Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 30. Sept. 2015 - L 10 AL 81/15

bei uns veröffentlicht am30.09.2015
vorgehend
Sozialgericht Nürnberg, S 1 AL 245/14, 18.12.2014

Gericht

Bayerisches Landessozialgericht

Tenor

I.

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 18.12.2014 wird zurückgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg).

Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und wohnt in N-Stadt (bei B-Stadt; Schweiz). Sie meldete sich am 18.12.2013 bei der Dienststelle der Beklagten in L-Stadt arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg. Das Arbeitsverhältnis mit ihrem Arbeitgeber sei durch einen Aufhebungsvertrag vom 25.08.2013 zum 31.12.2013 beendet worden. Ihr Ehemann habe im Juli 2012 eine Tätigkeit in der Schweiz aufgenommen und der Familienwohnsitz sei dorthin verlegt worden. Seit dieser Zeit habe sie sich bemüht, innerhalb des Konzerns ihres Arbeitgebers in die Schweiz zu wechseln. Dies sei jedoch gescheitert und auch ein Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber sei nicht gelungen. Zuletzt habe sie die hohe zeitliche Belastung jedes Wochenende, die mit dem Pendeln von ihrem Familienwohnsitz in der Schweiz zu ihrem Arbeitsort nach N-Stadt verbunden gewesen sei, dazu bewogen, den Aufhebungsvertrag abschließen, zumal ihr Arbeitgeber zudem betriebsbedingte Reduzierungen des Personals geplant hatte.

Mit Bescheid vom 16.01.2014 lehnte die Beklagte die Zahlung von Alg ab. Leistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) könnten nur an in Deutschland wohnhafte Personen erbracht werden. Zu Beginn der Arbeitslosigkeit sei die Klägerin bereits in der Schweiz wohnhaft gewesen. Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie stehe als Grenzgängerin dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung. Hierauf stellte die Beklagte (im Rahmen eines Aktenvermerkes) fest, dass die Klägerin zwar die Dienststelle in L-Stadt innerhalb einer zumutbaren Pendelzeit (Fahrstrecke 106 km einfach; Fahrzeit: 1 Stunde 11 Minuten) erreichen könne, nicht jedoch potentielle Arbeitgeber im Zuständigkeitsbereich der Dienststelle L-Stadt oder ausbildungsadäquate Maßnahmen der Beklagten, die - unter Beachtung der akademischen Ausbildung der Klägerin - nur in F-Stadt (Fahrstrecke 170 km einfach; Fahrzeit: 1 Stunde 45 Minuten) angeboten würden. Mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin habe keinen Wohnsitz mehr in Deutschland und sei daher vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Soweit das Territorialprinzip unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) in engen Grenzen durchbrochen werden könne, erfülle die Klägerin diese Voraussetzungen nicht. Erfasst würden hiervon lediglich Personen, die nach dem Ende ihrer Beschäftigung ihren Wohnsitz ins grenznahe Ausland verlegt hätten. Die Klägerin lebe jedoch bereits seit Juli 2012 in der Schweiz und falle als Grenzgängerin nicht unter diese Rechtsprechung.

Hiergegen hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Sie wohne seit Juni 2012 mit ihrem Ehemann in der Schweiz. Ihren vorherigen Wohnsitz in L-Stadt habe sie damals aufgegeben. Für die Dauer ihrer weiteren Beschäftigung - bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses im Dezember 2013 - sei sie an jedem Wochenende von ihrem Wohnsitz in der Schweiz nach N-Stadt gependelt. Nach Auskunft der Schweizer Behörden habe sie wegen der Berücksichtigung der Abfindung bis 04.08.2014 keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung (ALE) nach Schweizer Recht. Sie erfülle trotz ihres Auslandswohnsitzes alle Voraussetzungen für den Bezug von Alg nach deutschem Recht. Nachdem sie Arbeitgeber in Baden-Württemberg innerhalb von einer bis eineinhalb Stunden erreichen könne, sei ihr Wohnort als grenznah zu qualifizieren. Zudem dokumentiere sie gegenüber der Beklagten ihre Eigenbemühungen regelmäßig, so dass sie als verfügbar im Sinne des deutschen Rechts anzusehen sei. Erst seit dem 12.09.2014 erhalte sie ALE nach Schweizer Recht.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 18.12.2014 abgewiesen. Die Klägerin habe mangels eines gewöhnlichen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland - ihr Wohnsitz befinde sich seit dem Jahr 2012 in der Schweiz - keinen Anspruch nach dem SGB III. Sie könne sich auch nicht auf die Entscheidung des BVerfG vom 30.12.1999 (1 BvR 809/95) berufen, wonach der Begriff des Wohnsitzes für den Personenkreis derjenigen verfassungskonform auszulegen sei, die grenznah wohnten und den Status eines Grenzgängers nicht erfüllten. Zum einen sei der Wohnsitz der Klägerin mehr als 100 km von der nächsten Dienststelle der Beklagten entfernt und damit nicht mehr als grenznah anzusehen. Zum anderen sei die Klägerin Grenzgängerin i. S. d. des Art. 65 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. EU vom 30.04.2004; L 166 S. 1, gesamte Vorschrift ber. ABl. Nr. L 200 S. 1 - EG [VO] Nr. 883/2004), so dass sie Leistungen bei Arbeitslosigkeit allein gegenüber dem Wohnortstaat geltend machen könne.

Gegen das Urteil hat die Klägerin Berufung beim Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Entgegen der Darstellung der Beklagten liege ihr Wohnort im Nahbereich der Dienststelle der Beklagten in L-Stadt. Die von der Beklagten zugrunde gelegten Fahrzeiten entsprächen nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Im Übrigen seien die Überlegungen der Beklagten zur Verfügbarkeit dazu geeignet, nicht nur sie sondern auch einen großen Teil aller Leistungsbezieher in Ballungsräumen von Ansprüchen auf Alg grundsätzlich auszuschließen. Zudem seien ihr diese Überlegungen zur fehlenden Verfügbarkeit zu keinem Zeitpunkt seitens der Beklagten erläutert worden. Nicht nachvollziehbar sei in diesem Zusammenhang auch das Verhalten der Beklagten, trotz angeblich fehlender Verfügbarkeit einen - wenn auch unzureichenden - Vermittlungsvorschlag unterbreitet zu haben. Durch die Anwendung des Schweizer Rechts habe sie erhebliche Nachteile hinnehmen müssen. Die Bezugsdauer (12.09.2014 bis 23.01.2015) sowie die daraus resultierende Gesamtleistung sei - unabhängig von der Frage des grundsätzlich höheren Leistungsanspruches und der längeren Leistungsdauer - deutlich hinter dem zurückgeblieben, was sie nach deutschem Recht für den Zeitraum vom 01.02.2014 bis 23.01.2015 zu beanspruchen gehabt hätte. Zudem habe sie in der Schweiz auf eigene Kosten eine Krankenversicherung abschließen müssen und von Schweizer Behörden habe sie keine Vermittlungsleistungen erhalten. Soweit vorliegend Ansprüche nach deutschem Recht erworben worden seien und nach Schweizer Recht eingelöst würden, dürfe dies nicht zu einer Benachteiligung führen. Auch habe sowohl der EuGH (Urteil vom 08.07.1992 - C 102/91) als auch das BSG (Urteil vom „27“.03.2007 - B 11a AL 49/“96“) anerkannt, dass zwar nicht der gleichzeitige aber der aufeinanderfolgende Bezug von Leistungen aus der gleichen Anwartschaft aus den Sozialleistungssystemen mehrerer Mitgliedstaaten möglich sei. Insoweit habe lediglich eine Anrechnung der in einem anderen Mitgliedstaat vorab bezogenen Leistungen zu erfolgen. Durch die Aufforderung der Beklagten, Leistungen nach Schweizer Recht geltend zu machen, sei sie zu Unrecht aus dem deutschen Sozialleistungssystem gedrängt worden, woraus ihr kein Nachteil entstehen dürfe, denn sie erfülle die Anspruchsvoraussetzungen nach deutschem Recht.

Die Klägerin beantragt

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 18.12.2014 sowie den Bescheid vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2014 aufzuheben und die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, Arbeitslosengeld nach deutschem Recht für den Zeitraum vom 01.02.2014 bis 04.08.2014 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das SG habe zutreffend entschieden. Unter Beachtung des Wohnsitzes der Klägerin in der Schweiz, von dem aus sie dem deutschen Arbeitsmarkt im Sinne des SGB III auch nicht zur Verfügung stehen könne, habe die Klägerin keinen Anspruch auf Alg.

Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerechte Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtgesetz - SGG), in der Sache aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 16.01.2014 i. d. G. des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat als Grenzgängerin aufgrund ihres Wohnsitzes in der Schweiz und der daraus folgenden Anbindung an das Schweizer System der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf Alg nach deutschem Recht.

Nach § 3 Abs. 2 Nr. 4, § 19 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I), § 137 Abs. 1 SGB III i. V. m. § 30 Abs. 1 SGB I haben Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit lediglich Personen, die ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches, d. h. in der Bundesrepublik Deutschland haben. Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin aufgrund ihres Wohnsitzes in N-Stadt/Schweiz ersichtlich nicht. Als Grenzgängerin i. S. d. Art. 65 Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 lit. a i. V. m. Art. 1 lit. f) EG (VO) Nr. 883/2004 hat die Klägerin lediglich Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften ihres Wohnsitzstaates, d. h. allein nach Schweizer Recht.

Eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen (Art. 65 Abs. 2 Satz 1 EG [VO] Nr. 883/2004). Hierbei erhalten die in Art. 65 Abs. 2 Satz 1 (und 2) genannten Arbeitslosen Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten (Art. 65 Abs. 5 lit. a Satz 1 EG [VO] Nr. 883/2004).

Diese Regelungen sind auf das vorliegende Verfahren anzuwenden, auch wenn die Schweizer Eidgenossenschaft nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Mit dem „Gesetz zu dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit“ (vom 02.09.2001 BGBl. II 2001 S 810ff - Sektoralabkommen) haben die Europäische Union sowie deren Mitgliedstaaten und die Schweizer Eidgenossenschaft (Vertragsparteien) u. a. vereinbart, dass die Systeme der sozialen Sicherheit zwischen den Vertragsparteien koordiniert werden (Artikel 8 Sektoralabkommen i. V. m. Anhang II des Abkommens). Nach Artikel 1 Abs. 1 dieses Anhanges II (BGBl. II 2001 S. 822) sind die Vertragsparteien darin überein gekommen, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die in Abschnitt A (BGBl. II 2001 ab S. 823) des Anhangs genannten gemeinschaftlichen Rechtsakte in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens geltenden Fassung einschließlich der in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Änderungen oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden. Dort ist zwar nur die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (BGBl. II 2001 S. 823) genannt, die durch die EG (VO) Nr. 883/2004 abgelöst worden ist. Gestützt auf das Sektoralabkommen, insbesondere auf Art. 18 dieses Abkommens, hat der dort genannte gemischte Ausschuss in dem dafür vorgesehenen Verfahren am 31.03.2012 jedoch beschlossen (Art. 1 des Beschlusses vom 31.03.2012 i. V. m. Anhang II dieses Beschlusses; ABl. der EU vom 13.04.2012, L 102/51), dass Abschnitt A folgende Fassung erhält:

„ Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird

Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und zur Festlegung des Inhalts ihrer Anhänge.“

Dieser Beschluss trat am Tag nach seiner Annahme (Art. 3 des Beschlusses vom 31.03.2012), d. h. am 01.04.2012 in Kraft, so dass ab diesem Zeitpunkt Staatsangehörige der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Leistungen zur sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit in der Schweiz (nur noch) auf der Grundlage der VO (EG) Nr. 883/2004 zu beanspruchen hatten.

Als „zuständiger Staat“ i. S. d. Art. 65 Abs. 2 Satz 1 EG (VO) Nr. 883/2004 ist hierbei der Mitgliedstaat anzusehen, in dessen Gebiet der zuständige Träger seinen Sitz hat (Art. 1 lit. s EG [VO] Nr. 883/2004), mithin die Bundesrepublik Deutschland, denn die Bundesagentur für Arbeit ist der zuständige Träger, gegen den die Klägerin einen Anspruch auf Leistungen hätte, wenn sie selbst im Gebiet des Mitgliedstaats wohnen würde, in dem dieser Träger seinen Sitz hat (Art. 1 lit. q) ii) EG [VO] Nr. 883/2004). Wohnmitgliedstaat ist der Mitgliedstaat des Wohnortes, d. h. des gewöhnlichen Aufenthaltes (Art. 1 lit. j EG [VO] Nr. 883/2004). Vorliegend ist, die Ausführungen der Klägerin zu ihren Lebensverhältnissen zugrunde gelegt, als Wohnort in Sinne dieser Regelungen N-Stadt in der Schweiz anzusehen. Zum Zeitpunkt des Eintrittes ihrer Arbeitslosigkeit am 01.01.2014 hatte die Klägerin bereits seit mehr als einem Jahr ihren Wohnsitz und spätestens seit Mai 2013 auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz. Der gewöhnliche Aufenthalt beschreibt einen Ort oder ein Gebiet, das nach den Umständen des Aufenthaltes zu erkennen gibt, dass sich der Betroffene nicht nur vorübergehend dort aufhalten wird und in dem der Schwerpunkt seiner Lebensbeziehungen liegt. Nach den Angaben der Klägerin haben sie und ihr Ehemann im Juni 2012 den gemeinsamen Wohnsitz in L-Stadt/Deutschland aufgegeben und einen neuen gemeinsamen (Familien-)Wohnsitz in N-Stadt/Schweiz begründet, so dass bereits aufgrund der familiären Bindung und der damit verbundenen Lebensplanung für die Klägerin schon zu diesem Zeitpunkt absehbar war, dass der weitere Aufenthalt in Deutschland trotz der Fortführung des Beschäftigungsverhältnisses bei ihrem bisherigen Arbeitgeber kein dauerhafter, sondern allenfalls von vorübergehender Natur sein werde. Dies bestätigt sich durch die von der Klägerin vorgetragene Absicht, nach der Begründung des Familienwohnsitzes in der Schweiz auch ihre berufliche Tätigkeit dorthin zu verlagern. Der sichere Beleg für die Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland ergibt sich aber spätestens durch den Umstand, dass sich die Klägerin ab Mai 2013 in ihrer alten Wohnortgemeinde abgemeldet und ihre Unterkunft in Deutschland zum Zwecke der Durchführung ihres Arbeitsverhältnisses nur noch durch die monatsweise Anmietung eines Appartements über eine Mitwohnzentrale sicher gestellt hat. Spätestens ab diesem Zeitpunkt im Mai 2013 lag der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen der Klägerin - ungeachtet anderer persönlicher oder beruflicher Bindungen in Deutschland, die spätestens mit der (Zweit-)Wohnsitznahme auf Zeit in den Hintergrund traten - an ihrem Familienwohnsitz in N-Stadt/Schweiz. Nach ihren eigenen Angaben ist die Klägerin auch an jedem Wochenende, d. h. zumindest einmal wöchentlich, an diesen Familienwohnsitz, d. h. in den Wohnmitgliedstaat zurückgekehrt, so dass sie als „echte“ Grenzgängerin i. S. d. Art. 1 lit. f EG (VO) Nr. 883/2004 anzusehen ist.

Für diesen Personenkreis hat der EuGH bereits entschieden (Urteil vom 11.04.2013 - C-443/11, Rs. Jeltens u. a. - ZESAR 2013, 366-374), dass sich ein vollarbeitsloser Grenzgänger, der in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat, dem Wohnmitgliedstaat, wohnt, dessen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen muss. Hierbei handelt es sich nicht um eine Wahlmöglichkeit, sondern um eine Verpflichtung, wobei Art. 65 Abs. 2 Satz 2 EG (VO) Nr. 883/2004 einem Arbeitslosen - in Erweiterung der Rechtslage zur Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - lediglich die Möglichkeit eröffnet, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem er zuletzt eine Beschäftigung ausgeübt hat. Der EuGH hat mit seiner Entscheidung damit vor allem hervorgehoben, dass die Vorschrift des Art. 65 Abs. 2, Abs. 5 VO (EG) Nr. 883/2004 eine abschließende (Koordinierungs-)Regelung in Bezug auf passive Leistungen der Arbeitsförderung für (echte) Grenzgänger darstellt. Aus dem Wortlaut der Neuregelung des Art. 65 VO (EG) Nr. 883/2004 leitet der EuGH unter Beachtung der im Gesetzgebungsverfahren maßgeblichen Überlegungen ab, dass die Verantwortung für die Zahlung von Entgeltersatzleistungen, die zur Sicherung des Lebensunterhaltes bei Arbeitslosigkeit geeignet sind, beim Wohnstaat des (echten) Grenzgängers verbleiben soll. Lediglich soweit sich der vollarbeitslose Arbeitnehmer zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaates der letzten Beschäftigung zwecks Arbeitssuche zur Verfügung stellt, kann er, gestützt auf koordinierungsrechtliche Vorschriften, Leistungen der aktiven Arbeitsförderung (insbes. Eingliederungsleistungen) in Anspruch nehmen. Damit habe der europäische Gesetzgeber der Rechtsprechung des EuGH zum „atypischen“ Grenzgänger (Rs. Miethe - Urteil vom 12.06.1986 - C-1/85, Slg. 1986, 1846) lediglich teilweise Rechnung tragen wollen und insbesondere klargestellt, dass Ansprüche eines (echten) Grenzgängers auf Entgeltersatzleistungen bei Aufrechterhaltung des Wohnorts nach Eintritt der Arbeitslosigkeit ausschließlich gegen den Wohnsitzstaat bestehen können.

Soweit es nach dieser Entscheidung des EuGH den nationalen Gesetzgebern überlassen bleibt, einen (Geld-) Leistungsanspruch vom Innehaben eines inländischen Wohnsitzes abhängig zu machen, sofern nach den Bestimmungen des Koordinierungsrechts die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats zur Anwendung kommen (Urteil vom 11.04.2013 a. a. O. - Leitsatz 2), findet sich in den (für einen Leistungsanspruch der Klägerin maßgeblichen) nationalen Vorschriften (SGB I, SGB III, SGB X) aber keine Rechtgrundlage, auf die das Zahlungsbegehren der Klägerin gestützt werden kann.

Beachtlich ist in diesem Zusammenhang allenfalls die Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 30.12.1999 - 1 BvR 809/95 - juris), wonach von Verfassungswegen eine Auslegung des Begriffes „Wohnsitz“ geboten sei, die den aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) abgeleiteten Anspruch des Grenzgängers auf eine seiner Beitragszahlung entsprechende Sozialleistung zur Geltung bringt. Hintergrund dieser Entscheidung war die Problematik, dass zum Zeitpunkt dieser Rechtsprechung österreichische Staatsangehörige (damals noch) als Drittstaatsangehörige (noch) keine Rechte aus dem europäischen Koordinierungsrecht der EWG (VO) Nr. 1408/71 ableiten konnten. Diese Möglichkeit wurde erst mit der VO (EG) Nr. 859/2003 (Verordnung des Rates vom 14.05.2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen) geschaffen. Hieraus ist aber nicht zu schließen, dass der Begriff des Wohnsitzes - wovon die Klägerin wohl ausgeht - für einen grenznah lebenden Arbeitslosen stets zu relativieren sei. Ziel der Entscheidung des BVerfG war es lediglich eine Äquivalenz zwischen Beitragszahlung und Leistungsansprüchen herzustellen, wie sie auch ein im Inland grenznah lebender Arbeitsloser geltend machen kann. Es ist ein verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstandendes Ziel nationaler Sozialpolitik, sozial relevante Tatbestände im eigenen Staatsgebiet zu formen und zu regeln, so dass der Gesetzgeber für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit an den Wohn- oder Aufenthaltsort anknüpfen kann. Er ist lediglich darin gehindert, ohne gewichtige sachliche Gründe den Anknüpfungspunkt zwischen Beitragserhebung und Leistungsberechtigung zu wechseln (BVerfG, Beschluss vom 30.12.1999 a. a. O. - Leitsatz 1 und 2). Hieraus ist aber lediglich der Grundsatz abzuleiten, dass dem im Inland beitragspflichtig gewesenen Arbeitslosen - unabhängig von der Frage, ob es sich um einen Grenzgänger gehandelt hat - grundsätzlich die Möglichkeit offen stehen muss, eine seiner Beitragszahlung entsprechende Sozialleistung geltend machen zu können, soweit er trotz des Wohnsitzes im grenznahen Ausland die Anspruchsvoraussetzungen - mit Ausnahme des Inlandswohnsitzes - in gleicher Weise erfüllen kann wie ein Arbeitsloser, der in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaft ist. Nicht geboten ist es jedoch, ihm eine Wahl zu eröffnen, eine bestimmte Sozialleistung im Zusammenhang mit der Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt in Anspruch nehmen zu können, d. h. unabhängig vom Wohnsitzerfordernis stets (Geld-)Leistungsansprüche zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach deutschem Recht zuzubilligen. Dem Grundsatz, die adäquate Einlösung erworbener Anwartschaften im Zusammenhang mit der Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt grundsätzlich zu ermöglichen, hat der deutsche Gesetzgeber im europäischen Rahmen durch den Abschluss internationaler Abkommen, vorliegend den Koordinierungsregelungen der VO (EG) Nr. 883/2004 und des Sektoralabkommens, in anderer Weise hinreichend Rechnung getragen, die aber einer Bewilligung von (Geld-)Leistungen nach deutschen Recht an die Klägerin als Grenzgängerin entgegenstehen (siehe bereits oben) und lediglich Eingliederungsleistungen vorsehen, sofern die Arbeitsaufnahme im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung angestrebt wird.

Entgegen dem Vortrag der Klägerin ist sie in der Zeit ab dem 01.01.2014 (bis zur erstmaligen Zahlungen von Leistungen ab dem 12.09.2014) auch nicht dem Grunde nach vom Leistungsbezug nach Schweizer Recht ausgeschlossen, weil sie die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllen würde. Mit ihrer Arbeitslosmeldung bei den zuständigen Schweizer Behörden hatte sie alle Anspruchsvoraussetzungen (i. S. d. Art. 8 des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung - AVIG) nach Schweizer Recht erfüllt, insbesondere auch die nach dem Schweizer Recht notwendige Anspruchsvoraussetzung eines anrechenbaren Arbeitsausfalles, d. h. des Ausfall des Arbeitsentgeltes (Art. 8 Abs. 1 lit. b i. V. m. Art. 11 Abs. 1 AVIG). Sie war lediglich - vergleichbaren den deutschen Regelungen zum Ruhen des Anspruches auf Alg - von der Auszahlung von Leistungen ausgeschlossen, nachdem wegen der freiwilligen Leistungen ihres Arbeitgebers bei der Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Arbeitsausfall nur als nicht anrechenbar galt (Art. 11a Abs. 1 AVIG). Der Anspruch war damit, d. h. mit der Arbeitslosmeldung (Art. 10 Abs. 3 AVIG), dem Grunde nach aber bereits entstanden, so dass die Klägerin ab diesem Zeitpunkt dem Schweizer System zur sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit unterworfen und lediglich die Auszahlung der Leistung hinausgeschoben war. Das hier gefundene Ergebnis wird bestätigt durch die Bewilligung seitens der Schweizer Behörden, die der Klägerin einen Anspruch auf ALE von 400 Tagegeldern bewilligt haben. Wäre die Anwartschaft, d. h. der materielle Anspruch der Klägerin (i. S. e. eines Stammrechtes) erst nach Ablauf der Zahlungssperre im August 2014 entstanden - so ihr Vortrag - hätte die Klägerin (ausgehend vom Vorliegen aller übrigen Anspruchsvoraussetzungen im August 2014) innerhalb der maßgeblichen Rahmenfrist von zwei Jahren (Art. 9 Abs. 2 und 3 AVIG) weniger als 18 Monate Beitragszeiten (i. S. d. Art. 13 AVIG) zurückgelegt (nämlich allenfalls von August 2013 bis Dezember 2014), so dass sie höchstens Anspruch auf 260 Tagegelder gehabt hätte (Art. 27 Abs. 2 lit. a AVIG).

Im Ergebnis kommt es daher nicht mehr darauf an, ob der Wohnsitz der Klägerin in der Westschweiz (ca. 75 km bis zur französischen Grenze) nach allgemeinen Verständnis oder dem Wortsinn nach noch als „grenznah“ anzusehen ist. Ebenso ist ohne Relevanz, ob die Klägerin innerhalb von 66 Minuten (nach ihren Angaben) oder von 71 Minuten (Berechnungen der Beklagten) die Dienststelle der Beklagten in L-Stadt erreichen kann, wobei beide Berechnungen Verzögerungen beim Grenzübertritt unberücksichtigt lassen, so dass die Frage der Verfügbarkeit ohnehin in Frage stehen würde (vgl. hierzu auch Urteil des erkennenden Senates vom 06.08.2014 - L 10 AL 175/12 - juris m. w. N.). Damit kann auch dahinstehen, ob die Klägerin mit einem im Bezirk der Agentur für Arbeit in L-Stadt ansässigen Arbeitslosen überhaupt zu vergleichen ist, denn allein dies würde nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Gleichbehandlung ungeachtet des Wohnsitzerfordernisses rechtfertigen. Die Agentur für Arbeit L-Stadt ist eine von 19 Agenturen für Arbeit in Baden-Württemberg und liegt an Ober- und Hochrhein im äußersten Südwesten des Landes, an der Grenze zur Schweiz und Frankreich. Der Agenturbezirk umfasst mit seiner Fläche von 1.938 qkm die beiden Landkreise L. und W. und ist in zwei Geschäftsstellen L-Stadt und W.-T. gegliedert (Quelle: https://www. a...de/.../.../DE/.../.../.../.../.../.../i...htm). Diese Größenverhältnisse legen den Schluss nahe, dass im Zuständigkeitsbereich der Dienstelle der Agentur für Arbeit in L-Stadt ein dort ansässiger Arbeitsloser nicht mehr als 50 km Entfernungskilometer zu einer Dienststelle der Beklagten zurückzulegen hat, womit unter Beachtung dieser regionalen Gegebenheiten eine Entfernung von mehr als 100 km (Fahrstrecke) eine Vergleichbarkeit in Bezug auf das Tatbestandsmerkmal der Verfügbarkeit (i. S. d. § 138 Abs. 5 Nr. 2 SGB III i. V. m. der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können - Erreichbarkeits-Anordnung - EAO) ebenfalls zweifelhaft erscheinen ließe.

Eine andere Betrachtungsweise ergibt auch nicht aus dem Vorbringen der Klägerin, sie werde durch die Inanspruchnahme von Leistungen nach Schweizer Recht unverhältnismäßig benachteiligt. Zum einen ist zu beachten, dass die Bestimmungen des Vertrages über die Freizügigkeit einem Versicherten nicht garantieren, ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit sei neutral, denn diese Bestimmungen dienen allein der Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, sehen aber keine Harmonisierung vor, so dass ein Umzug aufgrund der Unterschiede, die in diesem Bereich zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für den Versicherten in finanzieller Hinsicht mehr oder weniger vorteilhaft sein kann (vgl. EuGH, Urteil vom 11.04.2013 a. a. O. m. w. N.). Zum anderen ist bei der vorliegend notwendigen, generalisierenden Betrachtungsweise eine Benachteiligung der Klägerin nicht zu erkennen, denn mit Ausnahme der unvorteilhafteren Ruhensvorschriften hatte die Klägerin einen längeren Leistungsanspruch (der soweit ersichtlich nur durch den Erwerb einer neuen Anwartschaft erlischt) und Anspruch auf höhere Leistungen je Tag der Arbeitslosigkeit (ca. 70.- € nach dem SGB III; ca. 148.- € nach dem AVIG). Die Klägerin kann auch nicht damit gehört werden, dass Leistungen aus der gleichen Anwartschaft nacheinander von verschiedenen Mitgliedstaaten zu erfüllen seien, und die Leistungen lediglich aufeinander angerechnet werden dürften. Die von ihr herangezogene Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 08.07.1992 - C 102/91; Rs. Knoch - juris) betrifft eine Arbeitnehmerin, die - anders als die Klägerin - nicht Grenzgängerin war und bei Eintritt der Arbeitslosigkeit sich zuerst dem Beschäftigungsstaat zur Verfügung gestellt und Leistungen bezogen hatte, und erst daran anschließend in den Wohnortstaat zurückgekehrt ist. Diese Fallgestaltung - Leistungen nach dem Recht des Beschäftigungsstaates und nachfolgend Leistungen des Wohnortstaates aus derselben Anwartschaft - war (und ist) durch die Koordinierungsregelung (vormals Art. 71 Abs. 1 lit. b ii EWG [VO] 1408/71 heute Art. 65 Abs. 5 lit. b EG [VO] 883/2004) nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wobei auch dort die vorrangigen Leistungsansprüche gegen den Beschäftigungsstaat bestehen, soweit bereits Leistungen durch den Beschäftigungsstaat an den Arbeitslosen erbracht worden sind. Demgegenüber ist für die Leistungsansprüche der Grenzgänger, die in den Mitgliedstaat ihres Wohnortes zurückkehren, spätestens nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Jeltens - unter Aufgabe der Rechtsprechung in der Rechtssache Miethe - klargestellt, dass Entgeltersatzleistungen ausschließlich durch den Wohnsitzstaat zu erbringen sind. Die darüber hinaus angesprochene Entscheidung des BSG (Urteil vom 21.03.2007 - B 11a AL 49/06 R - juris) schließt an die Entscheidung des EuGH vom 08.07.1992 an und betraf ebenfalls keinen Grenzgänger, so dass sich auch hieraus keine Hinweise auf einen Anspruch der Klägerin nach deutschem Recht ergeben.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt aus dem Unterliegen der Klägerin.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

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Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 30. Sept. 2015 - L 10 AL 81/15 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).

Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 30. Sept. 2015 - L 10 AL 81/15 zitiert 1 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 06. Aug. 2014 - L 10 AL 175/12

bei uns veröffentlicht am 06.08.2014

Tenor I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.05.2012 wird zurückgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen. T a t b e s t a n d :

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(1) Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit hat, wer

1.
arbeitslos ist,
2.
sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und
3.
die Anwartschaftszeit erfüllt hat.

(2) Bis zur Entscheidung über den Anspruch kann die antragstellende Person bestimmen, dass der Anspruch nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt entstehen soll.

(1) Die Vorschriften dieses Gesetzbuchs gelten für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben.

(2) Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben unberührt.

(3) Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.05.2012 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

T a t b e s t a n d :

Streitig ist die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) ab dem 20.08.2011.

Der Kläger bezog bis 19.08.2011 Krankengeld. Zum 20.08.2011 meldete er sich bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg. Er stehe in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis bei der L. AG, sei jedoch seit 19.02.2010 arbeitsunfähig erkrankt und könne seine Tätigkeit als Flugbegleiter nicht ausüben. Seinen Wohnsitz habe er seit 1999 in A-Stadt/Frankreich. Er sei telefonisch, postalisch und per E-Mail jederzeit erreichbar und könne sehr kurzfristig bei der Beklagten erscheinen. Über seinen Arbeitgeber könne er sehr günstige Flugtickets beziehen. Er müsse in Deutschland auch Arzttermine wahrnehmen und habe sowohl in Deutschland als auch in Frankreich Familie. Ausweislich des Gutachtens des Ärztlichen Dienstes der Beklagten vom 12.08.2011 lag ein vollschichtiges Leistungsvermögen beim Kläger vor.

Mit Bescheid vom 17.08.2011 lehnte die Beklagte die Zahlung von Alg ab. Der Kläger habe im Geltungsbereich des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 07.10.2009 (B 11 AL 25/08 R) habe auch ein nicht in Deutschland wohnender Arbeitsloser Anspruch auf Alg, wenn dieser - wie er - sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach deutschem Recht erfülle. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.09.2011 zurück.

Dagegen hat der Kläger beim Sozialgericht Nürnberg (SG) Klage erhoben. Der Gesetzgeber könne nicht ohne wichtige sachliche Gründe den Anknüpfungspunkt zwischen Beitragserhebung und Leistungsberechtigung wechseln. Er halte sich nach wie vor regelmäßig im R.-Gebiet auf und habe regelmäßig Arzttermine wahrzunehmen. Darüber hinaus bestünden starke familiäre und berufliche Bindungen nach Deutschland. Seine Situation unterscheide sich nicht wesentlich von der eines Grenzgängers. Während seiner Beschäftigung sei er zumindest einmal wöchentlich in Deutschland gewesen. Er sei insbesondere auch verfügbar, da er jederzeit nach B-Stadt fliegen könne. Trotz des Auslandswohnsitzes bestünden die besseren Eingliederungschancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Er habe im Inland Beiträge entrichtet, solle aber nunmehr mit der Begründung vom Bezug von Leistungen ausgeschlossen sein, dass er weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe. Dies Verstoße gegen die Niederlassungsfreiheit und Art 3 Grundgesetz (GG).

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 10.05.2012 abgewiesen. Der Kläger habe mangels eines Wohnsitzes in Deutschland keinen Anspruch auf Alg. Zuständig für eine etwaige Leistungserbringung sei der Mitgliedsstaat, in dem er während der letzten Beschäftigung gewohnt habe. Ein Grenzgänger habe nur dann einen Anspruch gegenüber dem Mitgliedsstaat der letzten Erwerbstätigkeit, wenn er sich (allein) der Arbeitsverwaltung dieses Mitgliedstaates zur Verfügung stelle und die Anspruchsvorrausetzungen nach dem dort geltenden innerstaatlichen Recht erfülle. Vorliegend erfülle der Kläger jedenfalls letztere Voraussetzungen nicht. Es fehle an einer Verfügbarkeit. Hierfür bedürfe es nämlich der Erreichbarkeit im Nahbereich der Beklagten, was im Hinblick auf einen Wohnsitz in A-Stadt an der französischen Mittelmeerküste nicht gegeben sei. Eine mehrstündige Reisezeit würde eine tägliche Anreise zu eventuellen ganztägigen Integrationsmaßnahme unmöglich machen.

Dagegen hat der Kläger Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Er sei für den deutschen Arbeitsmarkt jederzeit verfügbar. Während seiner beruflichen Tätigkeit habe er regelmäßig seine Arbeit in B-Stadt angetreten. Die Flugzeit betrage eineinhalb Stunden, was einem Arbeitslosen im Rahmen der Zumutbarkeit jederzeit abverlangt werden könne. Ob ein Arbeitsloser dabei im Nahbereich einer deutschen Agentur für Arbeit erreichbar sei, sei ohne Bedeutung. Er könne über die L. verbilligte Flüge in Anspruch nehmen und so jederzeit nach B-Stadt reisen, um dort mit der Arbeitsverwaltung zu sprechen, sich bei potentiellen Arbeitgebern vorzustellen und an Maßnahmen der Arbeitsverwaltung teilzunehmen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.05.2012 zu Aktenzeichen S 5 AL 340/11 sowie des Bescheides der Beklagten vom 17.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2011 zu verurteilen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen des SG. Die angegebene Flugzeit sei nicht mit der tatsächlichen Reisezeit identisch.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 17.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Ihm steht ein Anspruch auf Alg ab dem 20.08.2011 nicht zu.

Streitgegenstand ist die Zahlung von Alg ab dem 20.08.2011. Das hat die Beklagte mit Bescheid vom 17.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2011 abgelehnt. Dieses Ziel kann der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) erreichen. Da die Zahlung von Alg nicht im Ermessen der Beklagten steht, kommt eine Verbescheidungsklage (vgl § 131 Abs 3 SGG) nicht in Betracht. Das Begehren des Klägers war im Hinblick auf seinen Vortrag deshalb dahingehend auszulegen (§ 123 SGG), dass er unter Aufhebung des Urteils des SG vom 10.05.2012 und des Bescheides der Beklagten vom 17.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2011 die Zahlung von Alg ab dem 20.08.2011 beantragt.

Anspruch auf Arbeitslosengeld haben nach § 3 Abs 2 Nr. 4, § 19 Abs 1 Nr 6 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I), § 118 Abs 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) iVm § 30 Abs 1 SGB I lediglich Personen, die ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches, d.h. in Deutschland haben. Der Kläger hat seinen Wohnsitz in A-Stadt/Frankreich. Er erfüllt damit diese Voraussetzung nicht.

Auch unter Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben ergibt sich kein Anspruch auf Alg für den Kläger. Maßgebliches europäisches Koordinierungsrecht ist die Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl Nr L 166 Seite 1, gesamte Vorschrift ber. ABl Nr L 200 Seite 1 - EG (VO) Nr 883/2004), die am 01.05.2010 in Kraft getretenen ist (Art 91 Satz 2 VO (EG) Nr. 883/2004 iVm Art 97 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl L 284 vom 30.10.2009, Seiten 1-42 - VO (EG) Nr. 987/2009).

Der Kläger wohnt in A-Stadt und ist nach seinen Angaben - vor seiner Arbeitsunfähigkeit - regelmäßig zu seinem Einsatzort nach B-Stadt geflogen, um von dort aus seiner Tätigkeit als Flugbegleiter nachzugehen. Er ist damit Grenzgänger iSd Art 1 lit f) VO (EG) Nr 883/2004, denn "Grenzgänger" ist eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt. Über einen sich daraus möglicherweise ergebenden Leistungsanspruch nach französischem Recht hat der Senat jedoch nicht zu entscheiden.

Zwar ist nach dem Koordinierungsrecht des europäischen Verordnungsgebers ein Anspruch auf Alg auch gegen die Arbeitsverwaltung des (zuständigen) Mitgliedsstaates der letzten Erwerbstätigkeit denkbar. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger aber ebenfalls nicht. Mit der Neuordnung des Koordinierungsrechts wurde die Möglichkeit eröffnet, dass sich der Arbeitslose zusätzlich auch der Arbeitsverwaltung des (zuständigen) Mitgliedsstaates der letzten Erwerbstätigkeit zur Verfügung stellen kann (Art 65 Abs 2 Satz 2 EG (VO) Nr. 883/2004). Er hat dann auch die Verpflichtungen gegenüber der Arbeitsverwaltung dieses Mitgliedstaates zu erfüllen (Art 65 Abs 3 Satz 2 EG (VO) Nr. 883/2004). Allein mit dieser Regelung ist jedoch kein Wahlrecht verbunden, Geldleistungen des (zuständigen) Mitgliedstaates der letzten Erwerbstätigkeit - unter Beibehaltung der Wohnung im bisherigen Wohnsitzstaat - zu beanspruchen. Diese Leistungen sind auch in diesem Fall vom Träger des Wohnsitzstaates zu erbringen. Dies ergibt sich aus Art 56 Abs 2 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009. Der Verordnungsgeber geht dort selbst davon aus, dass die (Geld-)Leistungen im Falle der zusätzlichen Arbeitsplatzsuche auf dem Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates der letzten Erwerbstätigkeit weiterhin durch den Wohnsitzstaat zu erbringen sind, denn nach dieser Regelung hat es keine Auswirkungen auf die Leistungen, die im Wohnmitgliedstaat gewährt werden, wenn ein Arbeitsloser in dem Mitgliedstaat, in dem er zuletzt eine Beschäftigung ausgeübt hat, nicht allen Pflichten nachkommt und/oder nicht alle Schritte zur Arbeitssuche unternimmt (so Beschluss des Senates vom 22.12.2011 - L 10 AL 340/11 B ER).

Ein Grenzgänger hat einen Leistungsanspruch gegenüber dem zuständigen Mitgliedstaat der letzten Erwerbstätigkeit allenfalls dann, wenn er sich (allein) der Arbeitsverwaltung dieses Staates zur Verfügung stellt und die Anspruchsvoraussetzungen nach dem dort geltenden innerstaatlichen Recht erfüllt. Dem nationalen Gesetzgeber ist es insofern überlassen, einen (Geld-)Leistungsanspruch vom Innehaben eines inländischen Wohnsitzes abhängig zu machen, sofern nach den Bestimmungen des Koordinierungsrechts die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats zur Anwendung kommen (vgl EuGH, Urteil vom 11.04.2013- C-443/11 - ZESAR 2013, 366-374 - Jeltens ua). Art 65 VO (EG) 883/2004 stellt eine abschließende (Koordinierungs-)Regelung in Bezug auf passive Leistungen der Arbeitsförderung dar, da der Verordnungsgeber es in Kenntnis der Rechtsprechung des EuGH (insbesondere im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 12.06.1986 - C-1/85 - Slg. 1986, 1846 - Miethe) unterlassen hat, die Auslegung des EuGH zu Art. 71 VO (EWG) Nr. 1408/71 im Rahmen der Neuregelung umzusetzen, insbesondere nachdem im Gesetzgebungsverfahren kein Einvernehmen darüber erzielt werden konnte, das bestehende System zu beenden, wonach der arbeitslose Grenzgänger die Leistungen bei Arbeitslosigkeit vom Wohnstaat und nicht vom Staat seiner letzten Beschäftigung erhält (vgl dazu im Einzelnen: Utz in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK SozR, Stand 01.06.2014, Art 65 VO (EG) 883/2004 Rn 15).

Für den Kläger fehlt es demnach - unabhängig davon, ob bei ihm eine besondere Anbindung an den deutschen Arbeitsmarkt besteht oder nicht - an den Voraussetzungen für einen Leistungsbezug nach deutschem Recht. Deren Erfüllung ist auch bei einer verfassungskonformen Auslegung des § 30 Abs 1 SGB I dahingehend, dass der grenznahe Auslandswohnsitz dem Arbeitslosengeldanspruch eines zuvor in Deutschland wohnhaften und beitragspflichtigen Arbeitnehmers nicht entgegensteht, notwendig (vgl BVerfG vom 30.12.1999 - 1 BvR 809/95 - SozR 3-1200 § 30 Nr 20; BSG, Urteil vom 07.10.2009 - B 11 AL 25/08 R - BSGE 104, 280ff; Brand in Brand, SGB III, 6. Aufl, § 137 Rn 7).

Der Anspruch des Klägers auf Alg nach dem SGB III erfordert u.a. dessen Arbeitslosigkeit (§ 117 Abs 1 Nr 1 SGB III idF des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 - BGBl I 2848). Arbeitslosigkeit iSv § 118 Abs 1 SGB III iVm § 119 Abs 1 Nr 3 SGB III liegt vor, wenn der Arbeitnehmer den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit steht zur Verfügung, wer Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann (§ 119 Abs 5 Nr 2 SGB III), wobei die Bundesagentur ermächtigt wird, durch Anordnung Näheres zu den Pflichten des Arbeitslosen zu bestimmen, Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung Folge leisten zu können (§ 152 Nr 2 SGB III). In Ausübung dieser Anordnungsermächtigung hat die Beklagte in der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) vom 23.10.1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16.11.2001 (ANBA 2001, 1476), geregelt, dass Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann, wer in der Lage ist, die Agentur für Arbeit unverzüglich aufzusuchen (§ 1 Abs 1 Satz 1 Nr 2 EAO).

Um die berufliche Eingliederung des Klägers in den deutschen Arbeitsmarkt zu gewährleisten, ist nicht nur vorauszusetzen, dass er ohne (wesentliche) Zeitverzögerung auf Arbeitsplatzangebote unverzüglich reagieren und Vorstellungsgespräche wahrnehmen kann, sondern es ist von ihm auch zu fordern, dass er an Maßnahmen des Trägers der Arbeitslosenversicherung teilnimmt, um seine Integrationschancen in den (deutschen) Arbeitsmarkt zu erhöhen (vgl BT-Drs 13/4941 Seite 176; Urteil den Senats vom 15.12.2009 - L 10 AL 395/05 - Juris; Beschluss des Senates vom 22.12.2011 - L 10 AL 340/11 B ER). Hierfür bedarf es der Erreichbarkeit des Leistungsempfänger im Nahbereich einer deutschen Agentur für Arbeit (vgl hierzu BSG, Urteil vom 09.02.1994 - 11 RAr 1/93 - SozR 3-6050 Art 71 Nr 5, Urteil des Senats vom 28.08.2009 - L 10 AL 201/08 - Juris). Insoweit ist es auch unerheblich, dass der Kläger möglicherweise während seines letzten Beschäftigungsverhältnisses bei der L. AG nicht durch seinen Auslandswohnsitz in A-Stadt an der Ausübung seiner Tätigkeit gehindert gewesen ist. Die Vermittlungstätigkeit und möglichen Maßnahmen beschränken sich insoweit nicht auf den letzten Arbeitgeber.

Eine Definition des zeit- und ortsnahen Bereiches ergibt sich aus § 2 Satz 1 Nr 3 2.Satz EAO (vgl dazu eingehend Urteil des Senats vom 02.02.2012 - L 11 AS 853/09 - ZFSH/ SGB 2012, 335 - mwN). Demnach gehören zum Nahbereich alle Orte in der Umgebung einer Agentur für Arbeit, von denen aus der Leistungsberechtigte erforderlichenfalls in der Lage wäre, den Beklagten täglich ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen. In Anlehnung an die Vorschrift des § 140 Abs 4 SGB III idF des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 - BGBl I 2854 (§ 121 Abs 4 SGB III aF) kann der Nahbereich mit einer Entfernung von 75 Minuten für die einfache Strecke vom vorübergehenden Aufenthaltsort bis zur nächstgelegenen Agentur für Arbeit bestimmt werden (vgl Urteil des Senats vom 15.12.2009 - L 10 AL 395/05 - mwN; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.10.2013 - L 9 AL 77/12; BayLSG, Urteil vom 16.01.2013 - L 11 AS 583/10 - alle zitiert nach Juris; Brand in Brand, SGB III, 6. Aufl, § 138 Rn 84; Geiger, info also 2013, 147). Dabei ist auf die dem Kläger zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel sowie darauf abzustellen, ob aufgrund des Verkehrsflusses Hin- und Rückweg zusammen 2,5 Stunden nicht überschreiten (vgl Gutzler in: Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, 5. Aufl, § 138 Rn 183).

Unterstellt der Kläger könnte von seinem Arbeitgeber jederzeit kurzfristig - ggf. auch für den nächsten Tag - ein Flugticket erhalten, so würde jedenfalls alleine die Flugzeit von A-Stadt nach B-Stadt einfach eine Stunde und vierzig Minuten und von B-Stadt nach A-Stadt eine Stunde und dreißig Minuten (vgl http://flug.lufthansa.com/ fluege-B-Stadt-A-Stadt) betragen, hin und zurück mithin drei Stunden und zehn Minuten. Hinzu kommen die Fahrtzeiten vom Wohnsitz in A-Stadt zum Flughafen (im Idealfall: mindestens elf Minuten - vgl http://maps. google.de) und vom Flughafen in B-Stadt zur Beklagten (im Idealfall: mindestens sechzehn Minuten - vgl http://maps.google.de). Insgesamt würde die Hin- und Rückreise mehr als vier Stunden in Anspruch nehmen, ohne dass dabei der Zeitaufwand für Passkontrollen, Ein- und Auschecken schon berücksichtigt wäre. Unzweifelhaft hält sich der Kläger damit außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches auf. Der Sachverhalt unterscheidet sich auch von denen, die den Entscheidungen des BSG (Urteil vom 07.10.2009 - aaO) und des BVerfG (Beschluss vom 30.12.1999 - aaO) zugrunde gelegen haben. Dort lagen die Wohnorte der Arbeitslosen in den Niederlanden bzw. Belgien direkt an der deutschen Grenze. Die nächstgelegenen deutschen Agenturen für Arbeit waren regelmäßig in weniger als 75 Minuten zu erreichen gewesen.

Eine Ausnahme vom Erfordernis des Aufenthaltes im zeit- und ortsnahen Bereich nach § 3 Abs 1 bis 3 EAO kommt nicht in Betracht, denn der Kläger hat von vorneherein beabsichtigt, sich nicht nur vorübergehend sondern länger als sechs Wochen in A-Stadt und damit außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufzuhalten (§ 3 Abs 4 EAO)

Eine Verfügbarkeit ist damit nicht gegeben. Die Vorschriften des nationalen Rechts werden in Bezug auf den Alg-Anspruch nicht erfüllt.

Der Kläger wird durch das Nichtbestehen eines Anspruchs auf Alg auch nicht in seinem Grundrecht aus Art 3 GG verletzt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 30.12.1999 - aaO) kann eine durch § 30 Abs 1 SGB I bewirkte Ungleichbehandlung der Personen mit Auslandswohnsitz im Vergleich zu den Personen mit Inlandswohnsitz für die Gewährung von Alg sachlich gerechtfertigt sein. Es ist ein verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstandendes Ziel nationaler Sozialpolitik, sozial relevante Tatbestände im eigenen Staatsgebiet zu formen und zu regeln. Der Gesetzgeber kann den Wohn- und Aufenthaltsort als Kriterium wählen, nach dem sich neben anderen Voraussetzungen die Gewährung von Leistungen bestimmt (so bereits auch Urteil des Senats vom 15.12.2009 - L 10 AL 395/05 - juris).

Eine Ausnahme, wie sie das BVerfG (Beschluss vom 30.12.1999 - aaO) für Personen mit grenznahem Auslandswohnsitz, die im Inland beschäftigt und versichert sind (Grenzgänger) vorgenommen hat, liegt nicht vor. So ist zwar bei einem Grenzgänger verfassungsrechtlich eine Auslegung geboten, die den aus Art 3 Abs 1 GG abgeleiteten Anspruch auf eine seiner Beitragszahlung entsprechende Sozialleistung zur Geltung bringt. Sachliche Gründe der Ungleichbehandlung zwischen einem in Deutschland befindlichen Arbeitslosen und einem Grenzgänger sind insofern nicht zu sehen. Vielmehr ergibt sich bei beiden die Möglichkeit der Gewährung unter den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen des SGB III (Urteil des Senats vom 15.12.2009 - aaO). Wie aber oben bereits ausgeführt, scheitert der Anspruch auf Alg nicht am Wohnsitz des Klägers, sondern an seiner fehlenden Verfügbarkeit. Damit liegen die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen der §§ 117 ff SGB III nicht vor. Ein Anspruch auf Alg ab 20.08.2011 besteht nicht.

Die Berufung war damit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe

(1) Arbeitslos ist, wer Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist und

1.
nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit),
2.
sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen), und
3.
den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit).

(2) Eine ehrenamtliche Betätigung schließt Arbeitslosigkeit nicht aus, wenn dadurch die berufliche Eingliederung der oder des Arbeitslosen nicht beeinträchtigt wird.

(3) Die Ausübung einer Beschäftigung, selbständigen Tätigkeit, Tätigkeit als mithelfende Familienangehörige oder mithelfender Familienangehöriger (Erwerbstätigkeit) schließt die Beschäftigungslosigkeit nicht aus, wenn die Arbeits- oder Tätigkeitszeit (Arbeitszeit) weniger als 15 Stunden wöchentlich umfasst; gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer bleiben unberücksichtigt. Die Arbeitszeiten mehrerer Erwerbstätigkeiten werden zusammengerechnet.

(4) Im Rahmen der Eigenbemühungen hat die oder der Arbeitslose alle Möglichkeiten zur beruflichen Eingliederung zu nutzen. Hierzu gehören insbesondere

1.
die Wahrnehmung der Verpflichtungen aus der Eingliederungsvereinbarung,
2.
die Mitwirkung bei der Vermittlung durch Dritte und
3.
die Inanspruchnahme der Selbstinformationseinrichtungen der Agentur für Arbeit.

(5) Den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit steht zur Verfügung, wer

1.
eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie oder ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben kann und darf,
2.
Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann,
3.
bereit ist, jede Beschäftigung im Sinne der Nummer 1 anzunehmen und auszuüben, und
4.
bereit ist, an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.