Urteils-Besprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 13. März 2025 - 2 StR 232/24 von ra.de Redaktion

published on 01.12.2025 11:47
Urteils-Besprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 13. März 2025 - 2 StR 232/24 von ra.de Redaktion
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Bundesgerichtshof Beschluss, 13. März 2025 - 2 StR 232/24

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„Finger drauf!“ – Der BGH billigt das zwangsweise Entsperren von Smartphones per Fingerabdruck

1. Worum es geht und für wen das wichtig ist

Smartphones sind heute das verdichtete „Logbuch“ der persönlichen und beruflichen Sphäre. Wer Zugang erhält, kann Kommunikations-, Bewegungs- und Verhaltensspuren über Jahre auswerten – mit enormer Beweisrelevanz, aber ebenso hoher Eingriffsintensität in Grundrechte. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 13. März 2025 entscheidet eine seit Jahren umstrittene Frage: Dürfen Ermittlerinnen und Ermittler den Finger einer beschuldigten Person zwangsweise auf den Sensor legen, um ein biometrisch gesichertes Handy zu entsperren – und die Daten anschließend durchsuchen und beschlagnahmen? Der 2. Strafsenat bejaht dies unter engen Voraussetzungen und stellt die Maßnahme auf § 81b Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 94 ff., 102 ff., 110 StPO. Für Strafverteidiger:innen, Staatsanwaltschaften, Polizei, Ermittlungsrichter:innen und Compliance‑Verantwortliche ist das wegweisend: Der Zugriff auf digitale Beweismittel wird rechtssicherer, aber auch rechtspolitisch kontroverser.


2. Sachverhalt und Verfahrensgang – der Fall hinter der Grundsatzfrage

Ausgangspunkt war eine Verurteilung wegen kinderpornographischer Delikte. Bei Durchsuchungen (richterlich angeordnet) fand die Polizei u.a. zwei Smartphones. Der Beschuldigte weigerte sich zu entsperren; daraufhin ordnete die Polizei unmittelbaren Zwang an und legte seinen Finger auf die Sensoren. Die Auswertung ergab belastendes Material. In der Revision rügte die Verteidigung ein Beweisverwertungsverbot: Es fehle an einer tauglichen Rechtsgrundlage für das erzwungene Entsperren; zudem seien Selbstbelastungsfreiheit und Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Der BGH wies die Revision im Wesentlichen zurück (Teilerfolg aus anderen Gründen) und bejahte die Verwertbarkeit. 


3. Die Kernaussagen des BGH

3.1 Ermächtigungsgrundlage und Dogmatik

Der Senat sieht das zwangsweise Fingerauflegen als von § 81b Abs. 1 StPO („zur Durchführung des Strafverfahrens“) gedeckt und betont den technologieoffenen Charakter der Norm. Entscheidend sei eine richterlich angeordnete Durchsuchung, die auch auf das Auffinden von Mobiltelefonen zielt, sowie eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die anschließende Auswertung stützt der BGH – getrennt vom Entsperrvorgang – auf §§ 94 ff., 110 StPO.

3.2 Verhältnismäßigkeit, Richtervorbehalt und Dokumentation

Die Maßnahme ist nur bei hinreichendem Tatverdacht, gewichtiger Deliktlage und konkret zu erwartender Beweisrelevanz zulässig; die Durchsuchung bedarf eines richterlichen Beschlusses, der „auch dem Auffinden von Mobiltelefonen dient“. Die Intensität des Eingriffs erfordert eine sorgsame Abwägung und eine lückenlose Dokumentation. 

3.3 „Nemo tenetur“ – Dulden statt aktiver Mitwirkung

Die Selbstbelastungsfreiheit ist nach Auffassung des Senats nicht verletzt: Das bloße Dulden einer körperlichen Maßnahme (Auflegen des Fingers) unterscheidet sich qualitativ von einer kognitiven Mitwirkung (PIN‑Preisgabe). Es geht nicht um Aussageerzwingung, sondern um den Zugriff auf ein körperlich vermitteltes „Schlüsselmerkmal“.

3.4 Unionsrechtliche Einordnung

Die Maßnahme sei mit der Richtlinie (EU) 2016/680 und der Grundrechtecharta vereinbar; sie verfolge ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel der Strafverfolgung. Allerdings verlangt die unionsrechtliche Rechtsprechung bei Smartphone‑Auslesungen wegen der Eingriffsintensität eine hinreichend klare, präzise gesetzliche Grundlage – ein Maßstab, den der BGH hier als erfüllt ansieht. 

3.5 Kein zwingendes Verwertungsverbot bei etwaigen Defiziten

Selbst wenn man Zweifel an § 81b Abs. 1 StPO als Entsperrungsgrundlage hätte, bliebe die Durchsicht/Beschlagnahme über §§ 110, 94 StPO rechtlich abstützbar; ein Verwertungsverbot drängt sich nicht ohne Weiteres auf. Das knüpft an die deutsche Linie an, wonach Beweisverwertungsverbote die Ausnahme bleiben.


4. Systematische Einordnung und Streitstände

4.1 § 81b Abs. 1 StPO als technikoffene Generalklausel?

Historisch diente § 81b StPO erkennungsdienstlichen Maßnahmen (Fingerabdrücke, Fotos, Messungen). Der Senat liest die „erste Alternative“ („zur Durchführung des Strafverfahrens“) weit: Sie solle einen an neue Technik anschlussfähigen Handlungsspielraum eröffnen. Kritisch wird eingewandt, das zwangsweise Entsperren eröffne nicht nur Identifizierungsmöglichkeiten, sondern den Weg zu einer Totalaufnahme des digitalen Lebens – qualitativ weit entfernt von klassischer ED‑Behandlung. Wer das so sieht, fordert eine speziellere, normenklare und eingriffsspezifische Ermächtigung.

4.2 Trennung von Entsperren und Auswertung

Dogmatisch sauber ist die Differenzierung: Entsperren (körperliche Maßnahme) ≠ Durchsicht/Auswertung (Datenzugriff). Der BGH stützt die zweite Stufe auf §§ 94 ff., 110 StPO und betont, dass gerade dort die verfassungs‑ und unionsrechtliche Eingriffsprüfung „stattfindet“. Dem lässt sich entgegenhalten: Wenn erst die Auswertung die eigentliche Grundrechtsintensität erzeugt, spricht viel dafür, schon die Türöffnung (Entsperren) nur auf eine spezifische, eingriffsadäquate Norm zu stützen – nicht auf eine weite Auslegung von § 81b. Diese Spannung prägt den Streit. 

4.3 Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur“) – die biometrische Linie

Die Unterscheidung „Wissen vs. Körper“ ist vertraut: Wissenserzwingung (PIN, Passwort) ist tabu; körperliche Mitwirkung (Fingerabdruck, Blutprobe) grundsätzlich zulässig. Der BGH bleibt auf dieser Linie. Kritikerinnen und Kritiker wenden ein, dass beides funktional denselben Datenraum öffnet; die Privilegierung der biometrischen „Schlüsselhilfe“ könnte die Schutzintention der Selbstbelastungsfreiheit unterminieren. Der Senat hält an der klassischen Dogmatik fest.

4.4 Verhältnismäßigkeit als „Hauptventil“

Die Entscheidung verschiebt viel auf die praktische Angemessenheitskontrolle: Schwere des Vorwurfs, Beweisbedeutung, Beschränkung des Auswertungsumfangs, Beachtung von Selektions‑ und Dokumentationspflichten. Das macht die Maßnahme steuerbar – setzt in der Praxis aber hohe Anforderungen an Anordnung, Durchführung und Protokollierung. 

4.5 Unions‑ und verfassungsrechtlicher Druck zu Normklarheit

EuGH und BVerfG verlangen für tiefgreifende IT‑Eingriffe eine hinreichend bestimmte, klare Rechtsgrundlage. Der EuGH hat 2024 betont, dass das Auslesen von Mobiltelefonen strengen Normklarheits‑ und Verhältnismäßigkeitsanforderungen unterliegt; das BVerfG hat das „IT‑Grundrecht“ seit 2008 als besonders schutzintensiv profiliert und 2020 erneut hohe Bestimmtheitsmaßstäbe an Überwachungsregime angelegt. Hier liegt die Achillesferse der BGH‑Lösung: Reicht die „technikoffene“ Weite des § 81b Abs. 1 StPO (plus die spezifischen Regeln der §§ 94 ff., 110 StPO) den europarechtlichen Vorgaben – oder braucht es eine eindeutige, auf digitale Beweismittel zugeschnittene gesetzliche Grundlage? 


5. Einordnung in die Rechtsprechung – Anschluss an OLG Bremen

Der Beschluss fügt sich in eine jüngst erkennbare Linie, die zwangsweises Fingerauflegen als zulässig ansieht. Bereits das Hanseatische OLG Bremen hatte Anfang 2025 (Beschluss vom 08.01.2025 - 1 ORs 26/24) die Maßnahme gebilligt und dabei ebenfalls § 81b Abs. 1 StPO herangezogen. Der BGH bestätigt und konsolidiert damit die obergerichtliche Tendenz.


6. Praxisfolgen – was Gerichte, Ermittlungsbehörden und Verteidigung jetzt beachten sollten

6.1 Für Ermittlungsrichter:innen und Staatsanwaltschaften

Die Durchsuchungsanordnung sollte ausdrücklich den Auffindezweck „Mobiltelefone“ benennen und die Beweisrelevanz der zu erwartenden Daten konkretisieren. Eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitsbegründung ist zentral (Tatgewicht, Beweisnähe, Subsidiarität, ggf. Beschränkung des Auswertungsumfangs). Die Dokumentation des Entsperrvorgangs und der anschließenden Durchsicht muss nachvollziehbar sein. 

6.2 Für Polizeipraxis und IT‑Forensik

„So viel wie nötig, so wenig wie möglich“: Die Auswertung ist am konkreten Ermittlungszweck auszurichten; Durchsicht (§ 110 StPO) undBeschlagnahme (§ 94 StPO) sind zu trennen, Suchbegriffe und Filter zu protokollieren, „Zufallsfunde“ eigenständig zu prüfen.

6.3 Für die Verteidigung

Erfolgversprechend bleibt die Kontrolle der Voraussetzungen: Liegt eine tragfähige richterliche Anordnung vor? Wurde die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall tatsächlich geprüft? Ist die Dokumentation des Eingriffs plausibel? Bei Defiziten kommt – auch nach dieser Entscheidung – ein Verwertungswiderspruch in Betracht, namentlich wenn die Maßnahme als unverhältnismäßig oder als von § 81b StPO nicht gedeckt erscheint; unionsrechtliche Einwände zielen auf Normklarheit und Zweckbindung. 


7. Bewertung

Der 2. Strafsenat gibt der Praxis eine handhabbare, an den bestehenden Normen orientierte Lösung: Entsperren über § 81b Abs. 1 StPO (technikoffen, körperliche Duldung),Auswertung über §§ 94 ff./110 StPO – und alles unter dem Primat der Verhältnismäßigkeit und eines richterlichen Beschlusses. Damit schafft der Beschluss Rechtsklarheit und verhindert, dass hochrelevante digitale Beweise allein wegen Unklarheiten der Eingriffsgrundlage verloren gehen. 

Dogmatisch bleibt die Entscheidung angreifbar: Wer das IT‑Grundrecht ernst nimmt, wird fragen, ob eine so weit verstandene Generalklausel wie § 81b Abs. 1 StPO (Alt. 1) der unions‑ und verfassungsrechtlich geforderten Eingriffsspezifität genügt. Gerade weil das Entsperren der Türöffner zu umfassenden Dateneinblicken ist, spricht viel für eine klare, digitale Spezialnorm (mit Zweckbindung, Richtervorbehalt, Schutzkonzepten und Transparenzpflichten). Der BGH deutet die bestehende Systematik maximal belastbar aus – ein legitimer, aber letztlich interimistischer Weg, der den Gesetzgeber nicht entbindet, ein kohärentes digitales Beweismittelrecht zu schaffen. 


8. Ausblick – Gesetzgeber am Zug

Die Entscheidung wird Ermittlungen in schweren Verfahren spürbar erleichtern und die Obergerichtsrechtsprechung harmonisieren. Gleichzeitig wächst der Druck, Normklarheit und Schutzkonzepte für digitale Beweise in der StPO nachzurüsten (u.a. abgestufte Prüf‑ und Filterpflichten, Protokollierungs‑ und Benachrichtigungsregeln, richterliche Kontrollstandards, ggf. Einsatz technischer „Audit‑Trails“). Bis dahin gilt: Wer sauber anordnet, streng abwägt und transparent dokumentiert, steht auf der sicheren Seite – und wer verteidigt, sollte genau dort ansetzen. 


9. Entscheidendes in Kürze

  • Zulässig: Zwangsweises Fingerauflegen zum Entsperren, wenn richterlich angeordnete Durchsuchung auch auf Mobiltelefone gerichtet ist und die Maßnahme verhältnismäßig bleibt; Auswertung über §§ 94 ff., 110 StPO.

  • Nicht verletzt: Selbstbelastungsfreiheit, weil nur Duldung einer körperlichen Maßnahme, keine erzwungene Wissensoffenbarung (PIN).

  • Europarecht: Maßstab der Normklarheit bei intensiven Smartphone‑Zugriffen bestätigt; der BGH hält ihn für gewahrt – der Diskurs bleibt offen. 


Fazit: Der BGH liefert eine praxistaugliche Antwort auf die Herausforderung moderner Beweissicherung – in der Sache überzeugend, in der Dogmatik streitbar. Bis zu einer spezialgesetzlichen Lösung werden richterliche Kontrolle, Verhältnismäßigkeit und Dokumentation die entscheidenden Stellschrauben bleiben.

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