Bundesarbeitsgericht Urteil, 22. Mai 2012 - 1 AZR 104/11

published on 22/05/2012 00:00
Bundesarbeitsgericht Urteil, 22. Mai 2012 - 1 AZR 104/11
ra.de-Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}
Referenzen - Gesetze

Gericht

There are no judges assigned to this case currently.
addJudgesHint

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 16. September 2010 - 14 Sa 272/10 - wird auf seine Kosten zurück gewiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über eine Tariflohnerhöhung.

2

Der Kläger ist bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängern seit 1991 als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte ist OT-Mitglied im Verband der hessischen Metall- und Elektrounternehmen; in ihren Betrieben sind Betriebsräte gebildet.

3

Nach dem zwischen der IG Metall und dem Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen e.V. abgeschlossenen Tarifvertrag über Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen vom 17. November 2008 (LTV 2008) erhöhte sich der Grundlohn für die Zeit-, Akkord- und Prämienlohnarbeiter ab dem 1. Februar 2009 um 2,1 % und um weitere 2,1 % ab dem 1. Mai 2009 (§ 2 Nr. 1 Buchst. a, b LTV 2008). § 5 LTV 2008 lautet:

        

„Verschiebbarkeit der Entgelterhöhung ab 1. Mai 2009

        

Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kann der Beginn der Tarifperiode gem. § 2 Ziff. 1 b) bzw. § 3 Ziff. 1 b) und § 8 Ziff. 1, 3. Abs. entsprechend der wirtschaftlichen Lage des Betriebes vom 1. Mai 2009 längstens bis zum 1. Dezember 2009 verschoben werden. In diesem Fall gelten die Lohn- und Gehaltstabellen sowie die Ausbildungsvergütungen vom 1. Februar 2009 bis zu dem in der Betriebsvereinbarung festgelegten Termin weiter. ...“

4

Die Beklagte hatte Tariferhöhungen jedenfalls in der Vergangenheit an ihre Arbeitnehmer weitergegeben. Ende April 2009 gab sie allerdings durch Aushang bekannt, dass Entscheidungen über mögliche Erhöhungen der Löhne und Gehälter für das Jahr 2009 bis Mitte/Ende Juni 2009 ausgesetzt werden. In einer Mitarbeiterinformation von Ende Juni 2009 kündigte sie an, aufgrund des gegenwärtigen schwierigen wirtschaftlichen Gesamtumfeldes eine Entscheidung über die Lohnerhöhungen nicht vor Ende September 2009 treffen zu können.

5

Die Beklagte schloss mit ihrem Gesamtbetriebsrat am 9. November 2009 eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Entgeltanpassung (GBV 2009) ab, wonach die zweite Stufe der Gehaltserhöhung erst ab dem 1. Oktober 2009 wirksam werden sollte.

6

Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger die Zahlung der 2,1%igen Lohnerhöhung für die Monate Mai bis September 2009 verlangt. Er hat gemeint, die Beklagte sei nach den vertraglichen Vereinbarungen sowie aufgrund betrieblicher Übung zur Weitergabe der tariflich vereinbarten Lohnerhöhungen verpflichtet. Durch die erst am 9. November 2009 abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung könne der Zeitpunkt der vorgesehenen Lohnerhöhung nicht mehr verschoben werden.

7

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 316,55 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 63,31 Euro seit dem 1. Juni 2009, 1. Juli 2009, 1. August 2009, 1. September 2009 und 1. Oktober 2009 zu zahlen.

8

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

9

Das Arbeitsgericht hat der Klage entsprochen, das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Ob der Kläger auch aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung oder aufgrund betrieblicher Übung eine Lohnerhöhung entsprechend § 2 Nr. 1 b) LTV 2008 verlangen kann, bedarf keiner Entscheidung. Die GBV 2009 hat den Zeitpunkt für die zweite Stufe der Tariferhöhung wirksam auf den 1. Oktober 2009 hinausgeschoben.

11

1. Nach § 5 Satz 1 LTV 2008 kann der Beginn der Tarifperiode für das Wirksamwerden der zweiten Stufe der Lohnerhöhung entsprechend der wirtschaftlichen Lage des Betriebs durch freiwillige Betriebsvereinbarung vom 1. Mai 2009 bis längstens zum 1. Dezember 2009 verschoben werden. Entgegen der Auffassung des Klägers konnte diese Betriebsvereinbarung auch noch nach dem 1. Mai 2009 abgeschlossen werden. Dies ergibt die Auslegung des LTV 2008.

12

a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags erfolgt nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen verfolgte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit dies in den tariflichen Normen Niederschlag gefunden hat. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags oder die praktische Tarifübung ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 5. Juli 2011 - 1 AZR 868/09 - Rn. 14).

b) Eine Tariföffnungsklausel, die den Betriebsparteien die abweichende Ausgestaltung der Tarifnormen durch eine nicht erzwingbare Betriebsvereinbarung ermöglicht, ist ohne Hinzutreten besonderer Umstände dahingehend auszulegen, dass diese entsprechend den für tarifliche Normen geltenden Grundsätzen auch rückwirkende Regelungen treffen können. Ein solches Verständnis belässt den Betriebsparteien in zeitlicher Hinsicht den ihnen durch eine Tariföffnungsklausel geschaffenen Freiraum. Wollen die Tarifvertragsparteien diesen begrenzen, muss das im Tarifvertrag deutlich zum Ausdruck kommen.

13

c) Anhaltspunkte dafür, dass der Abschluss der in § 5 Satz 1 LTV 2008 vorgesehenen Betriebsvereinbarung nur bis zum 1. Mai 2009 erfolgen durfte, bestehen nicht.

14

aa) Die Tarifvertragsparteien haben den Zeitpunkt, bis zu dem die nach § 5 Satz 1 LTV 2008 mögliche freiwillige Betriebsvereinbarung abgeschlossen werden konnte, nicht ausdrücklich bestimmt. Der Wortlaut der Tarifnorm rechtfertigt nicht die Annahme, die betriebliche Regelung habe bis zum 1. Mai 2009 zustande gekommen sein müssen. In zeitlicher Hinsicht bedeutet das Verb „verschieben“ ein Ereignis auf einen späteren Zeitpunkt verlegen oder dafür einen späteren Zeitpunkt bestimmen. Das in § 5 Satz 1 LTV 2008 bezeichnete Ereignis war der Termin des Wirksamwerdens der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung des Jahres 2009. Über den Zeitpunkt, bis zu dem die dafür erforderliche Betriebsvereinbarung abgeschlossen sein musste, verhält sich die Tarifnorm jedoch nicht.

15

bb) Auch der Regelungszweck von § 5 Satz 1 LTV 2008 spricht gegen eine datumsmäßige Beschränkung der betrieblichen Regelungsbefugnis.

16

Mit der Möglichkeit, den Zeitpunkt für die zweite Stufe der Tariflohnerhöhung um bis zu sieben Monate zu verschieben, sollte es den Betriebsparteien gestattet werden, den mit der Tariflohnerhöhung verbundenen Personalkostenanstieg zu begrenzen. Dies setzt den Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung (§ 88 BetrVG) voraus. Deren Zustandekommen erfordert die Offenlegung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse durch den Arbeitgeber. Erst nach deren Kenntnis kann der Betriebsrat sachgerecht beurteilen, ob er einer betrieblichen Regelung zustimmt, durch die der Belegschaft für einen Zeitraum von bis zu sieben Monaten ein Teil der Tariflohnerhöhung des Jahres 2009 vorenthalten wird. Die Tarifvertragsparteien konnten daher davon ausgehen, dass die Betriebsparteien die nach § 5 Satz 1 LTV 2008 erforderliche Betriebsvereinbarung erst abschließen, wenn sie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betriebs im Zeitraum zwischen Mai und November 2009 einschätzen können. Dies spricht gegen ein Verständnis der Tarifnorm, das einen Abschluss der Betriebsvereinbarung bereits vor dem 1. Mai 2009 gebietet.

17

2. Das Hinausschieben der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung auf einen nach dem 1. Mai 2009 liegenden Zeitpunkt verstößt nicht gegen das für Tarifnormen geltende rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.

18

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts tragen tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch Tarifvertrag in sich. Dies gilt selbst für bereits entstandene und fällig gewordene, aber noch nicht abgewickelte Ansprüche. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zu einem rückwirkenden Eingriff in ihr Regelwerk ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Normunterworfenen begrenzt. Insoweit gelten die gleichen Regeln wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (zB BVerfG 15. Oktober 1996 - 1 BvL 44, 48/92 - zu C III 2 a der Gründe, BVerfGE 95, 64). Ob und wann die Tarifunterworfenen mit einer rückwirkenden Regelung rechnen müssen, ist eine Frage des Einzelfalls (BAG 11. Oktober 2006 - 4 AZR 486/05 - Rn. 26, BAGE 119, 374). Dabei ist das Vertrauen in den Bestand des tariflichen Anspruchs unabhängig davon schutzwürdig, ob der Tarifvertrag für das Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien gilt oder ob dessen Anwendung vertraglich vereinbart ist (BAG 17. Oktober 2007 - 4 AZR 812/06 - Rn. 26, AP BAT § 53 Nr. 9). In der Regel müssen Arbeitnehmer nicht damit rechnen, dass in bereits entstandene Ansprüche eingegriffen wird, auch wenn sie noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind. Etwas anderes gilt nur dann, wenn bereits vor der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Tarifvertragsparteien diesen Anspruch zuungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur Voraussetzung, dass der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist vielmehr die Kenntnis der betroffenen Kreise (BAG 22. Oktober 2003 - 10 AZR 152/03 - zu II 3 a der Gründe, BAGE 108, 176).

19

b) Die Betriebsparteien haben in der GBV 2009 die zweite Stufe der Tariflohnerhöhung wirksam bis zum 1. Oktober 2009 hinausgeschoben.

20

Der GBV 2009 kommt keine echte Rückwirkung zu. Sie greift nicht zulasten des Klägers in einen bereits abgeschlossenen Tatbestand ein. Die Beklagte hatte die nach § 2 Nr. 1 b) LTV 2008 entstandenen und fällig gewordenen Ansprüche bis zum Abschluss der GBV 2009 noch nicht erfüllt. Der von den Betriebsparteien geregelte Lebenssachverhalt war deshalb noch nicht abgewickelt. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist nicht verletzt. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf die Weitergabe der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung bereits ab dem 1. Mai 2009 war nicht entstanden. Der Kläger musste nach den an die Belegschaft gerichteten Mitteilungen der Beklagten von Ende April 2009 und dessen Bestätigung durch Schreiben vom Juni 2009 damit rechnen, dass die Betriebsparteien von der in § 5 Satz 1 LTV 2008 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch machen und den in § 2 Nr. 1 b) LTV 2008 bestimmten Zeitpunkt bis zum 1. Dezember 2009 hinausschieben. Dazu brauchte die Beklagte auch nicht ausdrücklich auf den Abschluss der dazu notwendigen freiwilligen Betriebsvereinbarung hinweisen.

        

    Schmidt    

        

    Linck    

        

    Koch     

        

        

        

    Wisskirchen    

        

    N. Schuster    

                 
ra.de-Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}
{{count_recursive}} Urteilsbesprechungen zu {{shorttitle}}

4 Referenzen - Gesetze

{{title}} zitiert {{count_recursive}} §§.

Durch Betriebsvereinbarung können insbesondere geregelt werden 1. zusätzliche Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Gesundheitsschädigungen;1a. Maßnahmen des betrieblichen Umweltschutzes;2. die Errichtung von Sozialeinrichtungen, deren Wirk

(1) Der Anspruch auf Zahlung der Lotsabgaben und der Lotsgelder verjährt nach drei Jahren. Die Verjährung beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch fällig geworden ist. (2) Die Verjährung ist gehemmt, solange der Anspruch innerhalb

Annotations

(1) Der Anspruch auf Zahlung der Lotsabgaben und der Lotsgelder verjährt nach drei Jahren. Die Verjährung beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch fällig geworden ist.

(2) Die Verjährung ist gehemmt, solange der Anspruch innerhalb der letzten sechs Monate der Frist wegen höherer Gewalt nicht verfolgt werden kann.

(3) Die Verjährung wird unterbrochen durch Zahlungsaufforderung, durch Zahlungsaufschub, durch Stundung, durch Aussetzen der Vollziehung, durch Sicherheitsleistung, durch eine Vollstreckungsmaßnahme, durch Vollstreckungsaufschub, durch Anmeldung im Konkurs und durch Ermittlung des Gläubigers über Wohnsitz und Aufenthalt des Zahlungspflichtigen.

(4) Mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Unterbrechung endet, beginnt eine neue Verjährung.

(5) Wird eine Entscheidung über die zu entrichtenden Lotsabgaben und Lotsgelder angefochten, so erlöschen Ansprüche aus ihr nicht vor Ablauf von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung unanfechtbar geworden ist oder das Verfahren sich auf andere Weise erledigt hat.

Durch Betriebsvereinbarung können insbesondere geregelt werden

1.
zusätzliche Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Gesundheitsschädigungen;
1a.
Maßnahmen des betrieblichen Umweltschutzes;
2.
die Errichtung von Sozialeinrichtungen, deren Wirkungsbereich auf den Betrieb, das Unternehmen oder den Konzern beschränkt ist;
3.
Maßnahmen zur Förderung der Vermögensbildung;
4.
Maßnahmen zur Integration ausländischer Arbeitnehmer sowie zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Betrieb;
5.
Maßnahmen zur Eingliederung schwerbehinderter Menschen.

(1) Der Anspruch auf Zahlung der Lotsabgaben und der Lotsgelder verjährt nach drei Jahren. Die Verjährung beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch fällig geworden ist.

(2) Die Verjährung ist gehemmt, solange der Anspruch innerhalb der letzten sechs Monate der Frist wegen höherer Gewalt nicht verfolgt werden kann.

(3) Die Verjährung wird unterbrochen durch Zahlungsaufforderung, durch Zahlungsaufschub, durch Stundung, durch Aussetzen der Vollziehung, durch Sicherheitsleistung, durch eine Vollstreckungsmaßnahme, durch Vollstreckungsaufschub, durch Anmeldung im Konkurs und durch Ermittlung des Gläubigers über Wohnsitz und Aufenthalt des Zahlungspflichtigen.

(4) Mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Unterbrechung endet, beginnt eine neue Verjährung.

(5) Wird eine Entscheidung über die zu entrichtenden Lotsabgaben und Lotsgelder angefochten, so erlöschen Ansprüche aus ihr nicht vor Ablauf von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung unanfechtbar geworden ist oder das Verfahren sich auf andere Weise erledigt hat.