Bundesgerichtshof Beschluss, 27. März 2007 - 5 StR 491/06

bei uns veröffentlicht am27.03.2007

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 491/06

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 27. März 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. März 2007

beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder vom 1. Juni 2006 nach § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit der ausgeführten Sachrüge. Das Rechtsmittel hat im Strafausspruch Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Zur Sache hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:
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Im Jahre 1985 heiratete die Angeklagte O. H. , mit dem sie bereits eine einjährige Tochter hatte. Kurze Zeit später gebar sie ihr zweites Kind, den Sohn I. , und ein Jahr später den Sohn D. . Der Ehemann der Angeklagten, der nur ein Kind gewollt hatte, war über die Geburt des zweiten Kindes verärgert, zumal seine Frau ihm wahrheitswidrig erklärt hatte, dass sie die „Antibabypille“ nehme. Anlässlich der Schwangerschaft und der Geburt des dritten Kindes machte er seiner Frau heftige Vorwürfe. Für die Angeklagte stand nun endgültig fest, dass ihr Ehemann auf keinen Fall weitere Kinder haben wollte. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten war inzwischen merklich abgekühlt. Es kam zwar noch zu sexuellen Kontakten; darüber hinaus gab es – von den Kindern abgesehen – so gut wie keine persönlichen Berührungspunkte mehr. Die Angeklagte litt unter der verschlossenen und wortkargen Wesensart ihres Ehemannes.
4
Im Jahre 1988 wurde die Angeklagte erneut schwanger, was sie ihrem Ehemann nicht zu offenbaren wagte. Sie hoffte vergeblich, er werde die Schwangerschaft bemerken. In einer Nacht im September 1988 brachte sie auf der Toilette der ehelichen Wohnung das Kind zur Welt. Sie wickelte es in ein Handtuch, setzte sich mit dem Säugling ins Wohnzimmer und trank eine Flasche Wein. Das zwischenzeitlich infolge mangelnder Versorgung verstorbene Baby packte sie in einen Müllsack, den sie in ein mit Sand gefülltes Aquarium auf dem Balkon legte.
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In den nachfolgenden Jahren sprach die Angeklagte immer stärker dem Alkohol zu. Gespräche mit ihrem Mann fanden so gut wie nicht mehr statt. Die Angeklagte trank auch, um die Geburt und das Vergraben des Kindes zu vergessen. Am 5. Mai 1992 gebar die Angeklagte während eines Fortbildungslehrgangs in einer Pension einen lebenden Jungen. Auch dieses Kind starb, weil es nicht versorgt wurde. Die Angeklagte packte es in eine Reisetasche und fuhr nach Hause. Dort angekommen, trank sie zwei bis drei Flaschen Wein und vergrub das Kind in einer Plastikbadewanne auf dem Balkon.
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In der Folgezeit nahm der Alkoholkonsum der Angeklagten weiter kontinuierlich zu; an manchen Tagen trank sie bis zu drei Flaschen klaren Schnaps. Obwohl die Ehe immer schwieriger wurde, kam es in unregelmäßi- gen Abständen zum Geschlechtsverkehr zwischen den Eheleuten. Die Angeklagte wurde noch sieben weitere Male schwanger und brachte – von ihrer Umwelt unbemerkt – noch sieben lebende Kinder auf die Welt, die sie ebenfalls unversorgt sterben ließ. Sie verschwieg diese Schwangerschaften nicht nur ihrem Ehemann, sondern auch ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Wurde sie wegen ihres Leibesumfangs auf eine mögliche Schwangerschaft angesprochen, stritt sie dies energisch ab und begründete ihre körperliche Veränderung mit verschiedenen Krankheiten. Bei keiner der Schwangerschaften suchte sie einen Gynäkologen auf; sie befürchtete, er könne die vorangegangenen Schwangerschaften feststellen und nach dem Verbleib der Kinder fragen. Aus Angst vor Entdeckung ihrer Taten flüchtete sie sich immer mehr in den Alkohol. Sie hatte auch Angst, dass im Falle einer Ehescheidung die Kinder S. , I. und D. , denen sie eine gute Mutter war, ihrem Mann zugesprochen würden.
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Bei der Geburt eines weiteren Kindes im Frühjahr 1993 begann die Angeklagte nach dem Einsetzen der Wehen Alkohol zu trinken. Auch dieses Kind ließ sie nach der Geburt unversorgt liegen und vergrub es in einem Behälter auf dem Balkon. In derselben Weise verfuhr sie mit den bis Ende 1998 geborenen sechs Kindern, die sie alle in Tüchern oder Plastiktüten in Behältern auf dem Balkon, die sie bepflanzte, verbarg. Auch in diesen Fällen hatte sie zu Beginn des Geburtsvorgangs intensiv dem Alkohol zugesprochen. Bis zur Aufdeckung der Taten im Jahre 2004 beließ die Angeklagte die Kinderleichen in den Balkonkästen, die sie sogar nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung zwischenlagerte.
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Inzwischen sind die Eheleute geschieden. Im September 2003 bekam die Angeklagte von einem anderen Mann eine Tochter.
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Das Landgericht hat die Taten der Angeklagten – die Tat aus dem Jahre 1988 war verjährt (anknüpfend an DDR-Tatzeitrecht) – als acht Fälle des Totschlags durch Unterlassen bewertet, wobei es weder besonders schwere noch minder schwere Fälle angenommen hat. Dass Unterlassungstaten vorliegen, hat sie nicht strafmildernd bewertet, weil hier das Unterlassen im Vergleich zum aktiven Tun nicht leichter wiege. Sachverständig beraten hat die Strafkammer angenommen, dass die überdurchschnittlich intelligente und leistungsfähige Angeklagte bei keiner der Taten in ihrer Einsichtsoder Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei.
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2. Der Schuldspruch wegen Totschlags in acht Fällen hält rechtlicher Überprüfung stand. So beruht die Feststellung, alle von der Angeklagten im Tatzeitraum geborenen Kinder seien lebend zur Welt gekommen, auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung.
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Zwar ermöglichten die aus den Obduktionen im Einzelnen gewonnenen Erkenntnisse aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr die Feststellung der jeweiligen konkreten Todesursachen bei den acht gefundenen Leichen. Hinsichtlich des im Jahre 1992 geborenen Kindes hat sich die Strafkammer jedoch tragfähig auf die für glaubhaft erachteten früheren Angaben der Angeklagten gestützt, wonach das Kind nach der Geburt „gewimmert“ habe. Die Überzeugung, auch die weiteren sieben Kinder hätten zunächst gelebt, gründet sich auf eine Gesamtwürdigung der ermittelten Indizien. Hierzu zählt das Landgericht, dass die Angeklagte 1984, 1985, 1986 und 2003 gesunde Kinder geboren hatte und, dass die 1988 und 1992 geborenen Kinder ebenfalls lebend zur Welt gekommen sind. Weiter stützt sich die Strafkammer auf die Erkenntnisse des medizinischen Sachverständigen zum Entwicklungsstand sämtlicher Neugeborener und erwähnt abschließend in diesem Zusammenhang die früheren Angaben der Angeklagten, sie habe ihre Kinder getötet. Der unter Berücksichtigung der statistischen Wahrscheinlichkeit für eine Totgeburt auf dieser Tatsachenbasis von der Strafkammer gezogene Schluss auf die Vitalität aller Kinder ist möglich – sogar naheliegend – und damit revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
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Da sich das Landgericht mit der erforderlichen Sicherheit davon überzeugt hat, dass die Kinder lebend zur Welt kamen, war für die von der Revision vermisste Anwendung des Zweifelssatzes kein Raum mehr. Auch musste sich das Urteil nicht ausdrücklich mit den von der Revision aufgezeigten „Sachverhaltsvarianten“ auseinandersetzen. Sie führen bereits zu keiner der Angeklagten günstigeren Beurteilung der Strafbarkeit. Weder das Ertrinken oder Ersticken im Toilettenbecken noch eine eintretende Atemlähmung – die nach den Urteilsfeststellungen bei einem während der Schwangerschaft mit Alkohol belasteten und nach der Geburt unversorgt bleibenden Säugling schneller als bei einem unbelasteten Kind auftritt – stellen Todesursachen dar, die bei Vornahme der gebotenen Handlung durch die Mutter eingetreten wären oder bei deren Vorliegen der Tötungsvorsatz anzuzweifeln wäre.
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3. Soweit allerdings das sachverständig beratene Schwurgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit der Angeklagten verneint und sie bei allen Taten für strafrechtlich voll verantwortlich gehalten hat, kann das Urteil keinen Bestand haben.
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a) In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen hat das Gericht hierzu festgestellt, dass es sich bei der Angeklagten um eine unreife Persönlichkeit mit einem Selbstwertdefizit und abhängigen Persönlichkeitszügen, Orientierungslosigkeit, Realitätsverlust und dissozialem Aktionismus handelt. Bei Vorliegen äußerlich strukturierender Rahmenbedingungen, wie sie während der Ehe gegeben waren, führten Selbstwertdefizit, abhängige Persönlichkeitszüge und Orientierungsschwäche zu einer „geradezu masochistisch imponierenden verharrenden Haltung“. Die Strafkammer hat hierzu indes auf die als überzeugend angesehenen Ausführungen des Sachverständigen verwiesen, wonach diese Persönlichkeitsbesonderheiten „nicht als erhebliche Beeinträchtigung des Erlebens und sich Verhalten-könnens“ zu bewerten seien. Ohne weitere Begründung hat es eine „psychopathologisch relevante Fehlentwicklung bzw. eine psychiatrisch relevante Persönlichkeitsstörung“ verneint. Eine Einschränkung der Schuldfähigkeit ergebe sich schließlich auch nicht aus dem Alkoholmissbrauch der Angeklagten. Denn die Angeklagte sei nach der Geburt der Kinder jeweils noch in der Lage gewesen, die Spuren der Geburt gründlich zu beseitigen und die Leichen zu begraben. Diese komplexen Handlungen, die schnell und unauffällig hätten geschehen müssen, habe sie stets sorgfältig ausgeführt. Eine derart rasche und effektive Spurenbeseitigung spreche für die uneingeschränkte Schuldfähigkeit der Angeklagten bei allen Taten.
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b) Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand. Die im Anschluss an den Sachverständigen getroffene Annahme, bei der Angeklagten liege schon deshalb keine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB vor, weil sie an keiner Persönlichkeitsstörung leide, entbehrt einer nachvollziehbaren und damit revisionsgerichtlicher Kontrolle zugänglichen Begründung.
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Zwar ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass schon aus psychiatrischer Sicht das Vorliegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB auszuschließen sein wird, wenn der oder die Betroffene Persönlichkeitszüge aufweist, die nur auf ein unangepasstes Verhalten oder auf eine akzentuierte Persönlichkeit hindeuten und die Schwelle einer Persönlichkeitsstörung nicht erreichen (BGHSt 49, 45, 52). Die Ausführungen, mit denen die Annahme einer Persönlichkeitsstörung verneint wird, lassen jedoch die hierzu erforderliche Gesamtschau der Persönlichkeit der Angeklagten und ihrer Entwicklung wie auch der Taten selbst und des Nachtatgeschehens (BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29; BGH, Beschluss vom 31. März 2004 – 5 StR 351/03) vermissen.
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Angesichts der zahlreichen Auffälligkeiten wäre eine eingehendere Prüfung und Erörterung, ob bei der Angeklagten eine schwere andere seelische Abartigkeit aufgrund einer Persönlichkeitsstörung vorliegt, geboten gewesen. Anlass hierzu hätte aufgrund des von der Strafkammer nach sachverständiger Beratung gezeichneten auffälligen Persönlichkeitsbildes der Angeklagten (oben 3 a) bestanden. Anhand der Urteilsgründe lässt sich nicht nachvollziehen, ob der Sachverständige die Persönlichkeitszüge mit den Kriterien der Klassifikationssysteme von ICD-10 oder DSM-IV-TR zur Diagnose von Persönlichkeitsstörungen differentialdiagnostisch abgeglichen hat und gegebenenfalls woran eine Einordnung unter ein dort bezeichnetes Störungsbild gescheitert ist, bzw. woran sich gezeigt hat, dass die definierenden Merkmale für eine solche Störung nicht stark genug ausgeprägt waren.
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In die Bewertung der „Persönlichkeitsbesonderheiten“ hätte insbesondere einbezogen werden müssen, inwieweit deren Auswirkungen die bisherige Lebensführung der Angeklagten dauerhaft gestört, belastet oder eingeengt haben. In diesem Zusammenhang hätte nicht nur die zunehmende Trunksucht der Angeklagten erörtert werden müssen, sondern auch ihre Entwicklung sowie ihre psychische Befindlichkeit zu den jeweiligen Tatzeiten. So lässt sich den Urteilsgründen entnehmen, dass die Angeklagte, die in ihrer Kindheit den engen Familienverbund als „gluckenhaft und einengend“ empfand, sich in sehr jungen Jahren an ihren Ehemann band. Sie führte ein von ihr – so nicht erwünschtes – sozial isoliertes Leben, auch mit ihrem Ehemann war ein Gedankenaustausch nicht möglich. Bedingt durch die Haltung ihres Mannes kam es auch zur Abkühlung der familiären Beziehungen. Bereits an der Schwelle von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter war die überdurchschnittlich intellektuell begabte und leistungsfähige Angeklagte damit in feste Strukturen eingebunden, die weder ihren Vorstellungen und Erwartungen, noch ihren Fähigkeiten entsprachen.
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Aber auch das durch stereotyp wiederholten Tatablauf – neun Kinder hat die Angeklagte unbemerkt von ihrer Umwelt ausgetragen, geboren und getötet – besonders außergewöhnliche Gesamttatgeschehen, die den Taten jeweils vorausgehende Vorspiegelung der Angeklagten, sie kümmere sich um Empfängnisverhütung, sowie das in dem Umgang mit den Behältern, in denen sich die Leichname der Neugeborenen befanden, zum Ausdruck gekommene bizarr anmutende Nachtatverhalten und ihr nachgewiesenes Ver- halten als treusorgende Mutter der Kinder S. , D. und I. wären in diese Gesamtschau einzubeziehen gewesen.
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Schließlich stellt das Schwurgericht an anderer Stelle der Urteilsgründe (im Zusammenhang mit der Erörterung etwaiger Mordmerkmale, namentlich der niedrigen Beweggründe) fest, dass sich die Angeklagte jeweils zu Beginn jeder Schwangerschaft in einer persönlichkeitsgeprägten Konfliktlage befunden habe und mit der konkreten Situation überfordert gewesen sei. Die Kindstötung sei deshalb die Folge einer seit Monaten bestehenden relativ fixierten Abwehrhaltung, die durch einen komplexen seelischen Notstand ausgelöst worden sei. Ob sich hieraus Folgerungen für die psychische Beeinträchtigung bei den Taten im Sinne des § 21 StGB ergeben, ist unerörtert geblieben.
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Mit all diesen Umständen, die es nicht fernliegend erscheinen lassen, dass die normabweichenden Symptome in der Persönlichkeit der Angeklagten führend geworden sein könnten, hat sich das Landgericht bei der Prüfung , ob ein psychischer Defekt der genannten Art vorgelegen hat, in den Urteilsgründen nicht auseinandergesetzt.
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4. Der Senat hebt das Urteil nur im Strafausspruch auf, da die Voraussetzungen des § 20 StGB offensichtlich nicht vorliegen. Sollte das neue Tatgericht auf der Grundlage eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Annahme einer Persönlichkeitsstörung gelangen, wird es bei der für jede einzelne Tat zu klärenden Frage, ob diese das Gewicht einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erreicht und zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens geführt hat, auch den Einfluss konstellativer Faktoren (Alkohol) zu würdigen haben. Für den Fall, dass das Vorliegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit ausgeschlossen werden kann, indes eine alkoholbedingte relevante Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit doch in Betracht kommt – wobei planmäßiges, zielstrebiges und folgerichtiges Verhalten einer alkoholbedingten erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit gerade bei alkoholgewöhnten Tätern nicht entgegensteht (BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 4, 6, 8, 11) –, wird freilich die Figur der actio libera in causa in den Blick zu nehmen sein.
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Bei Anwendung des § 21 StGB wird zwar auch bei einer Strafrahmenverschiebung zugunsten der Angeklagten eine deutliche Verminderung der recht milde bemessenen Einzelstrafen (einmal sechs Jahre und im Übrigen je fünf Jahre Freiheitsstrafe) eher fernliegen. Eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit wäre hingegen für die Gesamtstrafe von Bedeutung, deren niedrigere Bemessung sich für diesen Fall nicht ausschließen lässt. Dies gilt ungeachtet des schuldrelevanten Umstands, dass die keinesfalls schuldunfähige Angeklagte in den Zeiträumen zwischen ihren Taten keinerlei Vorsorge gegen die deutlich absehbare Gefahr einer Tatwiederholung getroffen hat.
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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

5 StR 351/03

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 31. März 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31. März 2004

beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. Februar 2003 nach § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes zu einer lebens- langen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision der Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs; im übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Zur Frage der Schuldfähigkeit der zur Tatzeit 21 Jahre alten Angeklagten , die nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts ihren zweijährigen Sohn A unversorgt und unbeaufsichtigt in der Wohnung zurückließ, während sie sich selbst bei Bekannten aufhielt , und dadurch innerhalb von drei Tagen den Tod des Kindes durch Verdursten herbeiführte, hat die sachverständig beratene Strafkammer folgendes ausgeführt: Zur Tatzeit habe die Angeklagte unter einer “unreifen Persönlichkeitsstörung“ gelitten, die durch die Unfähigkeit, das eigene Leben zu planen, durch einen verzerrten Realitätsbezug, ein “schwarzweißes Weltbild“ sowie einen ausgeprägten Selbstbezug gekennzeichnet gewesen sei. Die Störung habe aber nicht den Schweregrad erreicht, der für die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB erforderlich sei. Letzteres gelte auch, wenn man mit dem psychiatrischen Sachverständigen davon ausgehe, daß bei der Angeklagten zwischen Anfang und Mitte Oktober 2001 und dem Verlassen der Wohnung im November 2001 eine leichte depressive Episode vorgelegen habe. Von einer mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression könne auch nicht im Blick auf die vor der Tat von der Angeklagten ab Oktober 2001 herbeigeführte Vermüllung ihrer Wohnung ausgegangen werden, weil diese nicht auf ihre depressive Verstimmung, sondern vor allem auf die für Ende November 2001 anberaumte Zwangsräumung zurückzuführen gewesen sei; der Zustand der Wohnung sei der Angeklagten deshalb gleichgültig gewesen. Außerdem habe die Bewährungshelferin bei einem Besuch der Angeklagten am 9. Oktober 2001 in der Behörde keine “Depressivität“ bemerkt. Der Schweregrad einer Depression könne aber nicht ausgeprägt sein, wenn es dem Betroffenen noch gelinge, diese nach außen zu verbergen.
Selbst wenn man der depressiven Episode der Angeklagten eine Relevanz für den ersten Akt der Tatausführung, das Verlassen der Wohnung, und für einen gewissen Zeitraum danach, etwa bis zum Kontakt der Angeklagten zu ihren Bekannten zuschreiben wolle, sei spätestens mit dem ersten Treffen der Angeklagten mit ihren Freunden ihre depressive Episode – welchen Schweregrad diese auch gehabt haben möge – beendet gewesen. Dies ergebe sich aus den Aussagen von drei Bekannten der Angeklagten, die in der fraglichen Zeit mit ihr umgegangen seien und sie in ihrer “(positiven) Gestimmtheit“ so erlebt hätten wie früher. Diese Bewertung werde auch nicht durch den Betäubungsmittelmißbrauch der Angeklagten nach Verlassen der Wohnung in Frage gestellt. In dieser Zeit habe die Angeklagte täglich Haschisch und gelegentlich auch Kokain konsumiert. Mit Haschisch habe die Angeklagte nach ihren eigenen Angaben ihr schlechtes Gewissen beruhigen und die Angst vor der Situation in ihrer Wohnung verdrängen wollen. Insofern fehle es schon an einer Kausalität zwischen dem Mißbrauch der Droge und der Tatbegehung.
2. Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
Bedenklich ist bereits, den Schweregrad einer Depression in die Beurteilung von ungeschulten medizinischen Laien zu stellen und maßgeblich auch auf dieser Grundlage das Vorliegen einer für die Anwendung von § 21 StGB beachtlichen mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression abzulehnen. Die Bekannten der Angeklagten, die zu den möglichen Tatzeitpunkten mit ihr umgegangen sind, haben sie zumeist unter dem Einfluß von Cannabis erlebt, das sie zur Beruhigung genommen hatte. Auch war die Angeklagte gerade bestrebt, ihrer Bedrückung durch ein vermeintlich abwechslungsreiches und ungebundenes Leben zu entgehen, so daß sie – dies liegt jedenfalls nahe – ihre möglicherweise erheblich depressive Grundstimmung vor sich selbst und anderen verborgen hat. Darüber hinaus ist in der psychiatrischen Fachwissenschaft seit langem anerkannt, daß es nicht selten Depressionen gibt, die selbst Ärzte nicht erkennen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Depression hinter körperlichen und/oder psychopathologischen Phänomenen wie z.B. Gewichtsabnahme, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten , Aggressionszuständen, Alkoholismus oder Drogenmißbrauch verbirgt (vgl. Kielholz, Die larvierte Depression, 1981, S. 9 und 39; Rasch, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 247).
Die Ausführungen des Landgerichts lassen darüber hinaus die gebotene Gesamtschau vermissen, in welche die Täterpersönlichkeit und deren Entwicklung, die Vorgeschichte, der unmittelbare Anlaß, die Ausführung der Tat sowie das Verhalten nach der Tat einzubeziehen sind (BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29). Hierzu bestand im vorliegenden Fall schon deshalb Anlaß, weil dem Urteil zu entnehmen ist, daß die noch junge Angeklagte eine sehr belastete Kindheit durchlebt hat und daß auch ihr späterer Lebensweg äußerst problematisch verlaufen ist (frühe Schwangerschaft und Freigabe des Kindes zur Adoption, Prostitution und Betäubungsmittelmißbrauch , gestörte Beziehung zu dem Vater des Tatopfers, schwierige soziale Verhältnisse, Überforderung und Einsamkeit).
Für die Prüfung und Bewertung des Schweregrades der vom Sachverständigen festgestellten depressiven Störung hätte insbesondere die unmittelbare Vorgeschichte, nämlich die Entwicklung der depressiven Störung bzw. die möglichen Anzeichen für deren progredienten Verlauf, vertieft einbezogen werden müssen. Hierzu hat die Strafkammer ausführlich dargelegt, daß es der Angeklagten ab März 2001 immer schwerer gelang, alltägliche Anforderungen zu bewältigen, sie keiner sinnvollen Beschäftigung mehr nachging, sie sich die meiste Zeit in schlechter Stimmung in ihrer Wohnung aufhielt, häufig an Erkältungskrankheiten litt und Termine bei ihrer Bewährungshelferin nicht mehr einhielt. Seit Juni 2001 nahm die Angeklagte auch die Termine bei dem Sozialamt nicht mehr wahr, so daß die Mietzahlungen für ihre Wohnung eingestellt wurden. Stattdessen arbeitete sie gelegentlich wieder als Prostituierte. Im Juli 2001 lebte die Beziehung der Angeklagten zu dem Vater von A wieder auf, und sie machten Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Nach einer Woche trennte sich der Kindsvater jedoch wieder von der Angeklagten, was sie sehr enttäuschte. Im September 2001 erhielt die Angeklagte die Mitteilung, daß sie wegen der Mietschulden ihre Wohnung bis zum 30. November 2001 räumen müsse. In der Folgezeit hielt sie sich überwiegend zu Hause auf und war sehr niedergeschlagen. Sie vernachlässigte ihre Wohnung, die zunehmend vermüllte. In jedem Zimmer stapelte sich Unrat. Die Angeklagte wechselte ihrem Sohn zwar noch die Windeln , entsorgte sie jedoch nicht mehr, sondern warf die gebrauchten in eine Küchenecke. Schließlich war sie auch frustriert darüber, daß ihre Mutter, von der sie sich nicht geliebt fühlte, mehr Interesse an A zeigte als an ihr.
Die Strafkammer hat in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar begründet, warum sie aus dieser auf eine nicht unerhebliche Depression hindeutenden kontinuierlichen Abnahme von sozial gebotenen Verhaltensweisen und persönlichem Wohlbefinden ausgerechnet das für den Schweregrad einer depressiven Störung besonders bedeutsame Kriterium, nämlich die Vermüllung der Wohnung, herausnimmt und dieses Phänomen nicht auf die psychische Verfassung der Angeklagten, sondern ausschließlich darauf zurückführt , daß die Wohnung Ende November hätte geräumt werden müssen. Das hierfür angeführte Argument, daß sie in dieser Zeit immerhin noch die Windeln des Kindes gewechselt habe, ist nicht aussagekräftig. Es besagt allenfalls, daß noch Reste von Verantwortungsgefühl für den Sohn erhalten geblieben waren. Die weitere Begründung, die Bewährungshelferin habe am 9. Oktober 2001 keine „Depressivität“ bei der Angeklagten festgestellt, ist aus den oben bereits dargelegten Gründen nicht genügend tragfähig.
Schließlich hätte die depressive Verstimmung der Angeklagten auch vor dem Hintergrund der vom Sachverständigen ebenfalls diagnostizierten “unreifen Persönlichkeitsstörung“ beurteilt und erwogen werden müssen, ob möglicherweise das Zusammenwirken beider Faktoren dazu geführt hat, daß zur Tatzeit die Schuldfähigkeit der Angeklagten erheblich im Sinne von § 21 StGB beeinträchtigt war, dies zumindest nicht ausgeschlossen werden kann.
3. Der Senat hebt das Urteil lediglich im Strafausspruch auf. Die Voraussetzungen des § 20 StGB liegen offensichtlich nicht vor. Sollte der neue Tatrichter auf der Grundlage eines weiteren Sachverständigengutachtens zu einer anderen Bewertung der Schuldfähigkeit der Angeklagten gelangen, vermag dies das Mordmerkmal der Grausamkeit hier nicht in Zweifel zu ziehen. Unabhängig von der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen von § 21 StGB wird die besondere psychische Befindlichkeit der Angeklagten bei der nach § 13 Abs. 2 StGB gebotenen Ermessensentscheidung zu beachten sein (BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 2).
Basdorf Häger Gerhardt Raum Brause

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.