Bundesgerichtshof Beschluss, 29. Juni 2000 - IX ZB 23/97
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Der Antrag des Gläubigers, das Urteil des Schwurgerichts Paris - 3. Abteilung - vom 13. März 1995 (Aktenzeichen Nr. 2556/92, Strafsache Nr. 930031), durch das der Schuldner zur Zahlung von FF 350.000 an den Gläubiger verurteilt worden ist, für in Deutschland vollstreckbar zu erklären, wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens fallen dem Gläubiger zur Last.
Gründe:
I.
Die 1967 geborene eheliche Tochter des Gläubigers - K. B. - lebte eine Zeitlang beim Schuldner in der Bundesrepublik Deutschland. Der Schuldner, ein Arzt, gab ihr dort am 9. Juli 1982 eine Kobalt-Ferrlecit-Injektion. Das Mädchen , das französische Staatsangehörige war, starb tags darauf. Der Schuldner behauptet, die Spritze sei medizinisch geboten und der Tod nicht voraussehbar gewesen. Gegen ihn wurde in Deutschland ein vieljähriges Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Tötungshandlung geführt, aber zuletzt - auch nach gerichtlicher Überprüfung (§§ 172 bis 174 StPO) - mangels Beweises eingestellt.
Auf eine Strafanzeige des Gläubigers hin wurde gegen den Schuldner vor dem Schwurgericht Paris eine Anklage wegen vorsätzlicher Tötung erhoben. Mit der Anklage wurde dem Schuldner am 5. Juni 1993 in Deutschland die damit zugleich erhobene Zivilklage des Gläubigers zugestellt. Das französische Gericht ordnete das persönliche Erscheinen des Schuldners an und erließ gegen ihn einen Haftbefehl zur Erzwingung seiner Anwesenheit in der Hauptverhandlung vom 9. und 13. März 1995. Zu dieser Hauptverhandlung kam der Schuldner nicht selbst nach Paris; für ihn erschienen aber ein französischer und ein deutscher Rechtsanwalt. Das Schwurgericht Paris untersagte ihnen, in Abwesenheit des Schuldners für diesen aufzutreten, und erklärte die von ihnen vorgelegten Verteidigungsschriften für unzulässig.
Der Schuldner wurde in Abwesenheit wegen vorsätzlicher gewaltsamer Nötigung, die - ohne daß dies seiner Absicht entsprochen hätte - den Tod der K. B. herbeigeführt habe, zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 13. März 1995 verurteilte das Schwurgericht den Schuldner in Abwesenheit weiter, an den Gläubiger 350.000 FF (250.000 FF als Wiedergutmachung für immaterielle Schäden und 100.000 FF gemäß Artikel 375 der früheren französischen Strafprozeßordnung - CPP) zu zahlen. Der Gläubiger hatte diese Anträge durch einen Rechtsanwalt gestellt.
Auf Antrag des Gläubigers hat der Vorsitzende einer Zivilkammer des zuständigen Landgerichts Kempten (Allgäu) angeordnet, das Urteil des Schwurgerichts Paris vom 13. März 1995 mit der Vollstreckungsklausel zu versehen. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde rügt der Schuldner vor allem, er habe sich gegen seine Verurteilung in Paris nicht wirksam verteidigen können.
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Nach Artikel 27 Nr. 1 in Verbindung mit Artikel 34 Abs. 2 EuGVÜ wird eine Entscheidung nicht für vollstreckbar erklärt, wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde.
1. Das Schwurgericht Paris hat die Rechtsanwälte, die in der Verhandlung für den Schuldner auftreten wollten, auf der Grundlage des Artikels 630 Satz 1 CPP zurückgewiesen. Danach darf kein Verteidiger für einen Angeklagten im Abwesenheitsverfahren gemäß Artikel 627 ff CPP auftreten. Das Schwurgericht hat sodann die Schuld des Angeklagten (Schuldners) ohne Berücksichtigung seiner Einlassung ausgesprochen und den Entschädigungsbetrag für immaterielle Schäden einseitig aufgrund der Angaben des Adhäsionsklägers (Gläubigers) festgestellt. Es geht also - entgegen der Ansicht des Gläubigers - nicht allein darum, daß der Schuldner nicht vor dem französischen Gericht erschienen ist. Vielmehr hat er versucht, sich verteidigen zu lassen; dies wurde ihm verwehrt.
2. Die Vollstreckbarerklärung eines so zustande gekommenen Versäumnisurteils verletzt die deutsche öffentliche Ordnung. Eine in Deutschland verklagte Partei darf sich in jeder Lage eines Zivilverfahrens durch einen Rechtsanwalt mit der Wirkung vertreten lassen, daß sie nicht säumig ist. Zwar kann in gewissen, eng begrenzten Fällen eine erstinstanzliche Hauptverhandlung in einer Strafsache auch ohne Anwesenheit des Angeklagten stattfinden; er ist nach § 234 StPO jedoch stets befugt, sich durch einen bevollmächtigten Verteidiger vertreten zu lassen. Das gilt zugleich gegenüber einem im Adhäsionsverfahren geltend gemachten Entschädigungsantrag des Verletzten (vgl. § 404 Abs. 5 Satz 2 StPO).
Artikel 103 Abs. 1 GG schreibt vor, daß vor einem deutschen Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Regelmäßig ist auch jeder befugt , dieses Recht durch einen Rechtsanwalt auszuüben (vgl. BVerfGE 7, 53,
57 f). Insbesondere im Strafverfahren darf der Angeklagte sich durch einen Verteidiger seines Vertrauens verteidigen lassen (BVerfGE 66, 313, 318 f). Soweit der Rechtsanwalt das Recht auf Gehör für seine Partei ausübt, ist er es, den das Gericht auf jeden Fall durchgängig am Verfahren zu beteiligen hat; wird dieses nicht beachtet, so ist grundsätzlich Artikel 103 Abs. 1 GG verletzt (Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG Artikel 103 Rdnr. 108). Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet auch, daß das entscheidende Gericht die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muß (BVerfGE 53, 219, 222; 60, 247, 249; 70, 215, 218, jeweils m.w.N.). Das Gericht darf nicht Vortrag unberücksichtigt lassen, der ihm in der anberaumten Verhandlung unterbreitet wird.
Die Beachtung der Grundrechte gehört zum Inhalt der deutschen öffentlichen Ordnung. Nach der Sachlage ist auch nicht auszuschließen, daß das Schwurgericht Paris über den Schadensersatzanspruch anders entschieden hätte, wenn es bei seiner Entscheidung die Verteidigung des Schuldners berücksichtigt hätte. Dieser behauptet, die Injektion sei medizinisch geboten gewesen , und bestreitet insbesondere den - in die "conclusions" für das Schwurgericht aufgenommenen - Vorwurf des Gläubigers, daß der Schuldner sich zuvor an dem Mädchen sexuell vergangen habe.
3. Der dargestellte Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung darf im Rahmen des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ berücksichtigt werden. Auf die Vorlage des erkennenden Senats hat der Europäische Gerichtshof (Rechtssache C-7/98, Urt. v. 28. März 2000 - NJW 2000, 1853 f) entschieden:
Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf im Rahmen der Ordre-PublicKlausel des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ im Fall eines Beklagten, der seinen
Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat und wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat angeklagt worden ist, berücksichtigen, daß das Gericht des Ursprungsstaats diesem das Recht versagt hat, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich zu erscheinen. Der Berücksichtigung steht auch Art. II Abs. 1 des Protokolls vom 27. September 1968 zum EuGVÜ nicht entgegen. Diese Vorschrift gewährleistet zwar das Recht, sich ohne persönliches Erscheinen vor den Strafgerichten eines Vertragsstaats verteidigen zu lassen, auswärtigen Personen nur dann ausdrücklich, wenn sie wegen einer fahrlässig begangenen Straftat verfolgt werden. Sie kann aber nicht dahin ausgelegt werden, daß sie bei der Strafverfolgung wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat die Anwendung der Ordre -Public-Klausel des Art. 27 Nr. 1 EuGVÜ wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs hindert (Urt. des Europäischen Gerichtshofs aaO unter Nr. 44).
Danach kann das französische Urteil, das unter Verletzung des rechtlichen Gehörs des Schuldners ergangen ist, in Deutschland nicht anerkannt werden.
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Soweit die Hauptverhandlung ohne Anwesenheit des Angeklagten stattfinden kann, ist er befugt, sich durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten zu lassen.
(1) Der Antrag, durch den der Anspruch geltend gemacht wird, kann schriftlich oder mündlich zu Protokoll des Urkundsbeamten, in der Hauptverhandlung auch mündlich bis zum Beginn der Schlußvorträge gestellt werden. Er muß den Gegenstand und Grund des Anspruchs bestimmt bezeichnen und soll die Beweismittel enthalten. Ist der Antrag außerhalb der Hauptverhandlung gestellt, so wird er dem Beschuldigten zugestellt.
(2) Die Antragstellung hat dieselben Wirkungen wie die Erhebung der Klage im bürgerlichen Rechtsstreit. Sie treten mit Eingang des Antrages bei Gericht ein.
(3) Ist der Antrag vor Beginn der Hauptverhandlung gestellt, so wird der Antragsteller von Ort und Zeit der Hauptverhandlung benachrichtigt. Der Antragsteller, sein gesetzlicher Vertreter und der Ehegatte oder Lebenspartner des Antragsberechtigten können an der Hauptverhandlung teilnehmen.
(4) Der Antrag kann bis zur Verkündung des Urteils zurückgenommen werden.
(5) Dem Antragsteller und dem Angeschuldigten ist auf Antrag Prozeßkostenhilfe nach denselben Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zu bewilligen, sobald die Klage erhoben ist. § 121 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung gilt mit der Maßgabe, daß dem Angeschuldigten, der einen Verteidiger hat, dieser beigeordnet werden soll; dem Antragsteller, der sich im Hauptverfahren des Beistandes eines Rechtsanwalts bedient, soll dieser beigeordnet werden. Zuständig für die Entscheidung ist das mit der Sache befaßte Gericht; die Entscheidung ist nicht anfechtbar.