Amtsgericht Kerpen Beschluss, 19. Mai 2015 - 150 F 297/15
Gericht
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass die elterliche Sorge für den verfahrensbetroffenen Jugendlichen I A N, mutmaßlich geboren am XX.XX.XXXX,ruht.
II. Für die Dauer des Ruhens der elterlichen Sorge werden
1. das zu Ziffer 2. verfahrensbeteiligte Jugendamt zum Amtsvormund mit Ausnahme des Wirkungskreises der asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten
und
2. Herr Rechtsanwalt N J in L-I1 berufsmäßig tätiger Mitvormund für den Wirkungskreis derasyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten
bestellt.
III. Termin zur persönlichen Anhörung der Verfahrensbeteiligten wird demnächst amtswegig bestimmt werden.
1
G r ü n d e
2Die getroffene Anordnung beruht auf Art. 3, 6, 11 f., 16 f. des Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ), §§ 1674 Abs.1, 1675, 1773, 1774 BGB.
3Nach Angaben des verfahrensbeteiligten Jugendamtes ist der verfahrensbetroffene Jugendliche nach eigenen, schlüssig erscheinenden und glaubhaft wirkenden Angaben noch minderjährig und ohne Begleitung seiner im Heimatland verbliebenen Eltern als Flüchtling in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Wie auch immer geartete Kontakte zu den Sorgeberechtigten sind weder dem Kind selbst noch den zuständigen Behörden möglich; wann mit einer Wiederherstellung der Kontaktmöglichkeiten oder gar einer Zusammenführung des Jugendlichen mit seinen Eltern gerechnet werden kann, erscheint gegenwärtig ungewiss.
4Damit aber stehen einer tatsächlichen Ausübung der elterlichen Sorge auf unabsehbare und damit voraussichtlich längere Dauer faktische Hindernisse entgegen, so dass das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen und für die Dauer des Ruhens die aus dem Tenor ersichtliche Regelung zu treffen ist.
5Dem betroffenen Jugendlichen ist neben dem Amtsvormund ein Mitvormund in Person eines Rechtsanwalts für die Betreuung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu bestellen (vgl. dazu und zu allem Nachfolgenden: Oberlandesgericht Frankfurt, Beschluss vom 28.01.2014 – 6 UF 289/13 = BeckRS 2014, 02549 mit weiteren Nachweisen).
6Gemäß § 1775 BGB können ausnahmsweise mehrere Vormünder für ein Mündel bestellt werden, sofern besondere Gründe hierfür vorliegen; die diesbezügliche Entscheidung ist vom Familiengericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (Staudinger-BGB/Veit, Neubearbeitung 2014, § 1775, Rdnr. 10):
7Angesichts der wachsenden Komplexität der ausländer- und asylrechtlichen Vorgaben kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon ausgegangen werden, dass die – ohnehin hochbelasteten – Amtsvormünder in der Lage sind, die etwa in Art. 25 Abs. 1 a derRichtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes geforderte fachkundige und fundierte Vertretung des Jugendlichen in der erforderlichen qualifizierten Weise sicherzustellen; dass sie über die insoweit erforderlichen Spezialkenntnisse verfügen und insoweit als „geeignet“ im Sinne § 1779 Abs.2 BGB zu qualifizieren sind, kann derzeit nicht angenommen werden.Der Amtsvormund wird ohne spezielle ausländer- und asylrechtliche Kenntnisse gar nicht beurteilen können, welche aufenthaltsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen sind, um den ausländerrechtlichen Status für den Minderjährigen zu klären und gegebenenfalls zu sichern um damit im Interesse des Mündels bestmöglich zu handeln. Dies folgt bereits aus den in Betracht kommenden, nicht selten komplexen Verfahrensstrukturen: An das sogenannte "Clearing-Verfahren", welches sich an die Inobhutnahme des unbegleiteten Minderjährigen anschließt und in dem die Umstände und Gründe der Einreise sowie das Maß der Jugendhilfe geklärt werden sollen, schließt sich die Frage an, ob ein Asylantrag gestellt werden muss oder aber welche sonstigen aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen zu treffen sind. Da Asylanträge oftmals ohne Erfolg bleiben werden, wird es in manchen Fällen ratsam sein, hiervon abzusehen, um dem Minderjährigen die belastende Situation eines möglicherweise erfolglosen Asylverfahrens zu ersparen (vgl. Working Paper 26 des Bundesamtes für Migration, Unbegleitete minderjährige Migranten in Deutschland, S. 37). Wird ein Asylantrag gestellt, ist zunächst die Dublin III-Verordnung maßgebend. Aber schon die im Vorfeld zu beantwortende Frage, nämlich ob ein Asylantrag Aussicht auf Erfolg hat, erfordert spezielle Rechtskenntnisse im Asylrecht (OLG Frankfurt DAVorm 2000, 485), auch um einen von vornherein erfolglosen Asylantrag zu vermeiden (vgl. hierzu die Tabellen 4 bis 8 aus dem Working Paper 26 des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration a.a.O., S. 41-49). Bei unbegleiteten Minderjährigen, die keinen Asylantrag stellen, ist zudem zu prüfen, ob ein Abschiebungsverbot die zu ihrem Schutz geeignete Maßnahme ist und ob gegebenenfalls ein isolierter Antrag nach § 60 AufenthG zu stellen ist.
8Der bislang fehlenden ausländer- und asylrechtlichen fachlichen Qualifikation des Amtsvormundes kann auch nicht dadurch begegnet werden, dass sich die Jugendämter – etwa über den Weg der Beratungshilfe – von Fall zu Fall externer Hilfe versichern:
9Dies folgt schon daraus, dass über die in Betracht kommende Beratungshilfe dieser umfassende Beratungsbedarf und Rechtsschutz faktisch nicht gewährleistet werden kann. Hinzu kommt, dass es bei dieser Sichtweise von der Person des jeweiligen Amtsvormundes abhinge, ob dieser den Beratungsbedarf erkennt und einen entsprechenden Antrag stellt bzw. im Einzelfall ein Gerichtsverfahren mit Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Anwalts initiiert (vergl. insoweit auch Oberlandesgericht Frankfurt, FamRZ 2013, 1160).
10Entscheidend aber ist das Nachfolgende:Gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (sogenannte Dublin-III-Verordnung müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Durchführung eines Asylverfahrens von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird. Dieser Vertreter muss über eine entsprechende Qualifikation und Fachkenntnisse verfügen, "um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird". Mit dieser Regelung ist klargestellt, dass der Vertreter des Minderjährigen selbst über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügen muss und nicht mehr nur ein Vertreter ohne diese Kenntnisse bestellt werden darf, von dessen Entscheidung es dann für den Jugendlichen im jeweiligen Einzelfall erst abhängen würde, ob er einen geeigneten Vertreter für bestimmte Rechtshandlungen oder Verfahren in einer für ihn existentiell wichtigen Situation im fremden Land bestellt bekommt oder nicht. Nach dem Geist und der Intention der Dublin III-Verordnung kann es aber gerade nicht von der Einschätzung eines nach eigenem Bekunden in ausländerrechtlichen Fragen nicht ausreichend fachkundigen Vormunds abhängen, ob er im Einzelfall eine rechtliche Beratung oder Vertretung seines Mündels überhaupt für erforderlich hält und gegebenenfalls mit einer - nach der bis zur Amtsübernahme sowieso schon eintretenden Verzögerung - noch weiter einhergehenden zeitlichen Verzögerung dafür sorgt.
11Die vorbenannte Regelung ist ab dem 01.01.2014 in der Bundesrepublik Deutschland bereits als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden. Denn bei Verordnungen der Europäischen Union handelt es sich um Rechtsakte, die unmittelbare Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten entfalten, d.h. - anders als die Richtlinien - nicht noch durch Erlass nationaler Gesetze einer Umsetzung bedürfen.
12Rechtsmittelbelehrung
13Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsbehelf nicht gegeben. Auf Antrag ist eine mündliche Verhandlung durchzuführen und aufgrund dieser erneut zu entscheiden. Außerdem hat jeder Beteiligte das Recht, die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens zu beantragen.
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Solange die elterliche Sorge ruht, ist ein Elternteil nicht berechtigt, sie auszuüben.
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)