Gericht

Verwaltungsgericht München

Tenor

I.

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Regierung von ... vom 16. Oktober 2014 wird angeordnet.

II.

Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist Asylbewerber. Er wurde von der Regierung von ... - Regierungsaufnahmestelle München - mit streitgegenständlichem Bescheid vom 16. Oktober 2014 ab dem 17. Oktober 2014 dem Landkreis ... zur dortigen Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber zugewiesen. Die Zuweisung der konkreten Gemeinschaftsunterkunft war dem Landratsamt M. als zuständiger Unterbringungsbehörde vorbehalten.

Der Antragsteller stellte am 20. Oktober 2014 beim Verwaltungsgericht München einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit dem Ziel,

die aufschiebende Wirkung der zugleich erhobenen Klage gegen die Zuweisungsentscheidung vom 16. Oktober 2014 anzuordnen.

Über die Klage gegen den Bescheid vom 16. Oktober 2014 (Az. M 24 K 14.4797) ist noch nicht entscheiden.

Zur Begründung des Klage- und Eilantrags wird auf die weitere, am 9. September 2014 (Az. M 18 K 14.4066) beim Verwaltungsgericht München eingereichte Klage gegen die „Festlegung des Alters“ des Antragstellers hingewiesen und hinsichtlich der Zuweisungsentscheidung ausgeführt, dass sie unzulässig sei, denn hierdurch würden vor der Entscheidung über die Richtigkeit der Altersfestsetzung vollendete Tatsachen geschaffen. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Regensburg - RN 7 S 14.30411- vom 25. Juni 2014 wird für diese Rechtsauffassung herangezogen.

Mithin behauptet der Antragsteller sinngemäß, er sei minderjährig, geb. am ... 1999 (entgegen der Auffassung der für die Inobhutnahme unbegleiteter Minderjähriger zuständigen Jugendhilfebehörde, die seine Inobhutnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung ablehnte und in diesem Zusammenhang von einem fiktiv angesetzten Volljährigkeitsdatum des Antragstellers am 31.12.1995 ausgeht). Allein die vom Antragsteller behauptete Minderjährigkeit stehe einer Zuweisungsentscheidung in Form einer Umverteilungsentscheidung durch die hierfür zuständige Regierungsaufnahmestelle der Regierung von ... entgegen.

Der Antragsgegner äußerte via email mit Anhang-Vorlage, es sei eine fachliche Alterseinschätzung durch den Fachbereich Jugend und Familie des Landratsamts M. am ... November 2014 erfolgt mit dem Ergebnis „Alter durch Dokumente belegt“ und „Altersangabe unglaubwürdig, Annahme von Volljährigkeit“. Weiter wird als Ergänzung der Alterseinschätzung ausgeführt, eine Kopie der Geburtsurkunde liege dem Fachbereich Jugend und Familie vor, die Echtheit sei hingegen durch den Fachbereich Jugend und Familie nicht überprüfbar. Der Antragsgegner selbst teilte mit, dass er sich um eine Echtheitsprüfung der vorgelegten Beweisdokumente durch die entsprechende Fachstelle der Polizei bemühe. Eine weitere Äußerung erfolgte nicht. Eine weitere Behördenaktenvorlage erfolgte - trotz gerichtlicher Anforderung der sofortigen Vorlage- nicht.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.

II.

Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylVfG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin. Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich.

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet. Die Erfolgsaussichten der Klage sind zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt offen und die Belange des Antragstellers überwiegen bei der vom Gericht zu treffenden Interessensabwägung.

1. Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Bescheides ist § 50 AsylVfG i. V. m. Art. 1, 6 Aufnahmegesetz (AufnG) i.V. §§ 1, 7 Abs. 1-Abs. 5 Asyldurchführungsverordnung (DVAsyl).

1.1. Die landesinterne Verteilung, soweit sie in § 50 AsylVfG normiert ist, enthält keine Differenzierung dahingehend, ob es sich bei dem innerhalb des Landes zu verteilenden Asylbewerber um eine volljährige oder minderjährige Person handelt oder dieser Umstand streitig und (noch) ungeklärt ist.

Erst auf der landesrechtlichen Regelungsebene erfährt Minderjährigenschutz in Art. 7, 8 AufnG in Bezug auf durch ihre Eltern begleitete minderjährige ledige Asylbewerber eine konkrete Umsetzung über § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylVfG i. V. m. § 7 Abs. 5 Satz 1 DVAsyl bei der landesinternen Verteilung und über § 51 Abs. 1 AsylVfG bei der länderübergreifenden Verteilung über die Berücksichtigung der Wahrung der Haushaltsgemeinschaft von Eltern und ihren minderjährigen ledigen Kindern.

Bei unbegleitet eingereisten minderjährigen Asylbewerbern ist - gegenüber der asylrechtlichen Verteilung vorrangig - deren Inobhutnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung vorgesehen (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII).

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 23. September - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 15ff. zu einem Parallelfall Ausführungen zum gesetzlichen Vorrang der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gegenüber der Unterbringung in asylrechtlichen Aufnahmeeinrichtungen (§§ 44, 53 AsylVfG) gemacht. Der Asylbewerber, der vorträgt, noch Minderjähriger zu sein und bei dem das Vorliegen der Minderjährigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, unterliegt nicht der Wohnpflicht nach dem Asylverfahrensgesetz und dem gemäß §§ 45 f. AsylVfG vorgesehenen Verteilungsverfahren. Eine gleichwohl erfolgte, ihm gegenüber ergangene Weiterleitungs- bzw. Verteilungsanordnung ist rechtswidrig.

1.2. Die streitgegenständliche Zuweisungsentscheidung ist zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnislage als rechtswidrig deshalb anzusehen, weil eine Verteilung bzw. Zuweisung in eine Unterkunft, die keine Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung ist, für unbegleitete, heranwachsender junger Menschen, die möglicherweise noch minderjährig sind, auch für einen kurzzeitigen Zeitraum bis zur Klärung, ob noch Minderjährigkeit oder bereits Volljährigkeit vorliegt, durch den Antragsgegner gänzlich und ungeachtet der physischen und psychischen Konstitution der einzelnen Person nicht in Betracht kommt. So liegt es hier.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist unklar, ob sich eindeutig die Volljährigkeit des Antragstellers erweist.

Die Alterseinschätzung durch das Landratsamt M. Fachbereich Jugend und Familie vom ... November 2014 allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen keine ausreichende Grundlage dar. Das gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 21). Sollte die Echtheitsüberprüfung der vorgelegten Kopie der Geburtsurkunde mit dem angegebenen Geburtsdatum vom ... 1999 deren unecht erweisen, ergibt sich hieraus keine belastbare Grundlage dafür, dass der Antragsteller entgegen seinem Bekunden bereits volljährig ist.

Eine zuverlässige Altersdiagnostik setzt vielmehr voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden. Dabei ist außerhalb von Strafverfahren zu berücksichtigen, dass keine juristische Legitimation für die Durchführung von Röntgenuntersuchungen vorliegt und insofern nur ein eingeschränktes Methodenspektrum zur Verfügung steht. Allgemein wird deshalb eine körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße, der sexuellen Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen sowie eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus empfohlen (BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 21 mit weiterführender Rspr.).

Es obliegt zuvorderst den beteiligten Behörden bei deren ernsthaften Zweifeln an der vom Antragsteller vorgetragenen Minderjährigkeit eine verlässliche Klärung des Alters des Antragstellers herbeizuführen. Bis zum sicheren Ausschluss der Minderjährigkeit hat das Jugendamt im Zweifel eine Inobhutnahme anzuordnen nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII (BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 23).

Hiervon ausgehend ist zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung offen, ob der Bescheid der Regierung von ..., Regierungsaufnahmestelle M. vom 16. Oktober 2014 rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Die Erfolgsaussichten der Klage sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen.

Bei der vom Gericht bei dieser Sachlage zu treffenden Interessensabwägung ist zugunsten des Antragstellers die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Hierbei ist einerseits die Garantie des effektiven Rechtsschutzes wie auch das persönliche Interesse des Antragstellers des durch § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII vermittelten Rechtsanspruchs auf Inobhutnahme und Unterbringung in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlustig zu gehen, zu beachten. Gleichzeitig bliebe der Antragsteller ansonsten weiterhin den möglichen Gefahren einer unbegleiteten Unterbringung in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene ausgesetzt, denen der Gesetzgeber mit dem Erlass der in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII getroffenen Regelung gerade begegnen wollte (BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 25f.).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylVfG).

Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).

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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 80


(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) - SGB 8 | § 42 Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen


(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhut

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Verwaltungsgericht München Gerichtsbescheid, 17. Apr. 2015 - M 24 K 14.4797

bei uns veröffentlicht am 17.04.2015

Gründe Bayerisches Verwaltungsgericht München M 24 K 14.4797 Im Namen des Volkes Gerichtsbescheid vom 17. April 2015 24. Kammer Sachgebiets-Nr. 600 Hauptpunkte: Landesinterne Verteilung; unbegleitete

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(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

Gründe

Bayerisches Verwaltungsgericht München

M 24 K 14.4797

Im Namen des Volkes

Gerichtsbescheid

vom 17. April 2015

24. Kammer

Sachgebiets-Nr. 600

Hauptpunkte: Landesinterne Verteilung; unbegleiteter, heranwachsender Asylbewerber, der möglicherweise noch minderjährig ist; Minderjährigenschutz; Vorrang der Inobhutnahme;

Rechtsquellen:

In der Verwaltungsstreitsache

... - Kläger -

gegen

Freistaat Bayern

vertreten durch: Regierung von Oberbayern - Aufnahmeeinrichung für Asylbewerber München -

- Beklagter -

wegen Verteilung eines Asylbewerbers

erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 24. Kammer, durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichterin am 17. April 2015 folgenden

Gerichtsbescheid:

I.

Der Bescheid der Regierung von Oberbayern vom ... Oktober 2014 (Weiterleitungsverfügung, Zuweisungsentscheidung) wird aufgehoben.

II.

Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Der Kläger ist Asylbewerber. Er wurde von der Regierung von Oberbayern - Regierungsaufnahmestelle München - mit streitgegenständlichem Bescheid vom ... Oktober 2014 ab dem 17. Oktober 2014 dem Landkreis Miesbach zur dortigen Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber zugewiesen. Die Zuweisung der konkreten Gemeinschaftsunterkunft war dem Landratsamt Miesbach als zuständiger Unterbringungsbehörde vorbehalten.

Der Kläger hat am 21. Oktober 2014 (Eingang) beim Verwaltungsgericht München gegen seine Weiterleitung durch die Regierung von Oberbayern Klage erhoben mit dem Antrag (sinngemäß),

die Zuweisungsentscheidung vom ... Oktober 2014 aufzuheben.

Zur Begründung des Klageantrags wird auf die weitere, am 9. September 2014 (Az. M 18 K 14.4066) beim Verwaltungsgericht München eingereichte Klage gegen die „Festlegung des Alters“ des Klägers hingewiesen und hinsichtlich der Zuweisungsentscheidung ausgeführt, dass sie unzulässig sei, denn hierdurch würden vor der Entscheidung über die Richtigkeit der Altersfestsetzung vollendete Tatsachen geschaffen.

Mithin behauptet der Kläger sinngemäß, er sei minderjährig, geb. am ... 1999. Allein die vom Kläger behauptete Minderjährigkeit stehe einer asylverfahrensrechtlichen Zuweisungsentscheidung in Form einer Umverteilungsentscheidung durch die hierfür zuständige Regierungsaufnahmestelle der Regierung von Oberbayern entgegen. Im weiteren Verlauf des vorliegenden gerichtlichen Verfahrens legte der Kläger vermittelnd mit Begleitschreiben einer hierzu vom Kläger Bevollmächtigten, Frau F. M., vom 25. März 2015 darüber hinaus Unterlagen in Kopie vor, u. a. ein Certificate of Birth der National Population Commission der Federal Republic of Nigeria, ausgestellt am 3. Februar 2001, mit ausgewiesenem Geburtsdatum ... 1999, Angabe der Eltern, Geburtsort etc. sowie einer beeideten Erklärung der Mutter der Klägerin, abgegeben am 5. Januar 2015 vor dem Berufungsgericht der „Owerri Judical Division Holden At Owerri“, u. a., dass der Kläger am ... ... 1999 geboren wurde.

Die Regierung von Oberbayern äußerte via email mit Anhang-Vorlage, es sei eine fachliche Alterseinschätzung durch den Fachbereich Jugend und Familie des Landratsamts Miesbach am 21. November 2014 erfolgt mit dem Ergebnis „Alter durch Dokumente belegt“ - betreffend ein nicht konkret bezeichnetes, dort vorgelegtes Ausweisdokument- und „Altersangabe unglaubwürdig, Annahme von Volljährigkeit“. Weiter wird als Ergänzung der Alterseinschätzung ausgeführt, eine Kopie der Geburtsurkunde liege dem Fachbereich Jugend und Familie vor, die Echtheit sei hingegen durch den Fachbereich Jugend und Familie nicht überprüfbar. Die Regierung von Oberbayern teilte zu diesem beim Landratsamt Miesbach vorgelegten Dokument mit, dass er sich um eine Echtheitsprüfung der vorgelegten Beweisdokumente durch die entsprechende Fachstelle der Polizei bemühe. Eine weitere Äußerung hierzu erfolgte nicht. Die Regierung von Oberbayern teilte mit, dass der Zuweisungsbescheid vom ... Oktober 2014 von ihr als „gegenstandslos betrachtet“ werde und er nicht mehr vollzogen werde. Eine Aufhebung des Bescheides vom ... Oktober 2014 erfolge nicht.

Mit Beschluss vom 16. Februar 2015 wurde die Entscheidung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter übertragen.

Mit gerichtlichen Schreiben vom 23. Februar 2015, der Regierung am 24. Februar 2015 und dem Kläger am 19. März 2015 zugegangen, hat das Gericht u. a. die Parteien zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die vom Gericht eingeholte Behördenakte des Landratsamts Miesbach verwiesen. Eine weitere Behördenaktenvorlage der Akten der Regierung von Oberbayern erfolgte - trotz gerichtlicher Anforderung - nicht.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid der Regierung von Oberbayern vom ... Oktober 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

1. Das Gericht kann gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden. Die Parteien wurden entsprechend angehört.

Das Verwaltungsgericht (VG) München ist entscheidungsbefugt, insbesondere örtlich zuständig nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO, weil der Kl. im maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung (vgl. § 83 VwGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG) seinen Aufenthalt im Gerichtsbezirk zu nehmen hatte.

Der Einzelrichter ist gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG zur Entscheidung berufen, nachdem die innerhalb des VG München zuständige Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16. Februar 2015 auf den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen hat.

Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG ist für den gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehenden Gerichtsbescheid die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird.

2. Die Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig, insbesondere auch innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 74 Abs. 2 AsylVfG erhoben worden, so dass es unerheblich ist, dass der dem Gericht vorliegenden Kopie des Bescheides (nur Vorderseite) nicht zu entnehmen ist, ob er mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen ist.

Der Rechtsstreit hat sich auch nicht erledigt. Der von der Regierung von Oberbayern mitgeteilte Umstand, der Bescheid werde „als gegenstandslos betrachtet“ und nicht mehr vollzogen, stellt kein das vorliegende Verfahren erledigende Ereignis dar. Die erklärte Abstandnahme von der zwangsweisen Durchsetzung des Bescheides lässt die Wirksamkeit des streitgegenständlichen Bescheides unberührt. Der weiteren Erklärung des Beklagten, den Bescheid als gegenstandslos zu betrachten, ist keinerlei rechtsverbindliche Qualität zu entnehmen, mithin auch nicht die Erklärung der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides.

Die Anfechtungsklage ist auch vollumfänglich begründet.

2.1. Rechtsgrundlage des streitgegenständlichen Bescheides ist § 50 AsylVfG i. V. m. Art. 1, 6 Aufnahmegesetz (AufnG) i. V. §§ 1, 7 Abs. 1-Abs. 5 Asyldurchführungsverordnung (DVAsyl). Deren Anwendungsbereich ist vorliegend nicht eröffnet.

2.1.1. Die landesinterne Verteilung, soweit sie in § 50 AsylVfG normiert ist, enthält keine Differenzierung dahingehend, ob es sich bei dem innerhalb des Landes zu verteilenden Asylbewerber um eine volljährige oder minderjährige Person handelt oder dieser Umstand streitig und (noch) ungeklärt ist.

Erst auf der landesrechtlichen Regelungsebene erfährt Minderjährigenschutz in Art. 7, 8 AufnG in Bezug auf durch ihre Eltern begleitete minderjährige ledige Asylbewerber eine konkrete Umsetzung über § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylVfG i. V. m. § 7 Abs. 5 Satz 1 DVAsyl bei der landesinternen Verteilung und über § 51 Abs. 1 AsylVfG bei der länderübergreifenden Verteilung über die Berücksichtigung der Wahrung der Haushaltsgemeinschaft von Eltern und ihren minderjährigen ledigen Kindern.

Bei unbegleitet eingereisten minderjährigen Asylbewerbern ist - gegenüber der asylrechtlichen Verteilung vorrangig - deren Inobhutnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung vorgesehen (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII).

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 23. September - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 15ff. zu einem Parallelfall Ausführungen zum gesetzlichen Vorrang der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gegenüber der Unterbringung in asylrechtlichen Aufnahmeeinrichtungen (§§ 44, 53 AsylVfG) gemacht. Der Asylbewerber, der vorträgt, noch Minderjähriger zu sein und bei dem das Vorliegen der Minderjährigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, unterliegt nicht der Wohnpflicht nach dem Asylverfahrensgesetz und dem gemäß §§ 45 f. AsylVfG vorgesehenen Verteilungsverfahren. Eine gleichwohl erfolgte, ihm gegenüber ergangene Weiterleitungs- bzw. Verteilungsanordnung ist rechtswidrig.

2.1.2. Die streitgegenständliche Zuweisungsentscheidung ist zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnislage als rechtswidrig deshalb anzusehen, weil eine asylverfahrensrechtliche Verteilung bzw. Zuweisung durch den Beklagten in eine Unterkunft, die keine Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung ist, für unbegleitete, heranwachsender junger Menschen, die möglicherweise noch minderjährig sind, auch für einen kurzzeitigen Zeitraum bis zur Klärung, ob noch Minderjährigkeit oder bereits Volljährigkeit vorliegt, gänzlich und ungeachtet der physischen und psychischen Konstitution der einzelnen Person nicht in Betracht kommt. So liegt es hier.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht erwiesen, dass der Kläger volljährig ist. Dies geht zulasten der Beklagten.

Die Alterseinschätzung durch das Landratsamt Miesbach Fachbereich Jugend und Familie vom 21. November 2014 allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen keine ausreichende Grundlage dar. Das gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 21). Sollte die Echtheitsüberprüfung der vorgelegten Kopie der Geburtsurkunde mit dem angegebenen Geburtsdatum vom ... 1999 unter Berücksichtigung der von der Mutter des Klägers beeideten Erklärung, dass in der Geburtsurkunde das Geburtsdatum falsch ausgewiesen ist, die Geburtsurkunde als unecht erweisen, ergibt sich hieraus keine belastbare Grundlage dafür, dass der Kläger entgegen seinem Bekunden bereits volljährig ist.

Eine zuverlässige Altersdiagnostik setzt vielmehr voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden. Dabei ist außerhalb von Strafverfahren zu berücksichtigen, dass keine juristische Legitimation für die Durchführung von Röntgenuntersuchungen vorliegt und insofern nur ein eingeschränktes Methodenspektrum zur Verfügung steht. Allgemein wird deshalb eine körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße, der sexuellen Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen sowie eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus empfohlen (BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 21 mit weiterführender Rspr.).

Es obliegt zuvorderst den beteiligten Behörden bei deren ernsthaften Zweifeln an der vom Kläger vorgetragenen Minderjährigkeit eine verlässliche Klärung des Alters des Klägers herbeizuführen. Bis zum sicheren Ausschluss der Minderjährigkeit hat das Jugendamt im Zweifel eine Inobhutnahme anzuordnen nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII (BayVGH, B. v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833 - juris Rn. 23).

Hiervon ausgehend ist der Bescheid der Regierung von Oberbayern, Regierungsaufnahmestelle München, vom ... Oktober 2014 rechtswidrig.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylVfG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf §§ 167 VwGO, 708ff. ZPO.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich beantragen.

Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.

Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.

Anstelle des Antrags auf Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht München

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten mündliche Verhandlung beantragen.

Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn

1.
das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
2.
eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
a)
die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder
b)
eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder
3.
ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.
Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nummer 2 auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen.

(2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme aufzuklären, die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen. Dem Kind oder dem Jugendlichen ist unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen; § 39 Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend. Das Jugendamt ist während der Inobhutnahme berechtigt, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind; der mutmaßliche Wille der Personensorge- oder der Erziehungsberechtigten ist dabei angemessen zu berücksichtigen. Im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3 gehört zu den Rechtshandlungen nach Satz 4, zu denen das Jugendamt verpflichtet ist, insbesondere die unverzügliche Stellung eines Asylantrags für das Kind oder den Jugendlichen in Fällen, in denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass das Kind oder der Jugendliche internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes benötigt; dabei ist das Kind oder der Jugendliche zu beteiligen.

(3) Das Jugendamt hat im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1 und 2 die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unverzüglich von der Inobhutnahme zu unterrichten, sie in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form umfassend über diese Maßnahme aufzuklären und mit ihnen das Gefährdungsrisiko abzuschätzen. Widersprechen die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt unverzüglich

1.
das Kind oder den Jugendlichen den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach der Einschätzung des Jugendamts eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden oder
2.
eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen.
Sind die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nicht erreichbar, so gilt Satz 2 Nummer 2 entsprechend. Im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3 ist unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen. Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme nicht, so ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten.

(4) Die Inobhutnahme endet mit

1.
der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten,
2.
der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch.

(5) Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme sind nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.

(6) Ist bei der Inobhutnahme die Anwendung unmittelbaren Zwangs erforderlich, so sind die dazu befugten Stellen hinzuzuziehen.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.