Sozialgericht Nürnberg Urteil, 24. Juli 2015 - S 4 R 80/15

published on 24/07/2015 00:00
Sozialgericht Nürnberg Urteil, 24. Juli 2015 - S 4 R 80/15
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Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte.

Die 1951 geborene Klägerin stellte am 31.07.2014 einen Antrag auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte sowie einen Antrag auf Altersrente für Frauen. Die Beklagte forderte zur Prüfung, ob die Wartezeit für besonders langjährig Versicherte erfüllt ist, von der Klägerin entsprechende Beweismittel an, falls die in den letzten zwei Jahren vor dem beantragten Rentenbeginn im Versicherungsverlauf gespeicherte Arbeitslosigkeit auf eine Insolvenz oder eine Geschäftsaufgabe zurückzuführen ist. Die Klägerin teilte am 04.09.2014 mit, dass ihre Arbeitslosigkeit in den letzten zwei Jahren vor dem beantragten Rentenbeginn ursprünglich auf einer Änderungskündigung (Verlagerung des Arbeitsplatzes) vom 10.02.2004 beruhte. Vom 01.10.2004 bis 30.09.2012 habe die tägliche Fahrstrecke zur Arbeit hin und zurück 300 km betragen. Sie sei täglich 3 1/2 Stunden mit dem eigenen Pkw unterwegs gewesen und im Winter je nach Straßenverhältnissen sehr oft länger. Diese Arbeitsbedingungen seien aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zumutbar gewesen, so dass sie ihren Arbeitsvertrag gekündigt habe. Mit angefochtenem Bescheid vom 10.09.2014 bewilligte die Beklagte der Klägerin Altersrente für Frauen ab 01.10.2014 mit einer Verminderung des Zugangsfaktors für 22 Kalendermonate von 0,066 auf 0,934. Für eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte sei die Wartezeit von 45 Jahren = 540 Monate nicht erfüllt. Für diese Wartezeit seien Pflichtbeitragszeiten aufgrund von Leistungen der Agentur für Arbeit in den letzten zwei Jahren vor der abschlagsfreien Rente nicht anrechenbar, es sei denn, dass die Arbeitslosigkeit auf einer Insolvenz oder einer vollständigen Geschäftsaufgabe beruhe. Dieser Sachverhalt liege nicht vor, so dass die Versicherte nur 525 berücksichtigungsfähige Monate zurückgelegt habe. Der Widerspruch vom 08.10.2014 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.01.2015 als unbegründet zurückgewiesen. Da der erhobene Widerspruch nicht begründet worden sei, habe eine Überprüfung nur nach der bekannten Sachlage erfolgen können. Hiernach sei der Bescheid nicht zu beanstanden.

Hiergegen richtet sich die am 02.02.2015 eingegangene Klage. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, die Klägerin habe 45 Jahre mit Pflichtbeitragszeiten belegt. Diese müssten alle für die Wartezeit berücksichtigt werden. Durch die Einführung von § 51 Abs. 3 a Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) sollte nach dem Willen des Gesetzgebers eine Welle von Frühverrentungen vermieden werden, indem Versicherte rechtsmissbräuchlich unmittelbar vor Beginn der gesetzlichen Altersrente die Höchstbezugsdauer von Arbeitslosengeld I in Anspruch nehmen. Die Ausnahmetatbestände, die im 2. Halbsatz definiert werden, seien gleichheitssatzwidrig. Die Klägerin habe zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, sich rechtsmissbräuchlich zu verhalten. Die tägliche Fahrstrecke zur Arbeit hin und zurück, die auf eine Änderungskündigung im Jahr 2004 zurückgehe, sei ihr aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zumutbar gewesen. Die Bundesagentur für Arbeit habe deshalb auch keine Sperrzeit verhängt, sondern unmittelbar ab 01.10.2012 Arbeitslosengeld I bewilligt. Da die Aufgabe des Arbeitsplatzes nicht vom Motiv einer eventuellen Frühverrentung bestimmt gewesen sei, sondern der tägliche Arbeitsweg aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr habe bewerkstelligt werden können, müsse die Pflichtbeitragszeit aus der zweijährigen Arbeitslosigkeit auch vollständig bei der Wartezeit berücksichtigt werden.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 01.10.2014 eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den In-halt der die Klägerin betreffenden Versichertenakten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakte im Übrigen Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht zum zuständigen Sozialgericht Nürnberg erhobene Klage ist zulässig (§§ 51, 57, 87 und 90 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 10.09.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2015 erweist sich nicht als rechtswidrig. Die Beklagte hat vielmehr mit zutreffender Be-gründung die Gewährung einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte abgelehnt, denn die Klägerin erfüllt nicht die gesetzlichen Voraussetzungen.

Gemäß dem mit Wirkung vom 01.07.2014 eingeführten § 236 b SGB VI haben Versicherte, die vor dem 01. Januar 1964 geboren sind, frühestens Anspruch auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte, wenn sie 1. das 63. Lebensjahr vollendet und 2. die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt haben. Außerdem darf ein aus einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit er-zieltes Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen oder vergleichbares Einkommen bis zum Ablauf des Monats, in dem die Regelaltersgrenze erreicht wird, die Hinzuverdienstgrenzen nicht überschreiten (§ 34 Abs. 2 und 3 SGB VI). Auf die Wartezeit von 45 Jahren werden u. a. Kalendermonate angerechnet mit Zeiten des Bezugs von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung (§ 51 Abs. 3 a Satz 1 Nr. 3 a SGB VI). Dabei werden gemäß Satz 1 2. Halbsatz Zeiten nach Buchst. a in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht berücksichtigt, es sei denn, der Bezug von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung ist durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers be-dingt.

Die Klägerin hat die Wartezeit von 45 Jahren = 540 Monate nicht erfüllt. Sie hat nur 525 berücksichtigungsfähige Monate zurückgelegt. Sie hat in den letz-ten zwei Jahren vor Rentenbeginn zwar Pflichtbeitragszeiten aufgrund von Leistungen der Agentur für Arbeit zurückgelegt. Die Arbeitslosigkeit der Klägerin ist aber weder auf eine Insolvenz noch eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers zurückzuführen. Von daher nehmen die Pflichtbeiträge für die Zeit vom 01.10.2012 bis 30.09.2014 nicht an der Berechnung der Wartezeit teil.

Die Vorschrift des § 51 Abs. 3 a Satz 1 Nr. 3 2. Halbsatz SGB VI ist auch nicht insoweit verfassungswidrig, als sie eine Rückausnahme von der zweijährigen „Karenzzeit“ für den Sachverhalt, der bei der Klägerin zur Arbeitslo-sigkeit geführt hat, nicht vorsieht.

Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes genügt das bloße Vorliegen eines sachlichen Grundes nicht zur Rechtfertigung einer Ungleichbe-handlung, sondern es werden Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht verlangt, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen.

Durch die Nichtberücksichtigung der Zeiten des Bezuges von Entgeltersatzleis-tungen der Arbeitsförderung in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn sollten Fehlanreize zu einer dem Renteneintritt vorgeschalteten Arbeitslosigkeit bzw. eine verkappte Frühverrentung vermieden werden (BT-Drs. 18/1489 S. 26). Zweck der Ausnahmeregelung für Zeiten des Bezugs von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung, die durch eine Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingt sind, ist es nach dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, solche Härtefälle zu berücksichtigen, bei denen die Arbeitnehmer unfreiwillig aus ihrem Arbeitsverhältnis ausscheiden. Die beiden Ausnahmetatbestände stellen objektiv zwingende Umstände dar, bei denen keinerlei Handlungsspielraum seitens des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers besteht, da sämtliche Arbeitsverhältnisse aufgelöst werden. Der Ausscheidungsgrund kann vom Arbeitnehmer nicht beeinflusst werden.

Mit diesen Ausnahmefällen sind die zur Arbeitslosigkeit der Klägerin führenden Gründe nicht vergleichbar. Letztlich hat sie ihr Arbeitsverhältnis selbst beendet und die Arbeitslosigkeit herbeigeführt, wenn auch aus verständigen Gründen und ohne dass von der Arbeitsagentur eine Sperrzeit verhängt worden wäre. Eine verfassungsrechtliche Ungleichbehandlung gegenüber der Personengruppe, die das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht beeinflussen kann, kann somit nicht erkannt werden.

Es wird zwar in der Literatur durchaus ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG wegen der unterschiedlichen Behandlung von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld in den letzten zwei Jahren vor dem Beginn einer Altersrente an besonders langjährig Versicherte bei Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers einerseits und anderen, zur Arbeitslosigkeit führenden Gründen andererseits diskutiert (vgl. insbe-sondere die Ausführungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, WD 6-3000-133/14). Die Diskussion betrifft jedoch nur Sachverhalte, wo Versi-cherte ebenfalls unfreiwillig, bspw. aufgrund einer betriebsbedingten Kündi-gung, arbeitslos geworden sind. Es sei nicht nachvollziehbar, dass diejenigen, die aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung ausscheiden und infolge dessen tatsächlich unfreiwillig arbeitslos werden, weniger schutzbedürftig sein sollen als diejenigen, die aufgrund einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden. Die-ser Sachverhalt liegt bei der Klägerin aber unstreitig nicht vor. Insbesondere ist die Klägerin nicht aufgrund der Änderungskündigung 2004 unfreiwillig arbeitslos geworden. Sie hat erst Jahre später ihr Arbeitsverhältnis gekündigt, weil ihren Angaben zufolge der weite Weg zur Arbeit gesundheitsbedingt nicht mehr habe zurückgelegt werden können, wobei sich im übrigen aus dem Versicherungsverlauf keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Klägerin vor ihrer Kündigung längere Zeit arbeitsunfähig gewesen wäre.

Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG abzuweisen.

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(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Ni

Annotations

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.