Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 15. Juli 2015 - L 2 U 518/11

15.07.2015

Gericht

Bayerisches Landessozialgericht

Tenor

I.

Das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.10.2011 wird aufgehoben.

II.

Die Beklagte wird unter Abänderung ihrer Bescheide vom 15.01.2008, 15.06.2009 und 21.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2010 verurteilt, dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 13.09.2006 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 vom Hundert ab dem 22.06.2007 zu bewilligen.

III.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger (Kl.) Anspruch auf Verletztenrente nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) gegen die Beklagte (Bekl.) nach einem höheren Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als 20 vom Hundert (v. H.) hat. Streitig sind die Folgen der erlittenen Schädelverletzungen.

Der 1954 geborene Kl., der eine Motorrad-Werkstatt betrieb und bei der Bekl. versichert war, fuhr am 13.09.2006 gegen 9:00 Uhr bei einer Probefahrt mit dem Motorrad eines Kunden die Straße entlang, als plötzlich ein entgegenkommendes Auto ohne zu blinken nach links in einen Parkplatz abbog. Der Kl. prallte mit seinem Motorrad auf seiner Fahrbahnseite auf das querstehende Auto auf, wurde über dieses hinweg katapultiert und fiel auf die Fahrbahn.

Der Kl. wurde mit dem Notarzt in die chirurgische Klinik Dr. R. gebracht, wo er stationär vom 13.09.2006 bis zum 19.10.2006 behandelt wurde (Abschlussbericht vom 11.10.2006, D-Arzt-Bericht Dr. S. vom 13.09.2009). Als Diagnosen wurden eine Innenband-Teilruptur am rechten Kniegelenk, eine Gehirnerschütterung ersten Grades, eine HWS-Distorsion und eine Prellung der Handgelenke beidseits gestellt.

Noch am Unfalltag (13.09.2006) wurde eine CT des Schädels angefertigt, die einen unauffälligen Befund des Gehirns erbrachte, insbesondere keine Kontusionen, keine Hirnblutung, kein epidurales oder subdurales Hämatom und kein Hirnödem. Auf dem Formular zur Begründung der Notwendigkeit der CCT war handschriftlich angegeben: „Auf dem Transport Erbrechen und Übelkeit, in der Notaufnahme zunehmendes Eintrüben des Patienten, zeitlich nicht mehr orientiert. Intrazerebrale Läsionen?“

Nach den Angaben der Ehefrau des Klägers gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. (siehe dessen Gutachten vom 12.04.2012) sei der Kläger den ganzen Tag bis abends um 18:00 Uhr nicht ansprechbar und nicht erweckbar gewesen. Am Abend habe er sie mit der Frage überrascht, wie viele Enkel sie hätten. Auch am Folgetag sei er noch verwirrt gewesen.

Im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt erhielt der Kl. eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Fachklinik Bad H. ab dem 19.10.2006. Die ursprünglich bis zum 09.11.2006 bewilligte Maßnahme wurde von der Bekl. auf Antrag der dortigen Ärzte bis zum 23.11.2006 verlängert. In der Begründung des Verlängerungsantrags heißt es unter „Komplikationen“: „psychologische Vorstellung bezüglich Frage posttraumatischer Belastungsreaktion erforderlich“. Im Entlassungsbericht der Fachklinik Bad H. vom 06.12.2006 wird unter „psychologischer Kurzbericht“ die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung gestellt. Berichtet wurde von Albträumen, dem Vermeiden des Angstreizes (Motorrad) und einer gesteigerten Erregung mit Schlaf- und Konzentrationsproblemen über einen Monat nach dem Unfall. Eine Traumatherapie sei aus psychologischer Sicht dringend indiziert. Der Kl. sei weiterhin auf unabsehbare Zeit arbeitsunfähig.

Eine MRT des Neurokraniums vom 19.07.2007 bei Dr. W. ergab eine diskrete Mikroangiopathie, jedoch keinen Hinweis auf posthämorrhagische Residualveränderungen, auf eine postkontusionelle Parenchymläsion oder auf eine stattgehabte Blutung.

Bei einem Gespräch zwischen dem Berufshelfer der Bekl. und dem Kl. in dessen Wohnung am 07.08.2007 teilte der Kl. mit, das er das rechte Knie praktisch kaum belasten könne. Außerdem leide er seit dem Unfall im Jahr 2006 unter erheblichen psychischen Problemen. Er habe Angst, am Straßenverkehr teilzunehmen und leide selbst als Beifahrer unter plötzlichen Panikattacken. Er habe inzwischen eingesehen, dass eine Aufgabe seines selbstständigen Betriebs als Motorradmechaniker unumgänglich sei.

Zu den Unfallfolgen holte die Bekl. ein Gutachten auf chirurgischem Fachgebiet von Dr. R. ein, der am 01.10.2007 zu dem Ergebnis kam, dass die Gehirnerschütterung und die Zerrung der Halswirbelsäule folgenlos ausgeheilt seien, der Teileinriss des Innenbandes führe noch zu einer geringen Instabilität des rechten Kniegelenks, die Unfallfolgen auf chirurgischem Fachgebiet bedingten keine messbare MdE.

Der Neurologe und Psychiater Dr. K. kam mit Gutachten vom 26.09.2007 zu dem Ergebnis, dass eine klassische Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu keinem Zeitpunkt vorgelegen habe. Als Symptom bestehe aber noch ein Vermeidungsverhalten gegenüber dem Auto- und Motorradfahren, das als Unfallfolge anerkannt werden könne und mit einer MdE von 10 v. H. bewertet werden solle. Unter weiterer Fortführung der psychologischen und pharmakologischen Therapie sei von einem kompletten Abklingen der jetzt noch bestehenden Symptomatik auszugehen. Schädelverletzungen konnten durch eine MRT des Schädels vom 19.07.2007 ausgeschlossen werden.

Mit Bescheid vom 15.01.2008 gewährte die Bekl. daraufhin ab 22.06.2007 (Stütz-) Rente nach einer MdE von 10 v. H. wegen einer geringen Instabilität des rechten Kniegelenks und Restsymptomen einer PTBS.

Mit Bescheid vom 16.01.2008 erteilte die Bekl. dem Kl. eine Schlussabrechnung für sein Verletztengeld in der Zeit vom 13.09.2006 bis zum 21.06.2007 in Höhe von insgesamt 25.530,54 €.

Am 29.01.2008 legte der Kl. gegen den Bescheid vom 15.01.2008 Widerspruch ein.

Im Februar 2008 gab der Kl. seine Firma auf.

Die Neurologin PD Dr. E. berichtete am 18.03.2008 und am 05.05.2008 über die Behandlung des Kl. im Zeitraum vom 18.07.2007 bis zum 29.04.2008. Der Kl. leide unter kognitiven Beeinträchtigungen mit massiven Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, die trotz psychotherapeutischer Behandlung unverändert weiter bestünden. Albträume und massiv auftretende Stimmungstiefs hätten leicht reduziert werden können. Weiter bestehe eine massive Erschöpfbarkeit, so dass der Kl. häusliche Tätigkeiten spätestens nach zwei Stunden einstellen und sich mehrere Stunden ausruhen müsse.

Die psychologische Psychotherapeutin B. berichtete am 06.04.2008, sie habe die Diagnose einer PTBS mit Symptomen von Angst und Depression als Ausdruck dieser Grundstörung mit erheblich krankheitswertiger Symptomatik gestellt. Es werde eine verhaltenstherapeutische Behandlung mit 40 Einzelsitzungen zu je 50 Minuten in wöchentlicher Frequenz geplant.

Auf den Widerspruch hin, mit dem der Kl. insbesondere Depressionen, kognitive Beeinträchtigungen und eine PTBS geltend machte, holte die Bekl. das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. S. vom 12.03.2009 ein, in dem dieser ausführte, dass ihm eine abschließende Beurteilung nicht möglich sei, da es in dem Fall von Anfang an einer ausreichenden Dokumentation hinsichtlich hirnorganischer Symptome gefehlt habe und auch die Behandlung in psychotherapeutischer Hinsicht möglicherweise fehlgeleitet war und von den eigentlichen Problemen abgelenkt habe. Die gesamte Behandlung in psychiatrisch-nervenärztlicher Hinsicht sei nämlich unter dem Aspekt einer PTBS erfolgt, die nach Prof. Dr. S. jedoch eher fernliegend sei. Denn zum einen schlössen sich die Annahme einer unfallbedingten Bewusstlosigkeit - also eines nicht wahrgenommenen Unfallhergangs - und die Entwicklung einer unfallbedingten PTBS definitiv aus. Zum anderen fehle es definitiv am Leitkriterium einer PTBS, nämlich dem unfallbedingten Wiedererinnern, das bisher in keinem einzigen Bericht erwähnt worden sei. Auch der Unfallhergang sei bisher noch nicht hinreichend analysiert worden. Die Erinnerung des Kl. ende mit einer von ihm so genannten „schwarzen Wand“ - also der rechten Fahrzeugseite vor dem Aufprall - und beginne dann wieder mit Unfallzeugen am Unfallort. Die Gesamtzeit der Bewusstlosigkeit sei also kurz gewesen, dürfte aber einige Minuten betragen haben. Allerdings sei die Frage nach einer länger anhaltenden Bewusstseins- und/oder Orientierungsstörung noch nicht hinreichend klar. Offensichtlich sei der Kl. noch über einige Stunden nach dem Unfall benommen bis schläfrig gewesen. Nach Angaben der Ehefrau, die nach der Erstversorgung an seinem Bett saß, habe er erst nach etwa fünf Stunden die Augen aufgeschlagen und dann die skurrile Frage gestellt, wie viele Enkelkinder er habe (und nicht, wo er sei, was passiert wäre etc.). Auffallend sei auch die weitere Angabe der Ehefrau, dass sich ihr Mann auch an den folgenden Tagen in ähnlicher Weise merkwürdig verhalten habe und dabei eigentümlich unruhig und aufgeregt erschien sowie stark schwitzte. Der Kl. selbst glaube sich zu erinnern, dass er im Krankenhaus den Impuls gehabt habe, das Bett zu verlassen oder nach Hause zu gehen. Hierüber sei jedoch im Entlassungsbericht nichts vermerkt. Allerdings sei in diesem Zusammenhang auffällig ein augenärztliches Konzil eine Woche nach dem Unfall, in dem eine auffällige Mydriasis mit Fusions- und Akkommodationsschwäche sowie Exophorie beschrieben worden sei, was als postcommotioneller Zustand interpretiert werde. Im Zusammenhang mit einem Unfallmechanismus, der hirnorganische und im Übrigen auch HWS-Verletzungsfolgen nahelegte, müsse deshalb die Dokumentation der neurologischen und neuropsychologischen Befunde als unzureichend bezeichnet werden. Denn die genannten Befunde ließen wenig Zweifel an Bewusstseinsstörungen oder Amnesie und erweckten darüber hinaus den Verdacht eines hirnorganischen Psychosyndroms.

Eine Schleuderung des Körpers über wahrscheinlich mehrere Meter durch die Luft über ein Autodach hinweg mit Aufschlag auf die Scheitelregion der Schädels lasse hier (trotz Helmschutz) auf eine Stoßwellenausbreitung über zentrale Hirnstrukturen in Richtung Schädelbasis folgern und müsse zwangsläufig auch mit einer nicht unerheblichen HWS-Tangierung einhergehen. Eine Verletzung solcher zentraler und basaler Hirnstrukturen führe dabei charakteristischer Weise nicht zu dem bekannten Kontusionsherd der Hirnrinde, sondern zu eher diffusen und dabei vorwiegend neuropsychologischen Beeinträchtigungen, die im Übrigen weder durch übliche testpsychologische Verfahren nachzuweisen seien, noch häufig nicht einmal durch MRT ausgeschlossen werden könnten (was mit der strukturellen „Unruhe“ der Schädelbasis von Knochenstruktur, Liquorräumen, venösen und arteriellen Gefäßen etc. zusammenhänge). Die ganz auffallend schwere und fortdauernd psychische Dekompensation des Patienten entspreche letztlich einer Art „Wesensveränderung“, wie man sie bei bestimmten Hirnverletzungen, und zwar solchen, die bilateral frontal oder frontotemporal basal lokalisiert sein, oder auch solchen, die Zwischenstrukturen wie das limbische oder hypothalamisch-vegetative Regulationssystem beträfen, vorfinde. Solche Verletzungen bewirkten weder herdförmige neurologische Defizite (Lähmungen, Sehstörungen etc.) noch umschriebene neuropsychologische Defizite (wie Aphasie, Apraxie, Anosognosie etc.). Es seien Hirnleistungsstörungen, die vielmehr das planerische und zielgerichtete Verhalten (gewissermaßen die Schrittmacherfunktionen des Denkens) beträfen, häufig auch als exekutive Funktionen bezeichnet. Es handle sich um komplexe intellektuelle Leistungen, die die Integration von Wahrnehmungsfunktionen in situativ angemessenes Verhalten gewährleisteten und meist auch mit der Steuerung des emotionalen Verhaltens zu tun hätten. Häufig seien Antrieb, Initiative, Motivation und psychomotorisches Verhalten schwer gestört, zuweilen auch mit depressiven und anderen affektive Beeinträchtigungen (vor allem Angstsyndromen) verbunden. Diese Störungen seien darüber hinaus dadurch charakterisiert, dass sie aufgrund erhaltener eingefahrener Verhaltensweisen (aus der Zeit vor dem Unfall) den Eindruck einer weitgehend intakten Fassade vermittelten, zumal dann, wenn - wie beim Kläger der Fall - ein freundliches bis leutseliges, gesprächiges bis logorrhoisches Verhalten die tatsächlich massiven Hirnleistungsschwächen überdecke. Wie schon erwähnt, seien übliche testpsychologische Untersuchungen hierzu meist nicht richtungsweisend, obschon auch Sekundärphänomene wie Merkfähigkeits- und Kurzzeitgedächtnisstörungen, rasche Ermüdung und Erschöpfbarkeit so gut wie nie fehlten. Das Resümee der Familienangehörigen aber auch bekannter Menschen im weiteren Umfeld des Patienten sei dann meist das einer nicht näher verständlichen, allerdings auch nicht übersehbaren und als deutlich beeinträchtigend empfundenen „Wesensänderung“, die hier auch von der Ehefrau beschrieben werde.

Festzuhalten sei, dass der Kl. mit einer bis zum Unfallereignis ganz offensichtlich sehr stabilen dynamischen, erfolgreichen und vielseitig interessierten Ausgangspersönlichkeit (als Jäger, Fischer, Sportler und im bayerischen Volkskundebereich etc.) mit dem Unfall eine massive Wesensänderung erfahren habe, die im Einzelnen in der Tat schwer zu erfassen und nicht durch umschriebene, herdförmige, neurologische oder neuropsychologische Defizite zu umreißen sei. Diese Wesensänderung sei seither durchgängig und weitgehend stabil vorhanden und habe die berufliche Leistungsfähigkeit letztlich aufgehoben und die Lebensqualität in nahezu allen Bereichen massiv eingeschränkt. Im Rahmen einer ausführlichen Exploration und bei orientierender neuropsychologischer Testung fänden sich starke Hinweise auf eine Störung komplexer Wahrnehmungs- und Verhaltensbereiche, so insbesondere der Umsetzung von Wahrnehmungsinhalten in situationsangemessenes Verhalten, der Zielgerichtetheit des Denkens, der Entwicklung und Verfolgung von Plänen, aber auch von Antrieb, Initiative und Motivation. Der von der Ehefrau geschilderte Tagesablauf zeige dabei, dass die fehlende Spontanität und Initiative letztlich nur noch gewisse stereotype und schablonenförmige Betätigungen erlaube, was der Kl. zudem, zusammen mit der Ehefrau, mit genauen zeitlichen Festlegungen für den kommenden Tag und routinemäßige Ereignisse (Mahlzeiteneinnahme, Spaziergang, Haushaltstätigkeiten, staubsaugen etc.) zu erreichen versuche. Dabei dürfe es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Störungen von Frontalhirn bzw. allenfalls basalen frontotemporalen Hirnabschnitten/Hirnfunktionen handeln.

Zur weiteren Abklärung werde empfohlen eine gezielte neuropsychologische Untersuchung, eine Positronenemissionstomographie (PET) des Gehirns und die Klärung der Frage möglicher HWS-Schädigungen. Als anerkannte Kapazität für hirnorganische Erkrankungen empfehle er Prof. F. vom Klinikum I. in B-Stadt.

Die Bekl. zog die Unterlagen der chirurgischen Klinik Dr. R. über die Behandlung nach dem Unfall bei.

Mit Bescheid vom 15.06.2009 entzog die Bekl. die vorläufig gewährte Rente und lehnte die Gewährung von Rente auf unbestimmte Zeit ab 01.07.2009 ab. Außer einer geringen Instabilität des rechten Knies lägen keine Unfallfolgen mehr vor. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. S. seien auch keine Symptome einer PTBS mehr vorhanden.

Mit Schreiben vom selben Tag (15.06.2009) gab die Bekl. bei Prof. F. die von Prof. Dr. S. empfohlene Begutachtung in Auftrag.

Am 18.06.2009 legte der Kl. gegen den Bescheid vom 15.06.2009 Widerspruch ein. Dabei rügte der Kl., dass mit dem Bescheid gleichzeitig ein Gutachten von Prof. F. in Auftrag gegeben wurde, dessen Ergebnis aber nicht abgewartet worden sei. Außerdem habe Prof. Dr. S. eine hirnorganische Schädigung für wahrscheinlich erachtet.

Im Rahmen des bei Prof. F. von der Bekl. in Auftrag gegebenen Gutachtens wurde der Kl. am Klinikum I. am 11.08.2009 mittels einer PET des Schädels untersucht. Die neuropsychologische Testung, die sieben Stunden dauerte, wurde von Prof. Dr. phil. J., dem Leiter der Klinischen und Experimentellen Neuropsychologie des Klinikums I., durchgeführt, die PET erfolgte durch Prof. F., den Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums I.. Beide Professoren erstatteten unter dem Datum vom 31.08.2009 ihre Gutachten, in denen sie jeweils die Ergebnisse auch des anderen Gutachtens berücksichtigten. Beide Gutachter stellten übereinstimmend die Diagnose eines ausgeprägten und chronischen organischen Psychosyndroms nach Schädel-Hirn-Trauma (ICD-10 F 07.2). Die MdE betrage 70 v. H.

Zwar habe die PET keine Hinweise auf eine substanzielle Hirnschädigung erbracht. Dies sei jedoch nicht entscheidend, da diese Diagnose aufgrund der klinischen Symptome gestellt und durch negative Befunde bildgebender Verfahren wie cMRT oder PET weder sicher gestellt noch ausgeschlossen werden könne. Allerdings könne aufgrund des unauffälligen PET-Befundes eine neurodegenerative Erkrankung wie Morbus Alzheimer ausgeschlossen werden.

Die Diagnose stütze sich auf die erheblich reduzierte Leistungsfähigkeit und Verlangsamung in mehreren zentralen kognitiven Funktionsbereichen, die anamnestisch, fremdanamnestisch über die Ehefrau und durch die angewandten Testverfahren festgestellt worden seien, und die für das Vorliegen diffuser und/oder basaler Hirnverletzungen spreche. Der Kl. habe die Testaufgaben, für die normalerweise vier Stunden benötigt würden, nicht einmal in sieben Stunden bewältigen können. Dazu komme eine Persönlichkeitsveränderung im Sinne von Angst und Vermeidungsverhalten im Straßenverkehr, allgemeiner Irritierbarkeit, häufiger Nervosität, Entscheidungsschwäche, allgemein reduzierter Belastbarkeit und sozialem Rückzug.

Prof. F. bejahte auch eine PTBS, während Prof. Dr. J. hierzu keine Aussage treffen konnte, allerdings im Gegensatz zu Prof. Dr. S. eine PTBS nicht deshalb für fernliegend halte, weil sich der Kl. nicht an die unmittelbare Gefährdung seines Lebens erinnern könne - das könne der Kl. nämlich sehr wohl.

Der Beratungsarzt Dr. H. führte am 04.11.2009 aus, dass nunmehr endgültig nachgewiesen sei, dass beim Kl. keine hirnorganische Störung vorliege. Die behaupteten kognitiven Leistungseinbußen seien damit jedenfalls nicht unfallbedingt, da es an einer substantiellen Hirnschädigung fehle. Es liege aber auch keine PTBS vor, da es bereits an der Schwere des Unfalls fehle. Wegen eines Vermeidungsverhaltens gegenüber Auto- und Motorradfahren könne aber von einer MdE von 20 v. H. ausgegangen werden.

Mit Teilabhilfebescheid vom 21.12.2009 half die Bekl. dem Widerspruch vom 29.01.2008 teilweise ab, hob den Bescheid vom 15.06.2009 auf und änderte den Bescheid vom 15.01.2008 dahingehend ab, dass ab 22.06.2007 Rente nach einer MdE in Höhe von 20 v. H. aufgrund eines ängstlichen Vermeidungsverhaltens beim Autofahren gewährt wurde. Zur Begründung wurde auf die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. H. vom 04.11.2009 verwiesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2010 wies die Bekl. den Widerspruch gegen den Bescheid vom 15.01.2008 in Gestalt des mit angefochtenen Bescheides vom 15.06.2009, teilweise abgeholfen durch den ebenfalls mit angefochtenen Bescheid vom 21.12.2009, als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kl. am 14.06.2010 beim Sozialgericht (SG) München Klage erhoben.

Das SG hat den Neurologen und Psychiater Dr. F. zum Sachverständigen ernannt, der in seinem Gutachten vom 11.01.2011 zu dem Ergebnis gekommen ist, dass sämtliche bildgebenden Untersuchungen wie CT, MRT und PET keinen Hinweis auf eine traumatisch bedingte hirnorganische Schädigung ergeben hätten. Die Annahme eines unfallbedingten hirnorganischen Psychosyndroms mit den entsprechenden vom Kl. angegebenen Beeinträchtigungen im kognitiven Bereich entbehre deshalb jeder Grundlage. Die Ausführungen des Gutachters Prof. F. vom Klinikum I. beruhten ausschließlich auf den Angaben des Kl. ohne Validitätsprüfung, was den Aussagewert der Begutachtung erheblich einschränke. Prof. Dr. J. habe keine Symptomvalidierungstests vorgenommen, was die Verwertbarkeit der Untersuchungsergebnisse erheblich mindere. Für die Annahme einer PTBS fehle es bereits an der Schwere des Unfallereignisses. Eine von ihm durchgeführte Untersuchung des Thymoleptikaspiegels habe außerdem Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Kl. entgegen seinen anderslautenden Angaben seine Antidepressiva nicht regelmäßig einnehme. Die psychologische Zusatzuntersuchung durch Dipl.-Psych. P. - auf dessen Zusatzgutachten vom 21.12.2010 verwiesen wird - habe hinsichtlich der vom Kl. angegebenen Leistungseinschränkungen Aggravationstendenzen gezeigt. Die MdE könne auf psychiatrischem Fachgebiet allenfalls mit 10 v. H. bewertet werden.

Dipl.-Psych. P. hatte in seinem Zusatzgutachten vom 21.12.2010 festgestellt, dass die Ergebnisse der durchgeführten Leistungstests deutlich unterdurchschnittlich gewesen seien. Dies gelte für alle Leistungsbereiche wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit. Insoweit seien die Vorgutachten zu bestätigen. Bei drei Testverfahren zeigten sich jedoch Hinweise auf Aggravationstendenzen. Besonders imponierend sei die gezeigte erhebliche Verlangsamung über alle Bereiche hinweg, die im Gegensatz zu seiner normalen Sprechgeschwindigkeit und Auffassungsgabe stehe. Insbesondere zeige sich bei den Reaktionstests eine Leistungsverbesserung bei den komplexen Reaktionsaufgaben, die einhergegangen sei mit dem Kommentar, nun werde es aber wirklich zu viel.

PD Dr. Dr. H.-H. F., Chefarzt der Klinik für Neurologie, Zentrum für Neurologische Intensi. V. m.edizin I.A. Kliniken-Klinikum B-Stadt Ost, H., stellte im Rahmen einer neurologisch-psychiatrisch-neuropsychologischen Heilverfahrenskontrolle am 04.04.2011 folgende unfallbedingte Diagnosen:

- Anpassungsstörung mit Vermeidungsverhalten, Ängsten und phobischen Zuständen. Keine PTBS.

- Schädelhirntrauma Grad I (mittelschwere Commotio cerebri) mit in typischer Weise mit dem Aufprall einsetzender anterograder Amnesie für 10 - 15 min und anschließender mehrstündiger lückenhafter Erinnerung mit konfusen Verhaltensweisen und mehrmaligem Erbrechen. Es sei nicht bekannt, ob am Unfallort eine primäre Bewusstlosigkeit vorgelegen hat. Es sei auch nicht Conditio-sine-qua-non für die Diagnose eines Schädelhirntraumas Grad I, dass eine primäre Bewusstlosigkeit vorgelegen habe, es genüge auch eine vorübergehende Bewusstseinstrübung mit hierdurch bedingter Erinnerungslücke als Ausdruck einer traumatischen Druckwelle durch Hirnareale mit mnestischen Funktionen. Ein traumatisches hirnorganisches Psychosyndrom könne aufgrund der unmittelbar posttraumatischen klinischen Symptomatik und der diesbezüglich unauffälligen Befunde im CCT, cMRT und FDG-PET nicht diagnostiziert werden. Auch für eine diffuse axonale Schädigung ergäben sich keine klinischen und kernspintomographischen Anhaltspunkte. Ein anderweitig bedingtes hirnorganisches Psychosyndrom könne nicht mit letztendlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, da sich bereits im Schädel-MRT vom 29.07.2007 Hinweise auf eine diskrete hypertensive Mikroangiopathie gefunden hatten. Die diesbezüglichen psychometrischen Untersuchungen seien allerdings nur bedingt verwertbar, da sich gewisse Anhaltspunkte für ein Aggravationsverhalten geboten hätten. Ein Schädelhirntrauma Grad I hat eine etwa 14-tägige Arbeitsunfähigkeit und eine maximal sechswöchige Einschränkung der Erwerbsfähigkeit zufolge. Eine MdE sei hierdurch derzeit somit nicht mehr gegeben.

- Sensibilitätsstörungen des linken Unterarmes und der linken Hand durch posttraumatische Armplexus-Distorsion, keine motorische Beteiligung. Eine durch das Unfallereignis bedingte zervikale Wurzelschädigung bei kernspintomographisch nachgewiesenen Bandscheibenvorfällen in den vier Etagen C3 bis C7 sei weniger wahrscheinlich. Da es sich um partielle rein sensible Ausfälle handle, sei durch diesen Befund keine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß gegeben.

- HWS-Distorsion Grad I nach Erdmann und Rompe, hierdurch dreiwöchige Arbeitsunfähigkeit nach Trauma begründet. Zum jetzigen Zeitpunkt ohne Relevanz.

Nicht unfallrelevante Diagnosen:

- Teilschädigung des Nervus peronaeus communis, des Nervus tibialis und des Ramus saphenus links nach Motorradunfall 1976,

- rezidivierende Zervikalgien und Cervicobrachialgien bei degenerativen HWS-Veränderungen mit Bandscheibenvorfällen in den Segmenten C3 bis C7,

- rezidivierende Lumbalgien und Lumboischialgien rechts und

- rezidivierende Cluster-Kopfschmerzen rechts.

Beim SG hat der Kl. beantragt, den Bescheid vom 15.01.2008 und vom 21.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.05.2010 abzuändern und dem Kl. Rente nach einer höheren MdE als 20 v. H. (mindestens 30 v. H.) zu gewähren.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13.10.2011 (Az. S 24 U 379/10) unter Bezugnahme vor allem auf das Gutachten des Dr. F. abgewiesen.

Der Kl. hat gegen das Urteil, das ihm am 28.10.2011 zugestellt worden ist, am 04.11.2011 beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.

Auf Antrag des Kl. hat das LSG den Neurologen und Psychiater Dr. Dr. D. zum Sachverständigen ernannt, der sein Gutachten am 12.04.2013 erstattet hat. Unter Einbeziehung eines testpsychologischen Zusatzgutachtens von Dipl.-Psych. H. vom 22.02.2013 hat der Sachverständige Dr. Dr. D. als Unfallfolge ein organisches Psychosyndrom nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma festgestellt, das zu einer MdE von 70 v. H. geführt habe. Der Unfall sei geeignet gewesen für die Ausbildung einer „diffusen axonalen Schädigung“. Dagegen liege eine PTBS nicht vor.

Der Beratungsarzt Dr. H. hat in seiner Stellungnahme vom 08.07.2013 an der neuropsychologischen Testung durch Dipl.-Psych. H. kritisiert, dass diese im Beisein der Ehefrau und teilweise im häuslichen Umfeld des Kl. stattgefunden habe. Außerdem sei eine Bewusstlosigkeit nicht festgestellt worden.

Die Bekl. hat mit Schreiben vom 12.07.2013 mitgeteilt, ein Gutachten, das entgegen grundsätzlichen Regeln der Gutachtenserstellung erstellt worden sei, - wie das von Dipl.-Psych. H. -, und ein Gutachten, das nur auf den subjektiven Angaben des Klägers beruhe ohne die dokumentierten Befunde zur Kenntnis zu nehmen geschweige denn sich mit diesen auseinanderzusetzen und das sich nicht einmal ansatzweise, trotz wiederholter dokumentierter Aggravationstendenz mit einer solchen beschäftige - wie das Gutachten von Dr. Dr. D. -, könne nicht Grundlage einer Entscheidung sein.

Das LSG hat die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. F. vom 31.10.2013 eingeholt, der sich den Ausführungen von Dr. Dr. D. nicht anschließen konnte. Der Annahme einer diffusen axonalen Schädigung sei zu widersprechen. Hierzu wäre eine Veränderung auf der noch am Unfalltag aufgenommenen cranialen CT zu erwarten gewesen. Die unfallnächsten neurologischen Untersuchungen hätten keinen pathologischen Befund erbracht. Bei einer diffusen axonalen Schädigung wäre ein Decrescendo-Verlauf zu erwarten gewesen, bei dem die neuropsychologischen Defizite während der ersten Woche nach dem Trauma relativ deutlich ausgeprägt sind und sich danach in der Regel sukzessive wieder zurück entwickeln („Decrescendo-Verlauf“). Weder Prof. Dr. J. noch Dipl.-Psych. H. hätte bei ihren neuropsychologischen Untersuchungen Symptomvalidierungstests angewandt. Ohne diese seien die Untersuchungen aber in gerichtlichen Verfahren wertlos, weil die Ergebnisse genauso auf fehlender Anstrengungsbereitschaft oder Aggravation beruhen könnten. Symptomvalidierungstests seien einzig durch Dipl.-Psych. P. angewandt worden, der Hinweise auf Aggravation und fehlende Anstrengungsbereitschaft gefunden habe. In diese Richtung weise auch, dass der Medikamentenspiegel bei der Untersuchung durch Dr. F. zu niedrig gewesen sei.

Auf Antrag des Kl. hat das LSG hierzu die ergänzende Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. Dr. D. vom 15.08.2014 eingeholt. In der Person des Kl. begegne man heute dem Vollbild eines psychomental schlichtweg ruinösen Defektzustandes. Die Klinik Dr. R. habe im Auftrag zum CCT angegeben, dass der Kl. in der Notaufnahme zunehmend eingetrübt und zeitlich desorientiert gewesen sei. Auch habe er während des Transportes mehrfach erbrochen. Weiter sei eine partielle Amnesie zu Zeit und Ort aufgefallen. Deshalb sei die Diagnose eines gedeckten Schädel-Hirn-Traumas gestellt worden. Diese Feststellungen der behandelnden Klinik würden von Dr. H. und der Bekl. schlichtweg ignoriert. Damit sei eine Unterbrechung der Bewusstseinskontinuität dokumentiert.

Weitere Voraussetzung für die Anerkennung einer substantiellen Hirnschädigung sei nach herrschender neurotraumatologischer Ansicht ein bildgebender Nachweis von Verletzungszeichen. Es sei einzuräumen, dass bildgebend Schädigungsnachweise im vorliegenden Fall fehlten. Inzwischen könne jedoch nach der Lehre von der „diffusen axonalen Schädigung“ eine Ausnahme vom Erfordernis des bildgebenden Schädigungsnachweises gemacht werden. Soweit Dr. F. auf die geringe Aufprallgeschwindigkeit von 35 km/h verweise, sei völlig unbelegt, dass ein Aufprall mit dieser Geschwindigkeit (wenn sie überhaupt zuträfe) das Gehirn substantiell unbeschädigt lasse.

Am 20.10.2014 erstatteten Prof. Dr. W. und Dr. W. vom M-P.-Institut für Psychiatrie ein Gutachten für das Landgericht A-Stadt in einer vom Kläger gegen die HUK Coburg aufgrund der Unfallfolgen geführten Zivilklage. Darin war Beweis zu erheben über die Folgen des hier streitgegenständlichen Unfalls und die Höhe der daraus resultierenden MdE. Nach dem Gutachten ergaben sich folgende Unfallfolgen: organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma, PTBS und chronischer posttraumatischer Kopfschmerz. Die Höhe der MdE betrage 50 v. H. ab dem Unfallzeitpunkt. Grundlage der Begutachtung waren neben allen bis dahin angefallenen Akten, einschließlich der Akten der Beklagten sowie des hiesigen sozialgerichtlichen Rechtsstreits beider Instanzen, auch eine fünftägige klinische psychiatrische und testpsychologische Untersuchung des Klägers im M-P.-Institut für Psychiatrie in B-Stadt.

Der Beratungsarzt der Beklagten, Dr. H., hat in seiner Stellungnahme vom 09.03.2015 dem Gutachten des M-P.-Instituts für Psychiatrie vom 20.10.2014 widersprochen. Entscheidend sei der Erstbefund, wonach weder Bewusstlosigkeit noch Amnesie vorgelegen hätten. Soweit die Gutachter der Auffassung seien, es könne auf jeden bildgebenden Nachweis verzichtet werden, um einen Hirnschaden anzunehmen, so könne dem nicht gefolgt werden. Es fehle dann jedenfalls jeglicher objektiver Nachweis. Auch liege eine PTBS nicht vor.

Am 25.02.2015 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der das Gericht einen Vergleichsvorschlag auf der Basis einer MdE von 50 v. H. unterbreitete, dem der Beklagtenvertreter nicht zustimmen konnte. Auf Antrag des Beklagtenvertreters hat der Senat die Verhandlung vertagt, weil der Kläger das Gutachten des Prof. Dr. W. vom 20.10.2014 erst zwei Tage vor der Verhandlung vorgelegt und die Beklagte keine Möglichkeit gehabt hatte, hierzu rechtzeitig eine medizinische Stellungnahme einzuholen. Die Parteien haben aber in der mündlichen Verhandlung vom 25.02.2015 noch ihre Anträge zur Sache gestellt und sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren für einverstanden erklärt. Die Beklagte hat anschließend mit Schreiben vom 16.03.2015 die Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. H. vom 09.03.2015 vorgelegt, zu der sich der Kläger mit Schriftsatz vom 08.04.2015 noch geäußert hat.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.10.2011 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihrer Bescheide vom 15.01.2008, 15.06.2009 und 21.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2010 zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von 70 v. H. ab 22.06.2007 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Bekl. verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Berufung bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.

Das Gericht konnte aufgrund des in der mündlichen Verhandlung vom 25.02.2015 von den Beteiligten gegebenen Einverständnisses ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klage auf Bewilligung einer höheren Verletztenrente und Abänderung der insoweit ablehnenden Bescheide ist zulässig. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 15.01.2008 sowie gemäß § 86 SGG die bezüglich der Verletztenrente diesen Bescheid abändernden oder ersetzenden Bescheide vom 15.06.2009 und vom 21.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2010. Die Klage ist auch begründet. Der Kl. hat Anspruch auf Verletztenrente gemäß § 56 SGB VII nach einer MdE von 70 v. H. ab dem 22.06.2007, an dem sein Anspruch auf Verletztengeld endete.

Der Senat ist in vollem Umfang davon überzeugt, dass der Kl. an einem organischen Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma leidet. Dieses ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 13.09.2009 zurückzuführen, der sich auf einem Betriebsweg ereignete, da die Probefahrt mit dem Motorrad des Kunden Teil der versicherten Tätigkeit des Kl. in der Motorradwerkstätte war. Da für Konkurrenzursachen oder Schadensanlagen keine Hinweise vorliegen, ist der Unfall als die wesentliche Ursache dieser Gesundheitsstörung zu bewerten. Insbesondere konnte durch die PET eine neurodegenerative Erkrankung wie Morbus Alzheimer ausgeschlossen werden (siehe Gutachten Prof. F. vom 31.08.2009).

Dies ergibt sich aus den überzeugenden Ausführungen der bereits im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten des Prof. Dr. J. sowie des Prof. F. vom Klinikum I. der Technischen Universität B-Stadt. Bestätigt wird diese Auffassung durch das gerichtliche Sachverständigengutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. Dr. D. vom 12.04.2013 sowie dessen ergänzender Stellungnahme vom 15.08.2014. Wie sowohl Prof. F. als auch Dr. Dr. D. ausgeführt haben, ist hierbei ohne Belang, dass bildgebend kein Nachweis von Schäden am Gehirn gelungen ist. Denn die Diagnose eines organischen Psychosyndroms kann durch bildgebende Verfahren weder mit Sicherheit gestellt noch ausgeschlossen werden. Dies hatte auch bereits Prof. Dr. S. in seinem Gutachten vom 12.03.2009 ausgeführt und eindrucksvoll erläutert.

Nicht überzeugend ist dagegen die Auffassung des Beratungsarztes Dr. H. sowie des im Rahmen der Heilverfahrenskontrolle als Gutachter tätigen PD Dr. Dr. F. und des Sachverständigen Dr. F., die allein aufgrund der Tatsache, dass bildgebend kein Nachweis einer Substanzschädigung des Gehirns möglich war, ein organisches Psychosyndrom von vornherein ausschließen. Denn keiner der genannten Gutachter setzt sich dabei in irgendeiner Weise mit der von den oben genannten Kapazitäten mit beachtlicher Begründung formulierten Auffassung auseinander, dass ein negativer bildgebender Nachweis keinen Ausschluss des organischen Psychosyndroms beinhaltet. Ein solcher Nachweis ist - wie Prof. Dr. S. ausgeführt hat - in einem Drittel der Fälle nicht möglich.

Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma setzt nach den überzeugenden Ausführungen im Gutachten des Sachverständigen Dr. Dr. D. vom 12.04.2012 entweder eine Unterbrechung der Bewusstseinskontinuität in einer Größenordnung von einer Stunde oder alternativ eine Amnesie von mindestens acht Stunden voraus. Die zweite Voraussetzung ist gegeben. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit der Schilderung der Ehefrau des Kl. gegenüber dem Sachverständigen Dr. Dr. D., wonach der Kl. nach der Einlieferung ins Krankenhaus in einen Zustand der Orientierungslosigkeit geriet, indem er nicht ansprechbar war und aus dem er erst gegen 18:00 Uhr erwachte. Erst am Abend setzte auch die Erinnerung des Kl. wieder ein. Die fehlende zeitliche Orientierung des Kl. und ein „Eintrüben“ waren auch der in den ärztlichen Unterlagen dokumentierte Grund, warum noch am Unfalltag eine CCT veranlasst wurde. Damit ist eine Amnesie von über acht Stunden noch am Unfalltag erwiesen.

Maßgebend für die Diagnose des organischen Psychosyndroms sind die durch mehrere neuropsychologische Testverfahren festgestellten massiven Leistungsbeeinträchtigungen des Kl. im kognitiven Bereich, die nach Auffassung der Sachverständigen Prof. Dr. S., Prof. Dr. J., Prof. F. und Dr. Dr. D. auf eine psychische Wesensveränderung zurückgehen, die der Kl. durch eine Schädigung zentraler Bereiche im Gehirn erlitten hat. Diese massiven Leistungsbeeinträchtigungen wurden durch jeweils mehrstündige neuropsychologische Testverfahren festgestellt, und zwar sowohl von Prof. Dr. J. im August 2009 als auch im Zusatzgutachten des Dipl.-Psych. P. vom August 2010 sowie im Zusatzgutachten des Dipl.-Psych. H. vom Februar 2013. Bestätigt werden diese Ergebnisse durch das vom Landgericht A-Stadt eingeholte Gutachten des Prof. Dr. W. und Dr. W. vom M-P.-Institut für Psychiatrie vom 20.10.2014, dem eine fünftägige neuropsychologische Untersuchung sowie die Sichtung aller bis dahin ergangenen Gutachten zugrunde lagen.

Die durch neuropsychologische Testverfahren gewonnenen Ergebnisse können nicht durch Aggravation erklärt werden. Nicht überzeugend ist der Versuch von Dr. F., allein aufgrund der Tatsache, dass drei der von Dipl.-Psych. P. durchgeführten Tests statistische Hinweise auf Aggravationsverhalten ergeben hätten, die Diagnose des organischen Psychosyndroms zu verneinen. Dipl.-Psych. P. hat sieben Leistungstests durchgeführt, von denen angeblich drei Hinweise auf Aggravationsverhalten ergeben hätten. Tatsächlich hat die TBFN Testbatterie zur Forensischen Neuropsychologie ein „auffälliges“ Fehlerverhalten ergeben, die Klärung der Motivation sei nötig. Dasselbe gelte für den Zahlen-Verbindungs-Test: Dort fanden sich Hinweise auf eine eingeschränkte Testmotivation bei scheinbar höherem Schwierigkeitsgrad der vorgelegten Matrizen. Beim Reaktionstest habe der Kl. bei einfachen Reaktionen langsamer reagiert als bei komplexeren Mehrfachwahlreaktionen. Die Verteilung der Reaktionszeiten weise eine größere Variabilität als bei einer linearen Verteilung auf. Dies stehe im Gegensatz zu normalerweise festzustellenden geringen Streuungen um die mittlere Reaktionszeit in Form einer Normalverteilung.

Allein aus der Tatsache, dass bei der Testung durch Dipl.-Psych. P. in drei von sieben Leistungstests statistische Hinweise auf Motivationsprobleme des Kl. vorgelegen hätten, kann die Diagnose des organischen Psychosyndroms nicht in Zweifel gezogen werden. Das Aggravationsverhalten wurde bei der neuropsychologischen Begutachtung durch Prof. F., die im Übrigen wesentlich umfangreicher war als die durch Dipl.-Psych. P., sehr wohl untersucht, auf die Ausführungen auf den S. 10 ff. des Gutachtens vom 31.08.2009 wird verwiesen. Insbesondere wurden dabei auch die Aussagen des Kl. selbst und dessen Ehefrau zueinander und mit den Testergebnissen in Beziehung gesetzt. Solche Ausführungen fehlen im Gutachten des Dipl.-Psych. P. völlig. Auch finden sich auf den S. 22 ff. des Gutachtens von Prof. Dr. J. detaillierte Schilderungen zur Durchführung der jeweiligen Tests und zu den jeweiligen Schwierigkeiten, auf die der Kl. gestoßen ist, während im Gutachten von Dipl.-Psych. P. die Testergebnisse nur ganz pauschal zusammengefasst werden. Die diesbezüglichen Ausführungen im Gutachten des Prof. Dr. J. lassen erkennen, dass die dort geschilderten Schwierigkeiten des Kl. authentisch waren, weshalb Prof. Dr. J. plausibel zu dem Schluss kommen konnte, dass Anhaltspunkte für ein aggravierendes Verhalten nicht vorlagen.

Besonders problematisch wird das Gutachten des Dipl.-Psych. P. unter dem Punkt „Verhaltensbeobachtung“, wo er die Aggravationstendenz aus dem Gegensatz zwischen der in den Tests festgestellten erheblichen Verlangsamung über alle Bereiche hinweg und seiner normalen Sprechgeschwindigkeit und Auffassungsgabe (Verständnis der Testanweisung) sieht. An dieser Stelle hätte sich der Psychologe mit dem schon von Prof.

Dr. S. beschriebenen Problem auseinandersetzen müssen, dass der Kl. aufgrund seiner leutseligen und geselligen Art sowie der vor dem Unfall erworbenen Fähigkeiten eine Fassade nach außen aufrechterhalten könne, die seine massiven Hirnleistungsschwächen überdecken könne. Dazu finden sich jedoch im Gutachten des Dipl.-Psych. P. keine Ausführungen, so dass davon auszugehen ist, dass er das diesbezügliche Problem nicht erfasst hat. Dass eine solche „Fassade“ vom Kl. aufgebaut und über eine begrenzte Zeit bis zu deren Zusammenbruch aufrechterhalten werden kann, wird auch im Gutachten des Dipl.-Psych. H. herausgearbeitet.

Auch Dipl.-Psych. H. hat in seinem Zusatzgutachten vom 22.02.2013 unter „Verhaltensbeobachtung“ (S. 10 des Gutachtens) das Verhalten des Kl. an beiden Untersuchungstagen geschildert und ist hierbei überzeugend zu dem Ergebnis gelangt, dass keine Hinweise auf Simulation oder Aggravation vorlagen. So heißt es dort, zu Beginn der Untersuchungstermine habe der Proband eine auf Verhaltensbeobachtungsebene relativ unauffällige Fassade präsentiert, die er jedoch nicht über einen längeren Zeitraum hinweg aufrecht zu erhalten vermochte. Zu Beginn der Termine habe er sich jeweils offen, kommunikativ, schwingungsfähig und aktiv gezeigt. Mit zunehmender Fortdauer der Untersuchungen seien jedoch Defizite immer deutlicher geworden. Es sei dem Probanden zunehmend nicht mehr gelungen, seine rasch einsetzende und fortschreitende Ermüdung zu verbergen. Er habe zunehmend sichtlich überfordert und angestrengt gewirkt, bei jeder Gelegenheit die Augen geschlossen, kaum noch gesprochen und an Schwingungsfähigkeit verloren. Einbußen in der Leistungsfähigkeit seien ab eineinhalb Stunden Untersuchungsdauer deutlich zu erkennen gewesen. Nach drei Stunden sei die Fortsetzung der Testung trotz Pausen kaum noch möglich gewesen. Aufgrund des gleichzeitig massiv verlangsamten Arbeitstempos sei eine Aufteilung der Untersuchung auf zwei Termine bei insgesamt sechseinhalb Stunden Dauer nötig gewesen. Die Untersuchung sei dennoch nicht im geplanten Umfang durchführbar gewesen, da beim zweiten Termin der Kl. ab etwa zwei Stunden Dauer wiederholt über Kopfschmerzen geklagt habe.

Ein weiteres Manko der Gutachten des Dr. F. sowie des Dipl.-Psych. P. besteht darin, dass sie auf die Aussagen der Ehefrau, die von den übrigen Gutachtern zur Prüfung der Validität der Testergebnisse herangezogen wurden, nicht eingehen. Damit stehen ihre Gutachten auf einer wesentlich engeren Grundlage als die Gutachten, die die Glaubwürdigkeit der Testergebnisse bejahen.

Schließlich spricht auch entscheidend für die Richtigkeit der festgestellten kognitiven Leistungseinbußen die Tatsache, dass der Kl. viermal umfassend und mehrstündig testpsychologisch untersucht worden ist, nämlich im August 2009 durch Prof. Dr. J., im Dezember 2010 durch Dipl.-Psych. P., im Februar 2013 durch Dipl.-Psych. H. und im Oktober 2013 am M-P.-Institut, und dass bei allen drei umfangreichen Testungen die festgestellten Leistungsbeeinträchtigungen, die jeweils detailliert und umfassend bis ins letzte Detail aufgeschlüsselt wurden, in den für die Beurteilung wesentlichen Punkten übereinstimmten. Ausdrücklich stellen alle Gutachten - selbst das von Dipl.-Psych. P. - fest, dass die Ergebnisse der Vorgutachten im Wesentlichen bestätigt werden. Die einzige Abweichung im Gutachten des Dipl.-Psych. P. besteht darin, dass dieser die von ihm - im Einklang mit den übrigen Gutachtern - festgestellten Ergebnisse dadurch hinterfragen will, als er bei drei Testverfahren statistische Hinweise auf eine mögliche willentliche Beeinflussung festgestellt hat. Es erscheint aber schwer vorstellbar, dass ein Proband in der Lage ist, sich so zu verstellen, dass er über einen Zeitraum von vier Jahren verteilt in drei mehrstündigen Testverfahren jeweils ein gleiches Ergebnis zu erzielen vermag.

Auch das Gutachten von Prof. Dr. W. und Dr. W. vom M-P.-Institut für Psychiatrie vom 20.10.2014 setzt sich ausführlich mit der Frage nach einer Aggravation auseinander und schließt eine solche mit überzeugenden Argumenten aus. Zum einen weist Prof. Dr. W. darauf hin, dass der Kläger vergessen hat, bestimmte Umstände zu schildern, die aus der Akte bekannt waren und sein Klagebegehren gestützt hätten. Eine gleichsam „paradoxe Dissimulation“, d. h. ein absichtliches Herunterspielen oder Verbergen von Symptomen, sei als Merkmal der Aggravation nicht beschrieben. Demgegenüber sei es in der Fachliteratur anerkannt, dass die meisten Probanden mit organischen Psychosyndromen bei der Erstexploration ihre Symptome zunächst zu bagatellisieren oder zu dissimulieren versuchten. Genau dies sei beim Kläger zu beobachten. Auch die Untersuchungsergebnisse psychometrischer und testdiagnostischer Verfahren hätten keine Hinweise auf Aggravation ergeben. Der Proband habe seine Beschwerden als weniger schwer als tatsächlich angegeben. Auch seien in einigen Bereichen bessere Funktionen festgestellt worden; im Falle einer Aggravation unter Simulation wären dagegen die Minderleistungen in allen Bereichen gleich schlecht gewesen. Schließlich entspreche das Ergebnis der neuropsychologischen Untersuchungen am M-P.-Institut vom 16.10.2013 dem Ergebnis der von Dipl.-Psych. H. im Februar 2013 durchgeführten Untersuchung. Auch dies widerspreche deutlich einer Simulation. Bei Simulation oder Aggravation seien nämlich häufig inkonsistente Testbefunde bei Wiederholungsuntersuchungen festzustellen, die auf dasselbe oder vergleichbare Verfahren gestützt werden. Auch im Hinblick auf das Symptombild einer psychischen Störung habe der Proband charakteristische Beschwerden erst auf Nachfrage und nicht spontan angegeben, was darauf schließen lasse, dass ihm die infrage stehenden Kriterien nicht bekannt waren oder er nicht die Absicht hatte, durch entsprechende Präsentation eine entsprechende Diagnose herbeizuführen.

Die Argumentation des Dr. F. zur im Blut nicht nachweisbaren Medikation konnte Prof. Dr. W. in seinem Gutachten nicht nachvollziehen. Die entsprechenden Plasmakonzentrationen seien bei seiner Untersuchung nachweisbar gewesen. Dass diese unterhalb des therapeutischen Bereichs lagen, sei in erster Linie auf die niedrige Dosis und die Pharmako-Kinetik der Medikation zurückzuführen. Hätte der Patient bei der Untersuchung durch Dr. F. simulieren wollen, hätte er kurz vor dem Zeitpunkt Tabletten eingenommen, so dass die Medikation deutlich höher gewesen wäre. Im Übrigen werde der Plasmakonzentration der eingenommenen Medikamente im Allgemeinen keine große Bedeutung beigemessen.

Die Ausführungen im Gutachten des M-P.-Instituts vom 20.10.2014 zum Ausschluss von Simulation und Aggravation überzeugen in vollem Umfang und bestätigen insoweit die Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. S., Prof. Dr. J., Prof. F. und Dr. Dr. D.. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das Gutachten des M-P.-Instituts im Vergleich zu allen Vorgutachten auf der umfangreichsten Aktenlage und der längsten Untersuchungsdauer, nämlich einem Zeitraum von fünf Tagen, beruht.

Alle Gutachter sind sich darüber einig, dass die festgestellten kognitiven Beeinträchtigungen vor dem Unfall noch nicht vorgelegen haben. Insbesondere Prof. Dr. S. schildert überzeugend, dass der Unfall von seinem Hergang her geeignet war, eine entsprechende Verletzung des Gehirns zu verursachen. Degenerative Krankheitsursachen - wie etwa ein Morbus Alzheimer - konnten durch die durchgeführte PET ausgeschlossen werden.

Wie der Sachverständige Dr. Dr. D. im Einklang mit Prof. Dr. S. zu Recht herausgearbeitet hat, liegt auch eine Amnesie nach dem Unfall von wenigstens acht Stunden als Voraussetzung für die Annahme eines schweren Schädel-Hirn-Traumas vor. Es ist zu kurz gegriffen, wenn der Sachverständige Dr. F. den Zeitraum der Bewusstlosigkeit auf 30 Minuten - bis zur Helmabnahme durch die Sanitäter - begrenzt und damit ein schweres Schädel-Hirn-Trauma ausschließen will. Denn hierbei bleibt die nachfolgende Amnesie für den Krankentransport, das Eintreffen in der Klinik, die dortigen Maßnahmen, den CT-Raum bis hin zum Wiedererwachen um 18:00 Uhr auf der Station unberücksichtigt, die nach den überzeugenden Ausführungen des Dr. Dr. D. aufgrund ihrer Dauer von über acht Stunden ausreichend ist, um die Diagnose eines schweren Schädel-Hirn-Traumas zu stellen.

Was das Argument des Sachverständigen Dr. F. betrifft, bei einer diffusen axonalen Schädigung hätte es zu einem sog. Decrescendo-Verlauf kommen müssen, ist zum einen zu entgegnen, dass Dr. F. insoweit nicht berücksichtigt, dass sich der Kl. am Unfalltag über acht Stunden lang in einem Dämmerungszustand befand mit Amnesie und nach Angaben der Ehefrau auch am Folgetag noch verwirrt war. Da sich dieser Zustand nachfolgend besserte, lag bereits insoweit ein Decrescendo vor. Zum anderen war in den folgenden Monaten die Behandlung des Kl., der auch subjektiv in erster Linie mit seinen organischen Beschwerden am Bewegungsapparat beschäftigt war, in psychiatrischer Hinsicht ausschließlich auf die Diagnose einer PTBS konzentriert, so dass über die Frage, ob und inwieweit es hinsichtlich der Ausprägungen des organischen Psychosyndroms in Bezug auf Persönlichkeitsveränderung und kognitive Beeinträchtigungen während der ersten Monate nach dem Unfall zu einer Besserung gekommen ist, keine Dokumentation vorliegt, was aber einen Decrescendo-Verlauf nicht ausschließt. Eine diffuse axonale Schädigung als mögliches Erklärungsmodell für die Entstehung des organischen Psychosyndroms nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma kann demnach vorliegend mit dem Argument des fehlenden Decrescendo-Verlaufs ausgeschlossen werden.

Da es sich aufgrund der über achtstündigen Amnesie um ein schweres Schädel-Hirn-Trauma handelte und die Auswirkungen des organischen Psychosyndroms schwer sind, haben alle Gutachter, die eine solche Diagnose bejahen, einstimmig und zu Recht die MdE mit 70 v. H. angesetzt. Der für die Bemessung der MdE bei organischem Psychosyndrom und organischer Wesensänderung schwerer Art in der Literatur vorgesehene Rahmen liegt nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. A. 2010, S. 186 zwischen 60 und 100 v. H. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die durch das schwere Schädel-Hirn-Trauma verursachten kognitiven Beeinträchtigungen sowie die organisch bedingte Wesensveränderung aufgrund der gravierenden Auswirkungen auf sein Berufsleben als schwer zu werten sind. Mit 70 v. H. bewegt sich die Einstufung im mittleren Bereich des für schwere Veränderungen eröffneten Rahmens. Nicht überzeugend ist dagegen die Festsetzung einer MdE von nur 50 v. H. im Gutachten des M-P.-Instituts vom 20.10.2014. Davon abgesehen, dass dieses Gutachten eine MdE auf privatrechtlichem Gebiet betrifft, fehlt diesbezüglich eine überzeugende Begründung, insbesondere fehlt jegliche Auseinandersetzung mit den für die gesetzliche Unfallversicherung ergangenen Gutachten, soweit diese eine MdE von 70 v. H. vorsehen. Das Gutachten gibt auch keine Literaturstellen an, so dass nicht überprüft werden kann, ob es sich bei den in dem Gutachten angewandten Maßstäben um solche der privaten Unfallversicherung handelt, die von den in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Maßstäben abweichen. Im Übrigen räumt auch das Gutachten des M-P.-Instituts ausdrücklich die Möglichkeit ein, dass in der Vergangenheit die MdE höher gewesen sein mag.

Keine neuen Gesichtspunkte haben sich aus der von der Beklagten zu dem Gutachten des M-P.-Instituts vom 20.10.2014 eingeholten gutachterlichen Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. H. vom 09.03.2015 ergeben. Diese Stellungnahme beschränkte sich auf die Wiederholung des bereits bekannten Arguments, dass ein organisches Psychosyndrom ohne Nachweis einer substantiellen Hirnschädigung nicht nachvollziehbar sei. Dr. H. setzt hier unzulässigerweise den geforderten Nachweis einer substantiellen Hirnschädigung gleich mit einem bildgebenden Nachweis. Dr. H. setzt sich nicht mit der ausführlichen Begründung der Diagnose eines organischen Psychosyndroms nach Schädel-Hirn-Trauma im Gutachten des M-P.-Instituts auseinander, die dort anhand der diagnostischen Kriterien für Forschung und Praxis der internationalen Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10 F 07.2) erfolgt. Nach diesen Kriterien spielt es keine Rolle, ob der Kl. initial bewusstlos war oder nicht, es genügt ein Schädeltrauma, das „gewöhnlich“ schwer genug ist, um zu Bewusstlosigkeit zu führen. Am Vorliegen eines solchen Traumas besteht im vorliegenden Fall kein Zweifel. Die diagnostischen Leitlinien weisen ausdrücklich darauf hin, dass objektive Nachweise für eine Gehirnschädigung mit bildgebenden Verfahren fehlen können bzw. sogar oft negativ sind. Hinzu kommt der Nachweis einer Bewusstseinseintrübung, die im Krankenhaus eingetreten ist und dort auch - was Dr. H. in seiner Stellungnahme abermals verschweigt - dokumentiert wurde, nämlich auf dem Formular zur Begründung der Notwendigkeit einer craniellen Computertomographie.

Da bereits das organische Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma mit schweren Folgen für sich allein die beantragte MdE von 70 v. H. begründet, kann dahinstehen, ob der Kl. darüber hinaus an einer PTBS als Unfallfolge leidet oder für eine gewisse Zeit in der Vergangenheit gelitten hat. Soweit diesbezüglich der Sachverständige Dr. Dr. D. im Einklang mit Prof. Dr. S. die Möglichkeit der Diagnose einer PTBS von vornherein mit der Begründung verneint, unfallbedingte Bewusstlosigkeit und PTBS schlössen sich gegenseitig aus, weil das Trauma bei der PTBS tatsächlich bewusst erlebt worden sein musste, ist der Einwand im Gutachten des Prof. Dr. W. vom M-P.-Institut berechtigt, dass eine commotionell bedingte Bewusstlosigkeit oder Amnesie die Diagnose einer PTBS nicht ausschließt, da eine nach dem Unfall eingetretene Bewusstlosigkeit

oder Amnesie nicht zwangsläufig bedeutet, dass sich das Unfallopfer nicht an das Unfallereignis selbst erinnern kann, was im Falle des Kl. auch zutrifft. Da die Feststellung der PTBS als Unfallfolge nicht beantragt ist und die Verletztenrente in der beantragten Höhe einer MdE von 70 v. H. auch ohne die Feststellung einer PTBS zugesprochen werden kann, braucht diese Frage jedoch nicht entschieden zu werden. Schließlich kann aus denselben Gründen dahinstehen, ob der Kläger zusätzlich an einem chronischen posttraumatischen Kopfschmerz als weitere Unfallfolge leidet, wie sie erstmalig im Gutachten des M-P.-Instituts vom 20.10.2014 festgestellt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).

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Referenzen - Gesetze

Bayerisches Landessozialgericht Urteil, 15. Juli 2015 - L 2 U 518/11 zitiert 9 §§.

Gesetz über den Lastenausgleich


Lastenausgleichsgesetz - LAG

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 144


(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hier

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 124


(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. (3) Entscheidungen des Gerichts, d

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 86


Wird während des Vorverfahrens der Verwaltungsakt abgeändert, so wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens; er ist der Stelle, die über den Widerspruch entscheidet, unverzüglich mitzuteilen.

Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) - SGB 7 | § 56 Voraussetzungen und Höhe des Rentenanspruchs


(1) Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versich

Referenzen

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

(3) Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen, soweit nichts anderes bestimmt ist.

Wird während des Vorverfahrens der Verwaltungsakt abgeändert, so wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens; er ist der Stelle, die über den Widerspruch entscheidet, unverzüglich mitzuteilen.

(1) Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern. Den Versicherungsfällen stehen gleich Unfälle oder Entschädigungsfälle nach den Beamtengesetzen, dem Bundesversorgungsgesetz, dem Soldatenversorgungsgesetz, dem Gesetz über den zivilen Ersatzdienst, dem Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden, dem Häftlingshilfegesetz und den entsprechenden Gesetzen, die Entschädigung für Unfälle oder Beschädigungen gewähren.

(2) Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Bei jugendlichen Versicherten wird die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach den Auswirkungen bemessen, die sich bei Erwachsenen mit gleichem Gesundheitsschaden ergeben würden. Bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit werden Nachteile berücksichtigt, die die Versicherten dadurch erleiden, daß sie bestimmte von ihnen erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen können, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihnen zugemutet werden kann, ausgeglichen werden.

(3) Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird Vollrente geleistet; sie beträgt zwei Drittel des Jahresarbeitsverdienstes. Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit wird Teilrente geleistet; sie wird in der Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.