “lediglich eine Verletzung der körperlichen Integrität” sondern unmittelbare Lebensgefahr, denn durch die Fixierung des Kopfes bildete der Boden ein lebensgefährliches Widerlager. In dieser Situation, die nur eine schnelle und endgültige Beseitigung der Gefahr erforderte, brauchte sich der Angeklagte daher nicht auf Mittel und Möglichkeiten verweisen lassen, deren Abwehrerfolg ungewiû war.
3. Da lediglich ein Mangel der rechtlichen Würdigung vorliegt und auszuschlieûen ist, daû weitergehende Feststellungen getroffen werden können, entscheidet der Senat in der Sache selbst. Die Entscheidung über die Ver-
pflichtung zur Entschädigung für Strafverfolgungsmaûnahmen (§ 8 StrEG) ist vom Landgericht zu treffen, weil Art und Umfang der entschädigungspflichtigen Maûnahmen ohne weitere Feststellungen und ohne weitere Anhörung der Beteiligten nicht zu bestimmen sind (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 264).
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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 32 Notwehr


(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen - StrEG | § 8 Entscheidung des Strafgerichts


(1) Über die Verpflichtung zur Entschädigung entscheidet das Gericht in dem Urteil oder in dem Beschluß, der das Verfahren abschließt. Ist die Entscheidung in der Hauptverhandlung nicht möglich, so entscheidet das Gericht nach Anhörung der Beteiligte

Strafgesetzbuch - StGB | § 33 Überschreitung der Notwehr


Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

(1) Über die Verpflichtung zur Entschädigung entscheidet das Gericht in dem Urteil oder in dem Beschluß, der das Verfahren abschließt. Ist die Entscheidung in der Hauptverhandlung nicht möglich, so entscheidet das Gericht nach Anhörung der Beteiligten außerhalb der Hauptverhandlung durch Beschluß.

(2) Die Entscheidung muß die Art und gegebenenfalls den Zeitraum der Strafverfolgungsmaßnahme bezeichnen, für die Entschädigung zugesprochen wird.

(3) Gegen die Entscheidung über die Entschädigungspflicht ist auch im Falle der Unanfechtbarkeit der das Verfahren abschließenden Entscheidung die sofortige Beschwerde nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung zulässig. § 464 Abs. 3 Satz 2 und 3 der Strafprozeßordnung ist entsprechend anzuwenden.