Landgericht Kiel Beschluss, 09. Nov. 2012 - 10 Qs 53/12
Gericht
Tenor
Es wird festgestellt, dass der Erlass des Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO und dessen Vollstreckung rechtwidrig waren.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Staatskasse.
Gründe
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Die vom Beschwerdeführer am 07.09.2012 eingelegte Beschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts … hat sich zwar dadurch prozessual überholt, dass der Verurteilte am 18.09.2012 zu einer Bewährungsstrafe unter Aufhebung des Haftbefehls verurteilt worden ist.
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Das hat zur Folge, dass die Beschwerde zur Feststellung der Rechtswidrigkeit einer durch Vollzug oder auf andere Weise erledigten richterlichen Anordnung oder die Weiterführung des Verfahrens zu diesem Zweck grundsätzlich unzulässig ist. Hierfür gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch Ausnahmen im Falle eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs, so auch bei einer (zwischenzeitlich erledigten) Freiheitsentziehung aufgrund eines vollstreckten Haftbefehls.
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Die Beschwerde hat in der Sache Erfolg und führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des Eingriffs, weil die Voraussetzungen für den Erlass des Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO und dessen Vollstreckung nicht vorlagen.
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Der seinerzeitige Angeklagte war in dem ursprünglich anberaumten Hauptverhandlungstermin vom 22.08.2012 nicht erschienen und hatte sein Ausbleiben auch nicht entschuldigt. Damit sind die Voraussetzungen für die Festsetzung von Zwangsmitteln nach § 230 Abs. 2 StPO gegeben.
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Ein Eingriff in die persönliche Freiheit kann jedoch nur hingenommen werden, wenn und soweit der legitime Anspruch des Staates auf vollständige Aufklärung der Tat und auf rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann. Dieser Grundsatz gilt auch für den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO. Als Mittel, die Anwesenheit des Angeklagten in einem neuen Verhandlungstermin sicherzustellen, sieht § 230 Abs. 2 StPO in erster Linie die Anordnung der Vorführung vor. Erst in zweiter Linie kann der stärker in die persönliche Freiheit eingreifende Haftbefehl in Frage kommen (BVerfG NJW 2007, 2318).
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Im vorliegenden Fall ist die Verhältnismäßigkeit des erlassenen Haftbefehls unter Zugrundelegung der o.a. Maßstäbe jedoch nicht ausreichend geprüft worden. Zwar ist in dem amtsgerichtlichen Beschluss zutreffend ausgeführt worden, dass eine polizeiliche Vorführung am 22.082012 infolge der vorgerückten Terminsstunde und der Entfernung zum Wohnort des Angeklagten nicht (mehr) möglich war. Die daraus gezogene weitere Folgerung, dass damit der Haftgrund des § 230 Abs. 2 StPO gegeben sei, ist jedoch in dieser Form unzutreffend.
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Die Fahrtzeit vom Wohnort des Angeklagten zum Gerichtsort beträgt etwa zwei Stunden. Zu einem neu anzuberaumenden Termin wäre eine polizeiliche Vorführung damit grundsätzlich möglich und auch praktisch durchführbar gewesen. Offenbar ist aber keinerlei Versuch unternommen worden, ein solches Vorgehen mit der für den Wohnort zuständigen Polizeidienststelle abzuklären. Dabei wäre auch in Betracht zu ziehen gewesen, dass für die Vollstreckung des Vorführbefehls die Grenze des § 135 Satz 2 StPO gilt und somit eine Ingewahrsamnahme durch die Polizei auch bereits am Vortag der Hauptverhandlung gestattet ist. Dadurch hätten u.U. auch Belange der Zeugen ausreichend berücksichtigt werden können. Das Amtsgericht hätte danach die Möglichkeit eines Vorführbefehls als milderes Mittel näher in Betracht ziehen müssen, anstatt sie von vornherein als „unpraktikabel“ zu verwerfen.
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Hinzu kommt, dass die Frage einer Haftverschonung nach Ergreifung des Angeklagten ohne nähere Begründung abgelehnt worden ist. Der Kammer ist aus eigener Erfahrung bekannt, dass ein Inhaftierter durch diese Maßnahme, mit der er die Konsequenzen eines unentschuldigten Fernbleibens deutlich zu spüren bekommt, häufig bereits derart beeindruckt ist, dass im Falle einer Verschonung die begründete Erwartung besteht, er werde zu einem erneuten Termin auch erscheinen. Auch hier ist die Kammer der Auffassung, dass die sofortige Vollstreckung des Haftbefehls für einen erst zwei Wochen später stattfindenden neuen Hauptverhandlungstermin gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstößt, wenn die Frage einer möglichen Verschonung ohne nähere Begründung und ohne persönliche Anhörung des Angeklagten abgelehnt wird.
Annotations
Der Beschuldigte ist unverzüglich dem Richter vorzuführen und von diesem zu vernehmen. Er darf auf Grund des Vorführungsbefehls nicht länger festgehalten werden als bis zum Ende des Tages, der dem Beginn der Vorführung folgt.