I.
Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde dagegen, dass das Amtsgericht München mit Beschluss vom 15.10.2014 ihren Antrag auf Vollstreckbarerklärung und Vollstreckung des Beschlusses des Bezirksgerichts Lublin/Polen, Az. III C 1158/14, mit dem der Antragsgegner in einem Sicherungsverfahren zur Herausgabe des gemeinsamen Kindes R. M., geb. .2012 an die Antragstellerin verpflichtet wurde, abgewiesen hat.
Die Beteiligten sind die miteinander verheirateten, aber getrennt lebenden Eltern des gemeinsamen Kindes R. M., das am ... 2012 in Augsburg geboren wurde. Die Beteiligten sind polnische Staatsangehörige, die zunächst gemeinsam in Augsburg lebten. In Polen ist ein Scheidungsverfahren anhängig. Zusätzlich wurde dort ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet.
Die Antragstellerin verließ am 30.5.2013 Deutschland und fuhr mit dem Kind nach Polen, um dort zu verbleiben. Der Antragsgegner war mit einem dauernden Aufenthalt des Kindes in Polen nicht einverstanden und beantragte die Rückführung des Kindes nach Deutschland auf der Grundlage des HKÜ. Die Antragstellerin kehrte mit dem Kind Anfang September 2013 zurück nach Deutschland, kehrte aber am 30.9.2013 erneut mit dem Kind gegen den Willen des Antragsgegners nach Polen zurück. Der Antragsgegner leitete erneut ein Rückführungsverfahren nach dem HKÜ in Polen ein. Vor einer Entscheidung hierüber verbrachte er das Kind am 13.7.2014 eigenmächtig gegen den Willen der Antragstellerin zurück nach Deutschland. Der vom Antragsgegner gestellte Rückführungsantrag wurde durch rechtskräftigen Beschluss des zuständigen polnischen Gerichts vom 18.8.2014 abgewiesen, weil das Kind wieder in Deutschland sei.
Auf Antrag der Antragstellerin erließ das Bezirksgericht Lublin am 14.7.2014 eine Sicherungsverfügung und ordnete an, dass der Aufenthalt des Kindes für die Dauer des Verfahrens bei der Antragstellerin liegt und der Antragsgegner verpflichtet ist, das Kind an die Antragstellerin herauszugeben. In dem Beschluss hat das Gericht ausgeführt, dass nach den Angaben der Antragstellerin der Antragsgegner das Kind entführt habe; das Kind sei seit seiner Geburt nie von seiner Mutter getrennt und habe seit dem 1.10.2013 zusammen mit der Mutter seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass, da für den 21.7.2014 eine psychologische Untersuchung angeordnet worden sei, habe sich der Antragsgegner vor dieser offensichtlich gefürchtet und habe deshalb das Kind entführt. Nach polnischem Recht könne in dringenden Fällen eine Sicherungsverfügung erlassen werden. Weil die Wegnahme des Kindes eine Bedrohung des Kindeswohls darstelle und sich negativ auf seine emotionale Entwicklung auswirke, sei der Antragsgegner verpflichtet, das Kind herauszugeben. Der Antragsgegner ist der Anordnung des polnischen Gerichts nicht nachgekommen.
Die Antragstellerin hat am 28.7.2014 beim Amtsgericht Augsburg die Vollstreckung des Beschlusses vom 14.7.2014 beantragt. Zugleich hat sie eine Bescheinigung nach Art. 42 I EuEheVO gem. Anhang IV vorgelegt, aus der sich ergibt, dass der Antragsgegner keine Gelegenheit hatte, angehört zu werden, da in der Frage 12 ein Strich eingetragen ist. Das Verfahren wurde zuständigkeitshalber an das Amtsgericht München abgegeben.
Mit Beschluss vom 15.10.2014 hat das Amtsgericht München die Anträge der Antragstellerin abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass eine unmittelbare Vollstreckung des polnischen Beschlusses nicht möglich sei; eine Rückgabe des Kindes nach Art. 42 EuEheVO komme nur in Betracht, wenn es sich um eine Rückgabeentscheidung nach Art. 40 I Buchst. b i.V.m Art. 11 VIII EuEheVO handele. Eine solche Entscheidung habe das Gericht nicht erlassen, vielmehr liege eine Sicherungsverfügung vor, mit deren Hilfe offensichtlich ein nicht geldwerter Anspruch gesichert werden solle. Auch könne keine Vollstreckbarerklärung erlassen werden; es sei überhaupt schon zweifelhaft, ob eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung vorliege, da nur bestimmt wurde, dass das Kind für die Dauer des Verfahrens, wobei zweifelhaft sei, welches dies sei, seinen Aufenthalt bei der Mutter habe und zu diesem Zweck an die Mutter herauszugeben sei. Jedenfalls seien die Formalien für die Vollstreckbarerklärung nicht eingehalten, insbesondere fehle eine Bescheinigung nach Anhang II i.V.m. Art. 39 EuEheVO. Darüber hinaus bestehe ein Anerkennungshindernis, weil der Antragsgegner vor Erlass der Entscheidung nicht angehört wurde.
Gegen den am 21.10.2014 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 20.11.2014 beim Amtsgericht München Beschwerde eingelegt, die am 12.12.2014 begründet wurde.
Die Antragstellerin trägt vor, dass die für vollstreckbar zu erklärende Entscheidung des polnischen Gerichts eine solche über die elterliche Verantwortung i.S.v. Art. 2 Nr. 7 EuEheVO sei, denn es sei der Aufenthalt des Kindes geregelt worden. Zudem sei die Herausgabe angeordnet worden. Die erlassene Sicherungsverfügung sei für das mit dem Scheidungsverfahren anhängig gemachte Sorgerechtsverfahren erlassen worden.
Soweit das Amtsgericht rüge, dass keine Bescheinigung nach Art. 39 EuEheVO vorgelegt worden sei, hätte das Gericht eine Frist nach Art. 38 EuEheVO zur Vorlage setzen oder sich mit der Bescheinigung nach Art. 41 EuEheVO begnügen müssen.
Ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör des Antragsgegners liege nicht vor, weil der Antragsgegner gegen die Entscheidung Rechtsmittel eingelegt habe. Außerdem könne sich der Antragsgegner wegen seines eigenen rechtswidrigen Verhaltens nicht auf das rechtliche Gehör berufen; es habe unverzüglich gehandelt werden müssen, nachdem der Antragsgegner das Kind entführt habe, indem er es über den Maschendrahtzaun gehoben und in ein unbekanntes Fahrzeug verbracht habe. Die Selbstjustiz könne nicht gebilligt werden; die Art. 40 ff EuEheVO seien analog heranzuziehen. Das Erstgericht habe die Ausführungen im Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten nicht berücksichtigt.
Die Antragstellerin beantragt,
den Endbeschluss des Amtsgerichts München aufzuheben und dem Antrag vom 28.7.2014, den Beschluss des Bezirksgerichts Lublin, Az. III C 1158/14 auf Herausgabe des Kindes für vollstreckbar zu erklären, stattzugeben
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Da es sich um eine vorläufige Entscheidung handele, sei sie nicht vollstreckungsfähig. Eine Bescheinigung nach Anhang II i.V. m. Art. 39 EuEheVO habe die Antragstellerin noch immer nicht vorgelegt.
Nachdem der Antragstellerin eine Frist zur Vorlage der Bescheinigung nach Anhang II i.V. m. Art. 39 EuEheVO gesetzt hat, hat diese die Bescheinigung am 19.1.2015 vorgelegt.
II.
1. Die gem. Art. 33 I EuEheVO, § 24 I S. 1 IntFamRVG statthafte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig. Sie wurde fristgerecht eingelegt. Zwar war die Beschwerde entgegen § 24 I S. 2 IntFamRVG beim Amtsgericht München eingelegt worden; dies ist jedoch gem. § 24 II IntFamRVG unschädlich. Im Übrigen wurde sie formgerecht eingelegt.
Die Entscheidung kann gem. § 26 I IntFamRVG ohne mündliche Verhandlung ergehen.
2. Die Beschwerde ist begründet, weil das Amtsgericht zu Unrecht die Vollstreckbarerklärung für den Beschluss des Bezirksgerichts Lublin vom 14.7.2014 verweigert hat.
a. Der Antrag auf Erlass einer Vollstreckbarerklärung des Beschlusses des Bezirksgerichts Lublin unterliegt nicht dem Regime der Art. 28 ff VO (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (i.F. EuEheVO).
aa. Die EuEheVO ist anwendbar, da die Entscheidung die elterliche Verantwortung i. S. v. Art. 1 I Buchst. b, II Buchst. a. Art. 2 Nr. 7 EuEheVO betrifft. Denn das Gericht hat die Herausgabe des Kindes an die Antragstellerin angeordnet und damit in das bestehende Recht der elterlichen Verantwortung des Antragsgegners eingegriffen.
bb. Bei der Entscheidung des Bezirksgericht Lublin handelt es sich ersichtlich nicht um eine Entscheidung i.S.v. Art. 42 EuEheVO, weil nicht die Rückgabe des Kindes i. S. v. Art. 40 I Buchst. b EuEheVO angeordnet wurde; insbesondere fehlt eine Entscheidung i. S.v. Art. 11 VIII EuEheVO Hierauf beruft sich die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren auch nicht mehr, weil sie nunmehr eine Vollstreckbarerklärung des polnischen Beschlusses erwirken möchte.
cc. Die Antragstellerin hat nunmehr die gem. Art. 39 EuEheVO notwendige Bescheinigung des polnischen Gerichts gem. Anhang II zur EuEheVO vorgelegt. Dass diese nur in polnischer Sprache verfasst ist, steht ihrer Berücksichtigung nicht entgegen, da sie in allen Amtssprachen gleich gefasst ist und damit ihr Inhalt ohne weiteres erfasst werden kann (vgl. Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 35. Aufl., Art. 39 EuEheVO Rn. 1; Hess JZ 2001, 573/577; Sturm StAZ 2002, 193). Aus Ziffer 9.1.1 der Bescheinigung ergibt sich, dass der Beschluss vom 14.7.2014 in Polen vollstreckbar ist; aus Ziffer 9.2.1 folgt, dass der Beschluss an den Antragsgegner zugestellt worden ist. In Ziffer 11.2.1 wird festgehalten, dass die Antragstellerin die Rückgabeberechtigte ist und sie über eine unter Ziffer 11.2.2 genannte Anschrift in Polen verfügt.
b. Die Entscheidung des Bezirksgerichts Lublin darf gem. Art. 31 II EuEheVO nur unter den in Art. 22-24 EuEheVO genannten Gründen nicht für vollstreckbar erklärt werden. Voraussetzung ist aber, dass es sich um ein vollstreckbare Entscheidung i.S. v. Art. 28 EuEheVO handelt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Entscheidung in Polen vollstreckbar ist, sondern sie muss in einem anderen Mitgliedstatt der EU vollstreckbar sein. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
aa. Die Entscheidung des Bezirksgerichts Lublin erging in einem Sicherungsverfahren, entsprechend einem Verfahren der einstweiligen Anordnung nach §§ 49 ff FamFG. Sie erging ohne Anhörung des Antragsgegners. Eine Entscheidung nach Art. 20 EuEheVO hat grundsätzlich nur territoriale Wirkung, sodass sie in einem anderen Mitgliedstaat nicht nach den Art. 28 ff vollstreckbar ist (EuGH NJW 2010, 2861; BGH NJW 2011, 855), soweit sie nicht von dem für die Hauptsache zuständigen Gericht erlassen wurde (BGH NJW-RR 2011, 865), wobei wegen Art. 24 S. 1 EuEheVO entscheidend ist, dass das Gericht seine Zuständigkeit auf Art. 8 ff EuEheVO gestützt hat, nicht, ob es danach tatsächlich zuständig war (BGH NJW 2011, 855 Rn. 22).
bb. Vorliegend hat das polnische Gericht keine Rechtsgrundlagen angegeben, auf die es seine internationale Zuständigkeit gestützt hat. Aus dem Inhalt der Entscheidung ergibt sich zwar, dass das Kind seit dem 1.Oktober 2013 zusammen mit seiner Mutter seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen hat. Hierbei handelt es sich aber nur um eine Wiedergabe des Antrags der Antragstellerin im dortigen Verfahren. Die Entscheidungsgründe beginnen erst auf S. 2 Mitte und werden mit den Worten „Das Gericht hat wie folgend befunden:“ Im nachfolgenden Text werden lediglich polnische Rechtsvorschriften benannt, die den Erlass der Sicherungsverfügung rechtfertigen sollen. Damit ist nicht ersichtlich, dass das polnische Gericht seine internationale Zuständigkeit für den Erlass der Entscheidung auf Art. 8 ff EuEheVO gestützt hat.
cc. Damit handelt es sich allenfalls um eine Entscheidung eines nach Art. 20 EuEheVO für den Erlass einstweiliger Maßnahmen zuständigen Gerichts, auf die die Art. 21 ff EuEheVO nicht anzuwenden sind (BGH NJW 2011, 855 Rn. 14, 17). Dies steht aber der Anerkennung und Vollstreckung einer auf der Grundlage des Art. 20 EuEheVO ergangenen Maßnahme in anderen Mitgliedstaaten nicht von vornherein entgegen. Vielmehr handelt es sich bei Art. 20 EuEheVO um eine Öffnungsklausel. Während die EuEheVO grundsätzlich unter den in Art. 59 bis 63 der Verordnung genannten Voraussetzungen Vorrang vor den meisten einschlägigen internationalen Übereinkommen hat (EuGH FamRZ 2010, 1521 Rn. 69), lässt Art. 20 EuEheVO unter den dort genannten Voraussetzungen den Rückgriff auch auf an sich nachrangige Übereinkommen und gegebenenfalls auf das nationale Recht zu (a. A. Staudinger/Spellenberg, BGB, Art. 20 EuEheVO Rn. 63 für den Fall, dass die Entscheidung aus einem Mitgliedstaat der EuEheVO stammt, weil die VO Vorrang habe), vorausgesetzt also, dass die zu treffende Maßnahme dringlich war, einstweiligen Charakter hat und sich auf Personen oder Vermögensgegenstände bezieht, die sich in dem Mitgliedstaat befanden, in dem das mit der Sache befasste Gericht seinen Sitz hat (BGH aaO). Ist dies der Fall, so ergibt sich nicht nur die Zuständigkeit für einstweilige Maßnahmen unter den Voraussetzungen des Art. 20 EuEheVO aus den nachrangigen Übereinkommen und dem nationalen Recht, sondern es richtet sich auch die Anerkennung und Vollstreckung solcher Maßnahmen nach diesen Rechtsinstrumenten.
dd. Vorliegend kommt es darauf an, ob das polnische Gericht seine Zuständigkeit auf die Öffnungsklausel des Art. 20 EuEheVO stützen konnte. Dies ist zu bejahen, weil auf Grund des rechtswidrigen Verhaltens des Antragstellers, der das Kind in einem Akt der Selbstjustiz entführt und nach Deutschland verbracht hat, ein dringendes Regelungsbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Maßnahmen bestand, um die Rückführung des Kindes zur Antragstellerin anzuordnen. Das polnische Gericht hat damit über die Öffnungsklausel des Art. 20 EuEheVO Zuständigkeiten in Anspruch genommen, die aus gegenüber der EuEheVO nachrangigen nationalem Recht folgen.
ee. Da die Entscheidung des polnischen Gerichts nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften der EuEheVO ergangen ist, kommt eine Vollstreckbarerklärung der Entscheidung nach Art. 28 ff EuEheVO nicht in Betracht. Da aber die Voraussetzungen der Öffnungsklausel des Art. 20 EuEheVO, die eine Vollstreckbarerklärung in Anwendung anderer internationaler oder nationaler Rechtsvorschriften ermöglichen, erfüllt sind, ist zu prüfen, ob danach eine Vollstreckbarerklärung möglich ist. In Deutschland kommt eine Anerkennung einstweiliger Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts, die unter den Voraussetzungen von Art. 20 EuEheVO erlassen werden, vor allem nach Art. 23 KSÜ, Art. 7 Europäisches Sorgerechtsübereinkommen (ESÜ) und hilfsweise § 108 FamFG in Frage. Da Deutschland und Polen dem KSÜ angehören (vgl. Jayme/Hausmann, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, 17. Aufl., Nr. 53 Fn. 1), ist dieses Übereinkommen vorrangig zu prüfen.
Das KSÜ ist gem. Art. 2, 3 Buchst. b anzuwenden, da das Kind noch nicht 18 Jahre alt ist und die Entscheidung das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Teil der elterlichen Sorge betrifft.
Gem. Art. 26 I KSÜ kann eine Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats für vollstreckbar erklärt werden; hierauf ist gem. § 1 Nr. 2 IntFamRVG dieses Gesetz anzuwenden. Gem. Art. 26 III KSÜ darf die Vollsteckbarerklärung nur aus den in Art. 23 II KSÜ genannten Gründen versagt werden. Ein solcher liegt hier nicht vor.
11. Gem. Art. 23 II Buchst. a KSÜ besteht ein Versagungsgrund, wenn das Gericht für die Entscheidung nicht nach Maßgabe des Kapitels II des KSÜ international zuständig war.
(aa) Gem. Art. 5 KSÜ sind grds. die Gerichte des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes international zuständig.
Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ ist im KSÜ nicht definiert. Dessen Sinn und Bedeutung ist daher anhand des Ziels, das mit dem KSÜ erreicht werden soll, zu ermitteln ist, wonach die im KSÜ festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden. Der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes ist vom nationalen Gericht unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen ist. Neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Vertragsstaat sind andere Faktoren heranzuziehen, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Die Absicht der Eltern oder eines Elternteils, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung in diesem Mitgliedstaat, manifestiert, kann ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sein. Die Dauer des Aufenthalts im Rahmen der Beurteilung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls kann nur als Indiz dienen, wobei zu berücksichtigen ist, ob das Kind ein geringes Alter hat.
Danach hatte das Kind in Polen keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Die Eltern lebten und arbeiteten gemeinsam in Deutschland; in Augsburg war ihre gemeinsame Wohnung; das Kind ging bis zum 30.9.2013 in einen dortigen Kindergarten. Der Antragsgegner hat sich einem Aufenthaltswechsel des Kindes nach Polen widersetzt und einen Rückführungsantrag nach dem HKÜ gestellt. Die Antragstellerin ist unter Verletzung des Mitsorgerechts des Antragsgegners mit dem Kind am 30.9.2013 nach Polen gefahren. Bis zur Gerichtsentscheidung am 14.7.2014 hat die Antragsgegnerin bei ihren Eltern mit dem Kind gelebt. Anhand der Umstände lässt sich nicht feststellen, dass sich der Aufenthalt des Kindes sich bis zum 14.7.2014 zu einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes verfestigt hat. Hiergegen spricht insbesondere der entgegenstehende, nach außen durch die Antragstellung im HKÜ-Verfahren manifestierte Wille des Antragsgegners, da zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts neben dem Zeitmoment auch ein Umstandsmoment zu berücksichtigen ist. Dagegen spricht nicht, dass das Kind und die Eltern polnische Staatsangehörige sind, das Kind polnisch spricht und die Beteiligten aus Polen stammen und dort noch familiäre Beziehungen haben. Entscheidend ist, dass die Beteiligten sich für ein Leben in Deutschland entschieden hatten, auch wenn es nur befristet sein sollte. Hier war ihr gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt und Lebensmittelpunkt. Die Antragstellerin war nicht berechtigt, einseitig diese Vereinbarung aufzukündigen und ohne Entscheidung durch ein deutsches Gericht mit dem Kind nach Polen zu gehen.
(bb) Auch aus Art. 7 KSÜ folgt keine internationale Zuständigkeit der polnischen Gerichte für den Erlass der einstweiligen Maßnahme, denn das Kind hatte in Polen keinen gewöhnlichen Aufenthalt (s. o.).
(cc) Ein Übernahmeersuchen eines deutschen Gerichts an das polnische Gericht gem. Art. 8 KSÜ lag nicht vor. Auch hat das polnische Gericht nicht gem. Art. 9 KSÜ das deutsche Gericht ersucht, ihm zu gestatten, das Verfahren zu führen.
(dd) Eine Zuständigkeit nach Art. 10 KSÜ setzt voraus, dass neben der Anhängigkeit eines Scheidungsverfahrens der andere Elternteil die Zuständigkeit für das Sorgerechtsverfahren anerkennt. Hierfür fehlen Anhaltspunkte.
(ee) Jedoch war vorliegend eine Zuständigkeit nach Art. 11 KSÜ gegeben, der es ermöglicht, in Entführungsfällen Eilmaßnahmen zu erlassen (NK-BGB/Benicke, BGB, 2. Aufl., Art. 11 KSÜ Rn. 5). Die Eilzuständigkeit nach Art. 11 KSÜ setzt lediglich voraus, dass sich das Kind in dem Vertragsstaat, hier also Polen befindet, unabhängig davon, wo sein gewöhnlicher Aufenthalt ist. Es lag auch ein dringender Fall i. S. dieser Vorschrift vor. Dies ist dann der Fall, wenn zum Schutz des Kindes ein Einschreiten notwendig ist und nicht zu erwarten ist, dass das Gericht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen treffen würde (NK-BGB/Benicke, BGB, Art. 11 KSÜ Rn. 3). Diese Voraussetzungen lagen hier vor, da auf Grund des rechtswidrigen Verhaltens des Antragsgegners unverzüglich eingeschritten werden musste. Die Schutzmaßnahme ist noch in Kraft, weil bisher kein deutsches Gericht gem. Art. 11 II KSÜ i.V.m. Art. 5 KSÜ eine abweichende Maßnahme getroffen hat. Damit bestand für die Entscheidung eine internationale Zuständigkeit, sodass kein Anerkennungshindernis besteht.
22. Art. 23 II Buchst. b KSÜ steht der Anerkennung und Vollstreckung nicht entgegen. Unabhängig davon, dass das Kind zu klein ist, um angehört zu werden, kann auf eine Kindesanhörung in dringenden Fällen verzichtet werden.
33. Auch Art. 23 II Buchst. c KSÜ steht einer Anerkennung und Vollstreckung nicht entgegen. Zwar wurde der Antragsgegner vor Erlass der Entscheidung vom 14.7.2014 unstreitig nicht angehört, aber zum einen stellt dies in dringenden Fällen - wie dem vorliegenden - kein Anerkennungshindernis dar, zum anderen hat der Antragsgegner nach dem unbestritten Vortrag der Antragstellerin nach Erlass der Entscheidung Rechtsmittel gegen die Entscheidung vom 14.7.2014 eingelegt, wodurch eine etwaige Verletzung des rechtlichen Gehörs geheilt worden ist.
Da somit kein Anerkennungshindernis besteht, ist gem. Art. 26 I KSÜ der Beschluss des Bezirksgerichts Lublin für vollstreckbar zu erklären und gem. Art. 26 II KSÜ i. V. m. § 20 I IntFamRVG mit der Vollstreckungsklausel zu versehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 20 II IntFamRVG i. V. m. § 81 I, II Nr. 1 FamFG. Es entspricht billigem Ermessen, dass der Antragsgegner die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, weil er durch sein rechtswidriges Verhalten durch Ausübung von Selbstjustiz das vorliegende Verfahren provoziert hat.
4. Die sofortige Wirksamkeit ist gem. § 27 II IntFamRVG anzuordnen, da durch das rechtswidrige Verhalten des Antragsgegners dem polnischen Gericht die Möglichkeit genommen wurde, über das Sorgerecht zu entscheiden und der ursprüngliche Zustand so schnell wie möglich wieder herzustellen ist. Hierdurch wird nicht das Wohl des Kindes beeinträchtigt, weil es zur Antragstellerin durch den angeordneten Umgang Kontakt hat.
5. Die Entscheidung über die Verfahrenskostenhilfe beruht auf § 14 IntFamRVG i. V.m. § 76 I FamFG, §§ 114, 115 ZPO; die Beiordnung beruht auf § 78 II FamFG.