Landgericht Berlin Beschluss, 21. Nov. 2022 - 534 Qs 80/22

bei uns veröffentlicht am20.04.2023
Zusammenfassung des Autors

Die Aktivisten der Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" haben am 05.10.2022 auf einer Berliner Kreuzung den Verkehr lahm gelegt.

Einer dieser Aktivistinnen droht nun die Veruteilung wegen Nötigung (§ 240 Abs. 1 und 2 StGB) in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte  (§ 113 Abs. 1 und 2 StGB).

Die Aktivistin soll sich auf die Straße gesetzt und ihre rechte Hand mit Sekundenkleber auf die Fahrbahn geklebt haben, um die anstehende Räumung der Straßenblockade durch Vollstreckungsbeamte zu erschweren.

Die von der Staatsanwaltschaft Berlin geforderte Eröffnung des Hauptverfahrens scheiterte zunächst. Nach Ansicht des Amtsgericht Tiergarten ist ein hinreichender Verdacht einer Nötigung nicht gegeben.

Jetzt hat das Landgericht Berlin den Beschluss des Amtsgericht Tiergarten auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin, aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Streifler&Kollegen - Rechtsanwälte Berlin

LANDGERICHT BERLIN

 

Beschluss vom 21.11.2022

Az.: 534 Qs 80/22

Tenor

Der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 05.10.2022 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

Die gemäß § 210 Abs. 2 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin ist begründet.

Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Tiergarten ist die Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig, sodass nach § 203 StPO die Eröffnung des Hauptverfahrens anzuordnen ist. Nach Aktenlage besteht die erforderliche Wahrscheinlichkeit, dass die Angeschuldigte wegen Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 und 2 StGB in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 und 2 StGB verurteilt werden wird.

Der Angeschuldigten wird vorgeworfen, sich am ... in der Zeit von ca. 8:00 Uhr bis 09:16 Uhr im Rahmen der Straßenblockade der Gruppierung „Aufstand der letzten Generation“ auf die Fahrbahn der Kreuzung ... in ... Berlin ... gesetzt zu haben, um die auf der betreffenden Straße befindlichen Fahrzeugführenden bis zur Räumung der Blockade durch Polizeivollzugsbeamte an der Fortsetzung ihrer Fahrt zu hindern. Zudem soll die Angeschuldigte ihre rechte Hand mit Sekundenkleber auf die Fahrbahn geklebt und dadurch die von ihr erwarteten polizeilichen Maßnahmen zur Räumung der Blockade erschwert haben.

Der hinreichende Tatverdacht einer Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 und 2 StGB liegt vor.

Eine Straßenblockade stellt Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB dar. Das Nötigungsmittel der Gewalt setzt eine körperliche Tätigkeit voraus, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um einen geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Dem Bestimmtheitsgebot des Artikel 103 Abs. 2 GG folgend setzt das Vorliegen von Gewalt mindestens physisch ausgeübten und psychisch wirkenden Zwang voraus. Nach der Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 20.07.1995 - 1 StR 126/95) errichten Demonstranten bei einer Straßenblockade für die in der ersten Reihe haltenden Fahrzeugführer zwar nur ein psychisch wirkendes Hindernis, das nicht als Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB zu werten ist. Alle nachfolgenden ebenfalls an der Weiterfahrt gehinderten Fahrer werden jedoch durch unüberwindbare physische Hindernisse, nämlich die Fahrzeuge vor und hinter ihnen, an der Weiterfahrt gehindert.

Der von der Angeschuldigten angestrebte Nötigungserfolg, der temporären Stilllegung des Verkehrs, ist durch die Blockade eingetreten. Auch lag ein entsprechender Vorsatz der Angeschuldigten vor.

Darüber hinaus handelte die Angeschuldigte rechtswidrig. § 240 Abs. 2 StGB legt fest, dass die Tat rechtswidrig ist, wenn die Anwendung der Gewalt zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Hier ist eine umfassende Gesamtwürdigung vorzunehmen, wobei grundgesetzlich geschützte Rechtspositionen von besonderer Bedeutung sind. Vorliegend kommt zwar der in Artikel 8 Abs. 1 GG verankerten Versammlungsfreiheit der Angeschuldigten sowie der weiteren Aktionsteilnehmer besondere Bedeutung zu. Hierbei haben aber Fernziele der Aktivisten außer Betracht zu bleiben. Ebenso findet keine Bewertung ihres Anliegens statt. Bewertungsmaßstab sind hingegen Art und Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte, Dauer und Intensität der jeweiligen Aktion sowie insbesondere auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand (BVerfG, Beschluss vom 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90). Angesichts der Vielzahl der an der Weiterfahrt gehinderten Personen, der fehlenden konkreten Ankündigung der Aktion unter Nennung von genauer Zeit und Ort und des Umstandes des Fehlens eines konkreten Sachbezuges zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Autofahrern und dem Protestgegenstand stellt sich die vorliegende Blockadeaktion als verwerflich dar. Die Versammlungsfreiheit der Protestierenden tritt demgegenüber zurück. Ein Recht, im Rahmen von Verkehrsbehinderungen durch Sitzblockaden und Instrumentalisierung Dritter öffentliche Aufmerksamkeit zu erzwingen, besteht nicht (BGH, NStZ 1988, 362 f.).

Zudem besteht auch der hinreichende Tatverdacht eines Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB.

Die tatbestandsmäßige Widerstandshandlung kann in jedem gegen die Vollstreckungsbeamten gerichteten Verhalten bestehen, das zumindest subjektiv geeignet erscheint, die Durchführung der Vollstreckungsmaßnahme zu vereiteln oder mindestens zu erschweren, wobei Gewalt im Sinne dieser Vorschrift eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftäußerung erfordert, die gegen die Person des Vollstreckenden gerichtet ist. Das Festkleben auf der Fahrbahn stellt gegenüber den Polizeibeamten eine durch den Sekundenkleber bewirkte Kraftäußerung der Angeschuldigten dar, die das Wegtragen der Angeschuldigten durch die eingesetzten Polizeibeamten erschwerte, da die Beschaffung eines Lösungsmittels sowie dessen vorsichtige Anwendung durch die Beamten zur Vermeidung einer Verletzung der zu lösenden Hand erforderlich war, wenngleich der Lösungsvorgang nur ca. zehn Minuten andauerte. An der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung der vor Ort tätig gewordenen Polizeibeamten besteht keinerlei Zweifel.

Die Ausführungen der Angeschuldigten hinsichtlich ihrer Motivation zu den ihr vorgeworfenen Taten vermögen den hinreichenden Tatverdacht nicht zu beseitigen und insbesondere keinen rechtfertigenden Notstand gemäß § 34 StGB zu begründen.

Da die Kammer selbst nicht befugt ist, einen Strafbefehl zu erlassen, war der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung zurückzuverweisen (vgl. BeckOK StPO/Temming, 42. Edition Stand 01.01.2022, § 408 Rn. 8). Vorliegend ist eine unvoreingenommene Verhandlung nur vor einem anderen Spruchkörper zu erwarten, da aufgrund der umfangreichen Ausführungen in dem Beschluss vom 05.10.2022 zu besorgen ist, dass das Ausgangsgericht die dem Nichteröffnungsbeschluss zu Grunde liegende Bewertung so verinnerlicht hat, dass es selbst von der anderslautenden Beschwerdeentscheidung nicht mehr zu überzeugen ist (vgl. BeckOK StPO/Ritscher, ebd., § 210 Rn. 10).

Aufgrund dessen, dass die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin zur Aufhebung des Beschlusses mitsamt der Kostenentscheidung und zur Zurückverweisung zu einer neuen Entscheidung führt, ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst. Die Kosten des zuungunsten der Angeschuldigten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gehören zu den Verfahrenskosten, die die Angeschuldigte im Falle ihrer Verurteilung durch Strafbefehl oder durch Urteil nach einer Hauptverhandlung nach § 465 StPO zu tragen hat. Eine Entlastung von ihren notwendigen Auslagen kommt insoweit nicht in Betracht (vgl. LG Ingolstadt, Beschluss vom 07.04.2022 - 2 Qs 40/22 m.w.N.).

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