Gericht

Verwaltungsgericht München

Tenor

I. Die Verfahren M 16 S 14.50045 und M 16 S 14.50047 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

II. Die aufschiebende Wirkung der Klagen der Antragsteller gegen die Bescheide des Bundes-amtes für Migration und Flüchtlinge vom ... März 2014 (Az. ...) und vom ... März 2014 (Az. ...) wird angeordnet.

III. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.

Die Antragsteller sind eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehörigkeit und im Oktober 2013 aus Ungarn kommend in das Bundesgebiet eingereist. Sie beantragten hier am 5. November 2013 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Die Antragsteller zu 1) und 2) im Verfahren M 16 S 14.50047 sind verheiratet und die Eltern der Antragsteller zu 3) bis 5) in diesem Verfahren sowie der Antragstellerin im Verfahren M 16 S 14.50045.

Gemäß EURODAC-Treffern haben die Antragsteller am 24. Oktober 2013 Asylanträge in Ungarn gestellt. Einem Aufnahmegesuch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 3. Februar 2014 gab die zuständige ungarische Behörde mit Schreiben vom 7. Februar 2014 statt.

Mit Bescheid vom ... März 2014 (Az. ...), den Antragstellern zu 1) und 2) mit Schreiben vom 12. März 2014 zugestellt, erklärte das Bundesamt die Asylanträge der Antragsteller im Verfahren M 16 S 14.50047 für unzulässig (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.

Gegenüber der Antragstellerin im Verfahren M 16 S 14.50045 wurde mit gleichlautendem Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 (Az. ...), mit Schreiben vom 13. März 2014 zugestellt, der Asylantrag für unzulässig erklärt (Ziffer 1) und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Ziffer 2).

Am 20. März 2014 erhoben die Antragsteller im Verfahren M 16 S 14.50047 über ihren Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 (Verfahren M 16 K 14.50046). Die Antragstellerin im Verfahren M 16 S 14.50045 ließ ebenfalls am 20. März 2014 Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 erheben (Verfahren M 16 K 14.50044). Gleichzeitig stellten die Antragsteller Anträge gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, es sei nach den gegenwärtig vorliegenden Erkenntnismitteln mit einiger Wahrscheinlichkeit ernsthaft zu befürchten, dass Asylbewerber, welche in Ungarn subsidiären Schutz erhalten und anschließend mangels Lebensperspektive dort in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgereist seien, bei ihrer Rückkehr nach Ungarn dort nicht Fuß fassen und menschenwürdig existieren könnten. Es sei insbesondere nicht ersichtlich, dass Ungarn insoweit seinen Verpflichtungen gemäß Art. 20 ff., insbesondere Art. 26 bis 29 und 31 der Qualifikationsrichtlinie nachkomme. Flüchtlinge würden in Ungarn systematisch inhaftiert. Nach der von Misshandlungen geprägten Haft würden die meisten Flüchtlinge über kurz oder lang auf die Straße gesetzt. Angesichts der dokumentierten systemischen Mängel des ungarischen Asylsystems seien Rückschiebungen von Flüchtlingen, die über Ungarn nach Deutschland kämen, nicht mit europäischer Rechtsprechung zu vereinbaren. Im vorliegenden Fall bestünden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung. Bei einer Überstellung nach Ungarn im Hinblick auf die eingereichten Klagen bestünde angesichts der den Antragstellern drohenden Obdachlosigkeit die konkrete Gefahr, behördlich und gerichtlich unerreichbar zu sein mit der Folge, dass selbst im Falle des Obsiegens in der Hauptsache die Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Unerklärlich sei zudem, weshalb eine Abschiebung nach Ungarn angeordnet werde, wo doch die Antragsteller selbst angegeben hätten, zuerst nach Griechenland eingereist zu sein. Die Antragsteller beantragen jeweils,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom ... März 2014 bzw. im Bescheid vom ... März 2014 anzuordnen.

Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 19. und 20. März 2014 die Behördenakten vor. Anträge wurden nicht gestellt.

Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in den vorliegenden Verfahren, in den Klageverfahren M 16 K 14.50044 und M 16 K 14.50046 und auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die zulässigen Anträge sind begründet.

Eine Abwägung des Interesses der Antragsteller an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen mit dem öffentlichen Interesse an einem Sofortvollzug der Abschiebungsanordnungen ergibt, dass die privaten Interessen der Antragsteller derzeit überwiegen.

Die Prüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage der aktuell vorliegenden Erkenntnismittel ergibt, dass die Erfolgsaussichten der Klagen jedenfalls offen sind. Nach derzeitigem Sach- und Streitstand sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die streitgegenständlichen Bescheide des Bundesamtes vom ... März 2014 und ... März 2014 rechtswidrig sind und die Antragsteller in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Möglicherweise sind die Asylanträge der Antragsteller nicht deshalb gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, weil ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig wäre. Sollte vielmehr die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO gegeben sein, so wäre der Erlass der Abschiebungsanordnungen nach § 34 a i.V.m. § 27 a AsylVfG bereits aus diesem Grund rechtswidrig.

1. Zwar ist hier grundsätzlich von einer Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 13 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 – sog. Dublin III-VO – auszugehen. Allerdings ist möglicherweise die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO gegeben. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel 3 der Dublin III-VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf ein Asylbewerber nur dann nicht an den europarechtlich zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat aufgrund systemischer Mängel, d.h. regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).

2. Vorliegend liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Unterbringung von Familien mit Kindern in Ungarn derartige systemische Mängel aufweist.

Bereits nach am 24. Dezember 2010 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen war in Ungarn eine Inhaftierung von Familien mit Kindern für bis zu 30 Tagen gestattet. Wegen fehlender Statistiken konnte der UNHCR nicht bestätigen, dass diese gesetzliche Bestimmung in der Praxis tatsächlich – wie vom Gesetz vorgesehen – nur als äußerste Maßnahme angewendet wurde (UNHCR, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn, April 2012, dort S. 17 f.). Auch die seit 1. Juli 2013 geltende Rechtslage in Ungarn erlaubt es, Familien mit Kindern im Alter von bis zu 18 Jahren bis zu 30 Tage lang in Haft zu nehmen. Es handelt sich dabei um eine von dem strafgerichtlichen Vollzug gesonderte, spezifisch für Asylbewerber bestimmte Unterbringungsform. Eine solche Haft kann u.a. dann angeordnet werden, wenn der betreffende Asylantragsteller sich vor den Behörden verborgen oder in anderer Weise den Fortgang des Asylverfahrens behindert hat. Alternativ zu einer Haft können auch andere Maßnahmen wie die Festsetzung einer Kaution, eine Beschränkung des Aufenthaltsortes oder Meldeauflagen verfügt werden. Die Haft soll nach dem Gesetz nur auf der Grundlage einer Würdigung des Einzelfalls und dann verhängt werden, wenn die damit verfolgten Zwecke nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können. Nach Feststellungen des ungarischen Helsinki-Komitees im Sommer 2013 wurden die Kapazitäten der entsprechenden Hafteinrichtungen für Asylbewerber seit Einführung dieser Unterbringungsform im Juli 2013 in der Regel ausgeschöpft. Auch bei Familien mit Kindern wird von dieser Möglichkeit häufig Gebrauch gemacht. Weiter wurde beobachtet, dass eine eingehende Prüfung des Einzelfalls und milderer Mittel nicht erfolgte (vgl. AIDA – Asylum Information Database, National Country Report Hungary vom 13.12.2013, dort S. 43 ff.). Auch in einem Bericht der Arbeitsgruppe des OHCHR zu willkürlichen Inhaftierungen über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 wird festgestellt, dass der deutliche Schwerpunkt der gegenüber Asylbewerbern getroffenen Maßnahmen bei deren Inhaftierung liege, was Anlass zur Besorgnis gebe (vgl. UN Office of the High Commissioner for Human Rights – OHCHR, Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon the conclusion of its visit to Hungary - 23 September - 2 October 2013, unter http://www.ohchr.org).

Es ist demnach mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei den Antragstellern bei einer Rückkehr nach Ungarn wegen ihrer Weiterreise während des Asylverfahrens der Haftgrund einer Verzögerung des Asylverfahrens angenommen und eine Haft angeordnet werden würde.

Nach den Feststellungen des ungarischen Helsinki-Komitees vom Sommer 2013 sind die Haftbedingungen für Familien mit Kindern nicht angemessen. Es gebe keine sozialen oder Bildungsangebote für Kinder; das Essen sei auch nicht für Kinder geeignet und es sei kein Spielzeug vorhanden (vgl. AIDA – Asylum Information Database, National Country Report Hungary vom 13.12.2013, dort S. 49).

Es bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Inhaftierung der Antragsteller für eine Dauer von bis zu 30 Tagen eine unmenschliche Behandlung nach Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union darstellt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (U.v. 19.1.2012 – Popov/Frankreich, Nrn. 39472/07 und 39474/07) kann eine Inhaftierung von Kindern auch im Falle einer gemeinsamen Unterbringung mit den Eltern bereits bei einem Zeitraum von 15 Tagen dann Art. 3, 5 Abs. 1 und 4 sowie Art. 8 EMRK verletzen, wenn die Haftbedingungen den Bedürfnissen der Kinder nicht hinreichend Rechnung tragen. Die vorgenannten Auskünfte sprechen dafür, dass die Haftbedingungen in Ungarn diesen Anforderungen der EMRK nicht gerecht werden. Gleichermaßen ist fraglich, ob die Rechte des Kindes nach Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewahrt sind.

Eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union ist anzunehmen, wenn eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende und das Kindeswohl gefährdende Maßnahme vorliegt. Dem Kindeswohl ist bei der Entscheidung über die Zuständigkeit nach der Dublin III-VO besonders Rechnung zu tragen (vgl. EuGH, U.v. 6.6.2013 – C-648/11 – juris; VG München, U.v. 10.10.2013 – M 10 K 13.30611 – juris).

Angesichts der zumindest offenen Erfolgsaussichten in den Hauptsachen überwiegen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die privaten Interessen der Antragsteller, insbesondere auch im Hinblick auf die besondere Schutzbedürftigkeit der minderjährigen Antragsteller zu 3) bis 5) im Verfahren M 16 S 14.50047 und der Antragstellerin im Verfahren M 16 S 14.50045.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).

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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 113


(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 80


(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a). (2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur 1. bei der

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Verwaltungsgericht München Beschluss, 15. Apr. 2014 - M 16 S 14.50045

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Tenor I. Die Verfahren M 16 S 14.50045 und M 16 S 14.50047 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. II. Die aufschiebende Wirkung der Klagen der Antragsteller gegen die Bescheide des Bundes-amtes für Migration und Flüchtlinge vom

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Gründe

Bayerisches Verwaltungsgericht München

M 16 K 14.50044

Im Namen des Volkes

Gerichtsbescheid

vom 14. April 2015

16. Kammer

Sachgebiets-Nr. 710

Hauptpunkte:

Dublin III-Verfahren; Überstellung nach Ungarn; Systemische Mängel betreffend die Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern

Rechtsquellen:

In der Verwaltungsstreitsache

... - Kläger -

bevollmächtigt: Rechtsanwälte ...

gegen

Bundesrepublik Deutschland

vertreten durch: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Außenstelle München, Boschetsrieder Str. 41, 81379 München

- Beklagte -

wegen Vollzugs des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG)

erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 16. Kammer, durch den Richter am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichter am 14. April 2015

folgenden Gerichtsbescheid:

I.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... März 2014 (Az. ...) wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin ist eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehörigkeit und im Oktober 2013 aus Ungarn kommend in das Bundesgebiet eingereist. Sie beantragte hier am 5. November 2013 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Die Klägerin zu 1) und 2) im Verfahren M 16 K 14.50046 sind verheiratet und die Eltern der Kläger zu 3) bis 5) in diesem Verfahren sowie der Klägerin im vorliegenden Verfahren.

Gemäß EURODAC-Treffern hat die Klägerin am 24. Oktober 2013 gemeinsam mit den Klägern im Verfahren M 16 K 14.50046 einen Asylantrag in Ungarn gestellt. Einem Aufnahmegesuch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 3. Februar 2014 gab die zuständige ungarische Behörde mit Schreiben vom 7. Februar 2014 statt.

Mit Bescheid vom ... März 2014 (Az. ...) erklärte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger im Verfahren M 16 K 14.50046 für unzulässig (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 2).

Gegenüber der Klägerin wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 (Az. ...), mit Schreiben vom 13. März 2014 zugestellt, der Asylantrag für unzulässig erklärt (Ziffer 1) und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Ziffer 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.

Am 20. März 2014 wurde Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 erhoben (Verfahren M 16 K 14.50046). Die Klägerin ließ ebenfalls am 20. März 2014 Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 erheben. Gleichzeitig stellte die Klägerin einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, es sei nach den gegenwärtig vorliegenden Erkenntnismitteln mit einiger Wahrscheinlichkeit ernsthaft zu befürchten, dass Asylbewerber, welche in Ungarn subsidiären Schutz erhalten hätten und anschließend mangels Lebensperspektive dort in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgereist seien, bei ihrer Rückkehr nach Ungarn dort nicht Fuß fassen und menschenwürdig existieren könnten. Es sei insbesondere nicht ersichtlich, dass Ungarn insoweit seinen Verpflichtungen gemäß Art. 20 ff., insbesondere Art. 26 bis 29 und 31 der Qualifikationsrichtlinie nachkomme. Flüchtlinge würden in Ungarn systematisch inhaftiert. Nach der von Misshandlungen geprägten Haft würden die meisten Flüchtlinge über kurz oder lang auf die Straße gesetzt. Angesichts der dokumentierten systemischen Mängel des ungarischen Asylsystems seien Rückschiebungen von Flüchtlingen, die über Ungarn nach Deutschland kämen, nicht mit europäischer Rechtsprechung zu vereinbaren. Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom ... März 2014 aufzuheben.

Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 19. und 20. März 2014 die Behördenakten vor. Anträge wurden nicht gestellt.

Mit Beschluss vom 10. April 2015 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylVfG).

Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren sowie in den Verfahren M 16 K 14.50046, M 16 S 14.50045 und M 16 S 14.50047 und auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Über die Klage konnte nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Der Asylantrag der Klägerin ist nicht deshalb gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, weil ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig wäre. Vielmehr ist hier die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung dieses Asylantrags gegeben. Der Erlass der Abschiebungsanordnung nach § 34a i. V. m. § 27a AsylVfG ist bereits aus diesem Grund rechtswidrig.

1. Zwar wäre hier grundsätzlich von einer Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 13 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - sog. Dublin III-VO - auszugehen. Allerdings ist hier ausnahmsweise die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO gegeben. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich als unmöglich erweist, einen Kläger an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel 3 der Dublin III-VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine solche anderweitige Zuständigkeit festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf ein Asylbewerber nur dann nicht an den europarechtlich zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat aufgrund systemischer Mängel, d. h. regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris).

Eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union ist im Falle minderjähriger Antragsteller insbesondere anzunehmen, wenn eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende und das Kindeswohl gefährdende Maßnahme vorliegt. Dem Kindeswohl ist bei der Entscheidung über die Zuständigkeit nach der Dublin III-VO besonders Rechnung zu tragen (vgl. EuGH, U.v. 6.6.2013 - C-648/11 - juris; VG München, U.v. 10.10.2013 - M 10 K 13.30611 - juris).

2. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Unterbringungsbedingungen für Familien mit minderjährigen Kindern in Ungarn derartige systemische Mängel aufweisen (vgl. auch VG München, U.v. 29.1.2015 - M 10 K 14.50128).

Bereits nach am 24. Dezember 2010 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen war in Ungarn eine Inhaftierung von Familien mit Kindern für bis zu 30 Tagen gestattet. Wegen fehlender Statistiken konnte der UNHCR nicht bestätigen, dass diese gesetzliche Bestimmung in der Praxis tatsächlich - wie vom Gesetz vorgesehen - nur als äußerste Maßnahme angewendet wurde (UNHCR, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn, April 2012, dort S. 17 f.). Auch die seit 1. Juli 2013 geltende Rechtslage in Ungarn erlaubt es, Familien mit Kindern im Alter von bis zu 18 Jahren bis zu 30 Tage lang in sog. „Asylhaft“ zu nehmen. Es handelt sich dabei um eine von dem strafgerichtlichen Vollzug gesonderte, spezifisch für Asylbewerber bestimmte Unterbringungsform. Eine solche Haft kann u. a. dann angeordnet werden, wenn der betreffende Asylbewerber sich vor den Behörden verborgen oder in anderer Weise den Fortgang des Asylverfahrens behindert hat. Alternativ zu einer Haft können auch andere Maßnahmen wie die Festsetzung einer Kaution, eine Beschränkung des Aufenthaltsortes oder Meldeauflagen verfügt werden. Die Haft soll nach dem Gesetz nur auf der Grundlage einer Würdigung des Einzelfalls und dann verhängt werden, wenn die damit verfolgten Zwecke nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können. Nach Feststellungen des ungarischen Helsinki-Komitees im Sommer 2013 wurden die Kapazitäten der entsprechenden Hafteinrichtungen für Asylbewerber seit Einführung dieser Unterbringungsform im Juli 2013 in der Regel ausgeschöpft. Weiter wurde beobachtet, dass eine eingehende Prüfung des Einzelfalls und milderer Mittel nicht erfolgte (vgl. AIDA - Asylum Information Database, National Country Report Hungary vom 13.12.2013, abzurufen über http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, dort S. 43 ff.). Auch in einem Bericht der Arbeitsgruppe des OHCHR zu willkürlichen Inhaftierungen über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 wird festgestellt, dass der deutliche Schwerpunkt der gegenüber Asylbewerbern getroffenen Maßnahmen bei deren Inhaftierung liege, was Anlass zur Besorgnis gebe (vgl. UN Office of the High Commissioner for Human Rights - OHCHR, Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon the conclusion of its visit to Hungary - 23 September - 2 October 2013, unter http://www.ohchr.org). Auch der Kommissar des Europarats für Menschenrechte kam aufgrund eines Aufenthalts in Ungarn vom 1. bis 4. Juli 2014 zu der Feststellung, dass etwa 25% aller Asylbewerber in Haft genommen werden (vgl. Bericht vom 16.12.2014, abzurufen unter http://www.coe.int/en/web/commissioner/country-report/hungary). Diese Zahlen deuteten darauf hin, dass von den im Gesetz vorgesehenen Alternativen zur Haftanordnung sehr wenig Gebrauch gemacht werde.

Dem Europäischen Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen (ECRE) zufolge (vgl. Bericht über die Inhaftierung von Familien vom 4.11.2014, abzurufen über http://www.asylumineurope.org/news/; Länderbericht für das Projekt AIDA - Asylum Information Database zu Ungarn vom 17.2.2015, vgl. dort S. 54) werden in Ungarn seit September 2014 auch Familien mit minderjährigen Kindern inhaftiert. Dies wurde ECRE zunächst von Anwälten und Nichtregierungsorganisationen berichtet, die in den Haftanstalten präsent sind. Betroffene Asylbewerber bleiben oftmals während des gesamten Asylverfahrens vor dem ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft in Haft.

Die Sachlage in Ungarn hat sich damit für asylsuchende Familien seit September 2014 grundlegend verändert. In früheren Berichten war davon ausgegangen worden, dass von der Möglichkeit der Inhaftierung dieser Personengruppe in der Praxis kein Gebrauch gemacht wurde (vgl. Bericht des Kommissars des Europarats für Menschenrechte vom 16.12.2014, dort Ziff. 160; AIDA-Bericht zu Ungarn vom 30.4.2014, dort S. 48 und 51).

Es ist demnach mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Ungarn wegen ihrer Weiterreise während des dortigen Asylverfahrens der Haftgrund einer Verzögerung des Asylverfahrens angenommen und eine Haft angeordnet werden würde.

Nach den Feststellungen von ECRE (vgl. Bericht über die Inhaftierung von Familien vom 4.11.2014; AIDA-Bericht vom 17.2.2015, dort S. 61) werden zu inhaftierende Familien Unterkünften in Békéscsaba und Debrecen zugewiesen. Diese Einrichtungen seien für die Inhaftierung von Familien jedoch nicht geeignet. Dort untergebrachte Kinder könnten keine Schule besuchen. Es würden keine sozialen und erzieherischen Aktivitäten angeboten. Das Essen sei dort für Kinder ungeeignet, es gebe sehr wenig Spielzeug. Bei der Unterkunft in Debrecen komme hinzu, dass diese über wenig Raum im Freien verfüge. Der kleine und kahle, eingezäunte Hof könne für keine sinnvollen Freizeitaktivitäten genutzt werden. Mit Schlagstöcken und Handschellen ausgerüstete Sicherheitskräfte in den Unterkünften der Asylhaft würden auf die Kinder einschüchternd wirken. Die Anordnung der Haft würde in der Praxis nicht erst als letztes Mittel erfolgen; die Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl werde nicht geprüft. Eine ordnungsgemäße Einzelfallprüfung liege den Entscheidungen damit nicht zugrunde.

Diese Feststellungen und Bewertungen sind schlüssig und glaubhaft. Das ungarische Helsinki-Komitee als Mitautor des Berichts hat die genannten Einrichtungen wiederholt überprüft (vgl. vorgenannter AIDA-Bericht vom 17.2.2015, S. 55). Zudem bezieht sich ECRE auf Erkenntnisse von Rechtsanwälten und Nichtregierungsorganisationen, die Zugang zu den Hafteinrichtungen erhalten. Zwar findet sich in einer Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 19. November 2014 (dort zu Frage 5 unter j) die Aussage, dass die Unterbringung von Familien im Rahmen der Asylhaft in Einrichtungen erfolge, welche auf die spezifischen Bedürfnisse von Familien mit minderjährigen Kindern eingerichtet seien. Diese global gehaltene Einschätzung ist jedoch nicht geeignet, die vorstehend zitierten detaillierten Feststellungen zu entkräften. Hierdurch wird nicht konkret ausgeräumt, dass die Art und Weise der Haftdurchführung für Familien in Békéscsaba und Debrecen die oben angesprochenen erheblichen Mängel aufweist.

Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Inhaftierung der Klägerin für eine Dauer von bis zu 30 Tagen eine unmenschliche Behandlung nach Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union darstellt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. U.v. 19.1.2012 - Popov/Frankreich, Nrn. 39472/07 und 39474/07) kann eine Inhaftierung von Kindern auch im Falle einer gemeinsamen Unterbringung mit den Eltern bereits bei einem Zeitraum von 15 Tagen dann Art. 3, 5 Abs. 1 und 4 sowie Art. 8 EMRK verletzen, wenn die Haftbedingungen den Bedürfnissen der Kinder nicht hinreichend Rechnung tragen. Die vorgenannten Auskünfte rechtfertigen die Einschätzung, dass die Haftbedingungen für Minderjährige in Ungarn diesen Anforderungen der EMRK und Art. 4 der EU-Grundrechtecharta nicht gerecht werden. Unabhängig davon wäre auch fraglich, ob die Rechte des Kindes nach Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewahrt sind.

3. Unabhängig von der Zuständigkeit der Beklagten aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO für den Asylantrag der Klägerin wäre deren Asylverfahren auch gemäß Art. 11 a) Dublin III-VO im Bundesgebiet durchzuführen, da (auch) über die Asylanträge ihrer Eltern und Geschwister hier zu entscheiden ist (vgl. Urteil vom 14.4.2015 - M 16 K 14.50046) .

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V. §§ 708 ff. ZPO.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.

Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.

Anstelle des Antrags auf Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht München

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten mündliche Verhandlung beantragen.

Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

Gründe

Bayerisches Verwaltungsgericht München

M 16 K 14.50044

Im Namen des Volkes

Gerichtsbescheid

vom 14. April 2015

16. Kammer

Sachgebiets-Nr. 710

Hauptpunkte:

Dublin III-Verfahren; Überstellung nach Ungarn; Systemische Mängel betreffend die Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern

Rechtsquellen:

In der Verwaltungsstreitsache

... - Kläger -

bevollmächtigt: Rechtsanwälte ...

gegen

Bundesrepublik Deutschland

vertreten durch: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Außenstelle München, Boschetsrieder Str. 41, 81379 München

- Beklagte -

wegen Vollzugs des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG)

erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 16. Kammer, durch den Richter am Verwaltungsgericht ... als Einzelrichter am 14. April 2015

folgenden Gerichtsbescheid:

I.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... März 2014 (Az. ...) wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

III.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin ist eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehörigkeit und im Oktober 2013 aus Ungarn kommend in das Bundesgebiet eingereist. Sie beantragte hier am 5. November 2013 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Die Klägerin zu 1) und 2) im Verfahren M 16 K 14.50046 sind verheiratet und die Eltern der Kläger zu 3) bis 5) in diesem Verfahren sowie der Klägerin im vorliegenden Verfahren.

Gemäß EURODAC-Treffern hat die Klägerin am 24. Oktober 2013 gemeinsam mit den Klägern im Verfahren M 16 K 14.50046 einen Asylantrag in Ungarn gestellt. Einem Aufnahmegesuch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 3. Februar 2014 gab die zuständige ungarische Behörde mit Schreiben vom 7. Februar 2014 statt.

Mit Bescheid vom ... März 2014 (Az. ...) erklärte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger im Verfahren M 16 K 14.50046 für unzulässig (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 2).

Gegenüber der Klägerin wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 (Az. ...), mit Schreiben vom 13. März 2014 zugestellt, der Asylantrag für unzulässig erklärt (Ziffer 1) und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Ziffer 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.

Am 20. März 2014 wurde Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 erhoben (Verfahren M 16 K 14.50046). Die Klägerin ließ ebenfalls am 20. März 2014 Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 erheben. Gleichzeitig stellte die Klägerin einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, es sei nach den gegenwärtig vorliegenden Erkenntnismitteln mit einiger Wahrscheinlichkeit ernsthaft zu befürchten, dass Asylbewerber, welche in Ungarn subsidiären Schutz erhalten hätten und anschließend mangels Lebensperspektive dort in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgereist seien, bei ihrer Rückkehr nach Ungarn dort nicht Fuß fassen und menschenwürdig existieren könnten. Es sei insbesondere nicht ersichtlich, dass Ungarn insoweit seinen Verpflichtungen gemäß Art. 20 ff., insbesondere Art. 26 bis 29 und 31 der Qualifikationsrichtlinie nachkomme. Flüchtlinge würden in Ungarn systematisch inhaftiert. Nach der von Misshandlungen geprägten Haft würden die meisten Flüchtlinge über kurz oder lang auf die Straße gesetzt. Angesichts der dokumentierten systemischen Mängel des ungarischen Asylsystems seien Rückschiebungen von Flüchtlingen, die über Ungarn nach Deutschland kämen, nicht mit europäischer Rechtsprechung zu vereinbaren. Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom ... März 2014 aufzuheben.

Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 19. und 20. März 2014 die Behördenakten vor. Anträge wurden nicht gestellt.

Mit Beschluss vom 10. April 2015 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylVfG).

Zu weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren sowie in den Verfahren M 16 K 14.50046, M 16 S 14.50045 und M 16 S 14.50047 und auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Über die Klage konnte nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes vom ... März 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Der Asylantrag der Klägerin ist nicht deshalb gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, weil ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig wäre. Vielmehr ist hier die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung dieses Asylantrags gegeben. Der Erlass der Abschiebungsanordnung nach § 34a i. V. m. § 27a AsylVfG ist bereits aus diesem Grund rechtswidrig.

1. Zwar wäre hier grundsätzlich von einer Zuständigkeit Ungarns gemäß Art. 13 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - sog. Dublin III-VO - auszugehen. Allerdings ist hier ausnahmsweise die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO gegeben. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich als unmöglich erweist, einen Kläger an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel 3 der Dublin III-VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine solche anderweitige Zuständigkeit festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf ein Asylbewerber nur dann nicht an den europarechtlich zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat aufgrund systemischer Mängel, d. h. regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris).

Eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union ist im Falle minderjähriger Antragsteller insbesondere anzunehmen, wenn eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende und das Kindeswohl gefährdende Maßnahme vorliegt. Dem Kindeswohl ist bei der Entscheidung über die Zuständigkeit nach der Dublin III-VO besonders Rechnung zu tragen (vgl. EuGH, U.v. 6.6.2013 - C-648/11 - juris; VG München, U.v. 10.10.2013 - M 10 K 13.30611 - juris).

2. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Unterbringungsbedingungen für Familien mit minderjährigen Kindern in Ungarn derartige systemische Mängel aufweisen (vgl. auch VG München, U.v. 29.1.2015 - M 10 K 14.50128).

Bereits nach am 24. Dezember 2010 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen war in Ungarn eine Inhaftierung von Familien mit Kindern für bis zu 30 Tagen gestattet. Wegen fehlender Statistiken konnte der UNHCR nicht bestätigen, dass diese gesetzliche Bestimmung in der Praxis tatsächlich - wie vom Gesetz vorgesehen - nur als äußerste Maßnahme angewendet wurde (UNHCR, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn, April 2012, dort S. 17 f.). Auch die seit 1. Juli 2013 geltende Rechtslage in Ungarn erlaubt es, Familien mit Kindern im Alter von bis zu 18 Jahren bis zu 30 Tage lang in sog. „Asylhaft“ zu nehmen. Es handelt sich dabei um eine von dem strafgerichtlichen Vollzug gesonderte, spezifisch für Asylbewerber bestimmte Unterbringungsform. Eine solche Haft kann u. a. dann angeordnet werden, wenn der betreffende Asylbewerber sich vor den Behörden verborgen oder in anderer Weise den Fortgang des Asylverfahrens behindert hat. Alternativ zu einer Haft können auch andere Maßnahmen wie die Festsetzung einer Kaution, eine Beschränkung des Aufenthaltsortes oder Meldeauflagen verfügt werden. Die Haft soll nach dem Gesetz nur auf der Grundlage einer Würdigung des Einzelfalls und dann verhängt werden, wenn die damit verfolgten Zwecke nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können. Nach Feststellungen des ungarischen Helsinki-Komitees im Sommer 2013 wurden die Kapazitäten der entsprechenden Hafteinrichtungen für Asylbewerber seit Einführung dieser Unterbringungsform im Juli 2013 in der Regel ausgeschöpft. Weiter wurde beobachtet, dass eine eingehende Prüfung des Einzelfalls und milderer Mittel nicht erfolgte (vgl. AIDA - Asylum Information Database, National Country Report Hungary vom 13.12.2013, abzurufen über http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, dort S. 43 ff.). Auch in einem Bericht der Arbeitsgruppe des OHCHR zu willkürlichen Inhaftierungen über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 wird festgestellt, dass der deutliche Schwerpunkt der gegenüber Asylbewerbern getroffenen Maßnahmen bei deren Inhaftierung liege, was Anlass zur Besorgnis gebe (vgl. UN Office of the High Commissioner for Human Rights - OHCHR, Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon the conclusion of its visit to Hungary - 23 September - 2 October 2013, unter http://www.ohchr.org). Auch der Kommissar des Europarats für Menschenrechte kam aufgrund eines Aufenthalts in Ungarn vom 1. bis 4. Juli 2014 zu der Feststellung, dass etwa 25% aller Asylbewerber in Haft genommen werden (vgl. Bericht vom 16.12.2014, abzurufen unter http://www.coe.int/en/web/commissioner/country-report/hungary). Diese Zahlen deuteten darauf hin, dass von den im Gesetz vorgesehenen Alternativen zur Haftanordnung sehr wenig Gebrauch gemacht werde.

Dem Europäischen Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen (ECRE) zufolge (vgl. Bericht über die Inhaftierung von Familien vom 4.11.2014, abzurufen über http://www.asylumineurope.org/news/; Länderbericht für das Projekt AIDA - Asylum Information Database zu Ungarn vom 17.2.2015, vgl. dort S. 54) werden in Ungarn seit September 2014 auch Familien mit minderjährigen Kindern inhaftiert. Dies wurde ECRE zunächst von Anwälten und Nichtregierungsorganisationen berichtet, die in den Haftanstalten präsent sind. Betroffene Asylbewerber bleiben oftmals während des gesamten Asylverfahrens vor dem ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft in Haft.

Die Sachlage in Ungarn hat sich damit für asylsuchende Familien seit September 2014 grundlegend verändert. In früheren Berichten war davon ausgegangen worden, dass von der Möglichkeit der Inhaftierung dieser Personengruppe in der Praxis kein Gebrauch gemacht wurde (vgl. Bericht des Kommissars des Europarats für Menschenrechte vom 16.12.2014, dort Ziff. 160; AIDA-Bericht zu Ungarn vom 30.4.2014, dort S. 48 und 51).

Es ist demnach mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Ungarn wegen ihrer Weiterreise während des dortigen Asylverfahrens der Haftgrund einer Verzögerung des Asylverfahrens angenommen und eine Haft angeordnet werden würde.

Nach den Feststellungen von ECRE (vgl. Bericht über die Inhaftierung von Familien vom 4.11.2014; AIDA-Bericht vom 17.2.2015, dort S. 61) werden zu inhaftierende Familien Unterkünften in Békéscsaba und Debrecen zugewiesen. Diese Einrichtungen seien für die Inhaftierung von Familien jedoch nicht geeignet. Dort untergebrachte Kinder könnten keine Schule besuchen. Es würden keine sozialen und erzieherischen Aktivitäten angeboten. Das Essen sei dort für Kinder ungeeignet, es gebe sehr wenig Spielzeug. Bei der Unterkunft in Debrecen komme hinzu, dass diese über wenig Raum im Freien verfüge. Der kleine und kahle, eingezäunte Hof könne für keine sinnvollen Freizeitaktivitäten genutzt werden. Mit Schlagstöcken und Handschellen ausgerüstete Sicherheitskräfte in den Unterkünften der Asylhaft würden auf die Kinder einschüchternd wirken. Die Anordnung der Haft würde in der Praxis nicht erst als letztes Mittel erfolgen; die Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl werde nicht geprüft. Eine ordnungsgemäße Einzelfallprüfung liege den Entscheidungen damit nicht zugrunde.

Diese Feststellungen und Bewertungen sind schlüssig und glaubhaft. Das ungarische Helsinki-Komitee als Mitautor des Berichts hat die genannten Einrichtungen wiederholt überprüft (vgl. vorgenannter AIDA-Bericht vom 17.2.2015, S. 55). Zudem bezieht sich ECRE auf Erkenntnisse von Rechtsanwälten und Nichtregierungsorganisationen, die Zugang zu den Hafteinrichtungen erhalten. Zwar findet sich in einer Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 19. November 2014 (dort zu Frage 5 unter j) die Aussage, dass die Unterbringung von Familien im Rahmen der Asylhaft in Einrichtungen erfolge, welche auf die spezifischen Bedürfnisse von Familien mit minderjährigen Kindern eingerichtet seien. Diese global gehaltene Einschätzung ist jedoch nicht geeignet, die vorstehend zitierten detaillierten Feststellungen zu entkräften. Hierdurch wird nicht konkret ausgeräumt, dass die Art und Weise der Haftdurchführung für Familien in Békéscsaba und Debrecen die oben angesprochenen erheblichen Mängel aufweist.

Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Inhaftierung der Klägerin für eine Dauer von bis zu 30 Tagen eine unmenschliche Behandlung nach Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union darstellt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. U.v. 19.1.2012 - Popov/Frankreich, Nrn. 39472/07 und 39474/07) kann eine Inhaftierung von Kindern auch im Falle einer gemeinsamen Unterbringung mit den Eltern bereits bei einem Zeitraum von 15 Tagen dann Art. 3, 5 Abs. 1 und 4 sowie Art. 8 EMRK verletzen, wenn die Haftbedingungen den Bedürfnissen der Kinder nicht hinreichend Rechnung tragen. Die vorgenannten Auskünfte rechtfertigen die Einschätzung, dass die Haftbedingungen für Minderjährige in Ungarn diesen Anforderungen der EMRK und Art. 4 der EU-Grundrechtecharta nicht gerecht werden. Unabhängig davon wäre auch fraglich, ob die Rechte des Kindes nach Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewahrt sind.

3. Unabhängig von der Zuständigkeit der Beklagten aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO für den Asylantrag der Klägerin wäre deren Asylverfahren auch gemäß Art. 11 a) Dublin III-VO im Bundesgebiet durchzuführen, da (auch) über die Asylanträge ihrer Eltern und Geschwister hier zu entscheiden ist (vgl. Urteil vom 14.4.2015 - M 16 K 14.50046) .

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V. §§ 708 ff. ZPO.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Gerichtsbescheid können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.

Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.

Anstelle des Antrags auf Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht München

Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder

Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München

schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten mündliche Verhandlung beantragen.

Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.