Bundesgerichtshof Beschluss, 02. Nov. 2010 - 4 StR 522/10
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und in Tateinheit mit sexueller Nötigung" zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
- 2
- 1. Die Feststellungen des Landgerichts tragen den Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit versuchtem schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes nicht. Die Tatbestände des § 176 Abs. 1 StGB und § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB setzen jeweils nicht nur in objektiver Hinsicht voraus, dass das Opfer das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, sondern auch, dass der Täter ein solches Alter des Opfers zumindest billigend in Kauf nimmt. Feststellungen zur subjektiven Tatseite hat das Landgericht jedoch rechtsfehlerhaft nicht getroffen (vgl. Meyer-Goßner StPO 53. Aufl. § 267 Rn. 7).
- 3
- 2. Der Schuldspruch wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit versuchtem schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes ist daher aufzuheben; dies gilt auch für die - für sich gesehen rechtsfehlerfreie - Verurteilung wegen sexueller Nötigung, da die Verwirklichung dieses Tatbestandes in Tateinheit zu den angeklagten Verstößen gegen §§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB steht.
- 4
- Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass Bedenken gegen die strafschärfende Erwägung des Landgerichts bestehen, der Angeklagte habe sich "an einem noch sehr jungen Mädchen" vergriffen.
Franke Mutzbauer
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(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer
- 1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, - 2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt, - 3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.
(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer
- 1.
sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt, - 2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach § 176 Absatz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 mit Strafe bedroht ist, oder - 3.
auf ein Kind durch einen pornographischen Inhalt (§ 11 Absatz 3) oder durch entsprechende Reden einwirkt.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach Absatz 1 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.
(3) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 strafbar. Bei Taten nach Absatz 1 Nummer 3 ist der Versuch in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
a) im Fall II. 1 der Urteilsgründe, wobei jedoch die Feststellungen zum äußeren Tatablauf aufrechterhalten bleiben,
b) im Fall II. 6 Urteilsgründe,
c) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.
2. Der Angeklagte wird im Fall II. 6 der Urteilsgründe freigesprochen.
Insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last.
3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
4. Im verbleibenden Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbliebenen Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
- 1
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall wegen Versuchs, sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
- 2
- Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen gab sich der Angeklagte in allen Fällen als Mitarbeiter einer Modeagentur aus und sprach die geschädigten Mädchen darauf an, ob sie sich fotografieren lassen wollen. Zumeist unter dem Vorwand, bessere Lichtverhältnisse zu benötigen, brachte der Angeklagte die Geschädigten zu einem ruhigen beziehungsweise abgelegenen Ort und veranlasste sie dann, sich zu entkleiden. Dabei filmte er sie zunächst und berührte sie anschließend mit unterschiedlichen Begründungen im Brust- und Genitalbereich. Wenn die Geschädigten ihm Einhalt geboten, ließ er von ihnen ab, ohne Gewalt angewandt zu haben.
- 3
- 1. Im Fall II. 1 der Urteilsgründe hält die Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB a. F. zu einer Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat keine Feststellungen zur inneren Tatseite, soweit sie das Alter des Tatopfers betrifft , getroffen. Zwar ist hinsichtlich des Alters des Kindes lediglich bedingter Vorsatz erforderlich (vgl. Fischer, StGB 55. Aufl. § 176a Rdn. 4; § 176 Rdn. 30 m.N.). Dass der das Tatgeschehen bestreitende Angeklagte bei Begehung der Tat im Juni 2000, vier Monate vor dem 14. Geburtstag des Mädchens , mit der Möglichkeit rechnete, dass das Tatopfer noch nicht 14 Jahre alt war, lässt sich aber weder der Schilderung des äußeren Sachverhalts noch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe zweifelsfrei entnehmen.
- 4
- Der aufgezeigte Darlegungsmangel nötigt insoweit zur Aufhebung des Urteils, wobei jedoch die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten werden können.
- 5
- 2. Soweit der Angeklagte im Fall II. 6 wegen sexuellen Missbrauchs einer Jugendlichen gemäß § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB verurteilt worden ist, hält der Schuldspruch rechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand. Die Feststellungen weisen nicht aus, dass der Angeklagte die sexuellen Handlungen „unter Ausnutzung einer Zwangslage oder gegen Entgelt“ vorgenommen hat.
- 6
- a) Für das Merkmal „Zwangslage“ im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. StGB ist eine ernste persönliche oder wirtschaftliche Bedrängnis des Opfers kennzeichnend. Sie setzt Umstände von Gewicht voraus, denen die spezifische Gefahr anhaftet, sexuellen Übergriffen gegenüber einem Jugendlichen in einer Weise Vorschub zu leisten, dass sich der Jugendliche ihnen gegenüber nicht ohne weiteres entziehen kann (BGHSt 42, 399). Es müssen also gravierende, das Maß des für Personen im Alter und in der Situation des Jugendlichen Üblichen deutlich übersteigende Umstände vorliegen, die geeignet sind, die Entscheidungsmöglichkeiten des Jugendlichen gerade über sein sexuelles Verhalten einzuschränken (vgl. Fischer aaO § 182 Rdn. 5).
- 7
- Daran fehlt es hier. Die Geschädigte konnte, obwohl der Angeklagte sie zu einem Waldstück gebracht hatte, situationsadäquat reagieren und die sexuellen Übergriffe des Angeklagten beenden. Allein die Tatsache, dass die Geschädigte sich hilflos fühlte, zunehmend Angst bekam und schließlich weinte, begründet noch nicht den erforderlichen gravierenden Umstand.
- 8
- b) Auch die Alternative einer Vornahme sexueller Handlungen gegen Entgelt ist nicht gegeben. Anders als in den Fällen II. 4, 5 und 7 hat der Angeklagte der hier Geschädigten kein Geld angeboten.
- 9
- c) Da weitere Feststellungen zum Bestehen einer Zwangslage, zum Gewähren eines Entgelts oder zum Nachweis einer sonstigen Straftat nicht zu erwarten sind, ist der Angeklagte freizusprechen.
- 10
- 3. Im Übrigen hat das Rechtsmittel aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift bezeichneten Gründen keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).
- 11
- 4. Die Aufhebung der Einsatzstrafe im Fall II. 1 und der Einzelstrafe im Fall II. 6 in Höhe von acht Monaten Freiheitsstrafe führt zur Aufhebung des Gesamtstrafausspruchs. Die übrigen Einzelstrafen können bestehen bleiben, sie sind von den Rechtsfehlern nicht unmittelbar berührt und auch ihrer niedrigen Höhe nach nicht ersichtlich beeinflusst.
(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer
- 1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, - 2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt, - 3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.