Amtsgericht Sigmaringen Beschluss, 16. Sept. 2008 - 1 F 277/08

published on 16/09/2008 00:00
Amtsgericht Sigmaringen Beschluss, 16. Sept. 2008 - 1 F 277/08
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Tenor

1. Folgende einseitige Willenserklärung von Frau K. und Herrn H. wird ersetzt:

Das Mietverhältnis mit Herrn J.H., wohnhaft in I. über die Wohnung, Erdgeschoß, in der Stadt S. wird fristlos gekündigt.

2. Den Eltern wird untersagt, die Familien-Mietwohnung in der ....Str., Stadt S. ab Rechtskraft der Entscheidung mit den Kindern P., geb. 21.01.2002, J., geb. 14.05.2004, L., geb. 24.01.2007, zu nutzen.

3. Die Eltern Frau K. und Herrn H. werden verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das Kind J., geb. 14.05.2004, regelmäßig den Kindergarten besucht.

4. Die Eltern tragen gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens.

5. Geschäftswert: 3.000,00 EUR

Gründe

 
1. Frau K. und Herr H. sind nicht miteinander verheiratet. Sie sind Eltern der Kinder J., geb. 14.05.2004, und L. , geb. 24.01.2007. In der Familie lebt außerdem das Kind P. , geb. 21.01.2002, dessen Vater Herr R. K. ist. Die elterliche Sorge für P. steht der Mutter allein zu; für die Kinder J. und L. üben sie die Eltern gemeinsam aus.
Die Mutter ist seit kurzem berufstätig; während der Probezeit stellte sich allerdings heraus, dass sie nicht die vom Arbeitgeber erwartete Arbeitsleistung (über 60 Stunden in der Woche als Bedienung) ohne - weitere - Beeinträchtigung des Kindeswohles und ihres eigenen gesundheitlichen Zustandes erbringen kann; es ist offen, inwieweit eine Reduzierung der Arbeitszeit möglich ist.
Der Vater ist nicht berufstätig. Die Familie hatte bisher von Sozialleistungen gelebt.
Die Familie K./H. wohnt in einer Erdgeschosswohnung des Hauses in Sigmaringen. Es handelt sich um eine Mietwohnung. Vermieter ist Herr J.H., in der Gemeinde I.
2. Bereits in dem vorausgegangenen Verfahren 1 F 263/07 hat der erkennende Richter bei einem Augenschein am 22.08.2007 (vgl. Aktenvermerk Bl. 6 jener Akten) erhebliche, auch gesundheitsgefährdende Mängel der Wohnung festgestellt. Der Vater hatte daraufhin zugesagt, zusammen mit dem Vermieter in Eigenarbeit diese Mängel abzustellen. Die Eltern haben auch die Miete gemindert. Außerdem war zugesagt worden, dass man sich intensiv um eine andere Wohnung bemühe. Die Eltern hatten bisher keinen Erfolg, was seine Ursache einerseits in der nachlässigen Art der Eltern, wie sie organisatorische Fragen angehen, ihren Grund hat, andererseits aber auch daran, dass es für eine sozialschwache Familie mit 3 Kindern nicht einfach ist, eine - auch nach den Kriterien der ARGE S. angemessene - Wohnung zu bezahlbarem Mietzins zu finden. Die Zustände in der Wohnung haben sich mittlerweile so verschlechtert, dass eine erhebliche Gesundheitsgefahr besteht. Nicht nur, dass von 8 Glasscheiben 3 defekt sind und dass der Hausflur nicht vor eindringendem Regenwasser geschützt ist, es gibt weitere erhebliche Mängel. Insbesondere ist darauf zu verweisen, dass die Wohnung schimmlig ist, dass Abflüsse im Badezimmer verstopft sind, dass die Heizung nicht regulierbar ist und deutliche Anzeichen dafür bestehen, dass die Wohnung von Ratten befallen ist. Nach wie vor sind in Flur und Küche Fliesen und Boden so defekt sind, dass Wasser aus dem Untergrund in die Wohnräume steigt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Feststellungen des Amtes für Gesundheit des Landratsamtes S. vom 27.08.2008 (Bl. 11/12 d.A.) Bezug genommen.
Auch wenn die Kinder die besondere und über das übliche Maß hinausgehende Fürsorge des Arztes Dr. Sch. genießen, der auch dafür gesorgt hat, dass die notwendigen Impfungen, welche die Eltern vernachlässigt hatten, nachgeholt wurden, muss von einer aktuellen Gefährdung der Kinder in diesen für Wohnzwecke nicht mehr geeigneten Räumen ausgegangen werden.
3. Da die Eltern bisher weder die Wohnung gekündigt haben noch die Suche nach einer Ersatzwohnung erfolgreich gewesen ist - aus welchen Gründen auch immer - ist im Interesse des gesundheitlichen Wohles der Kinder durch das Familiengericht dafür zu sorgen, dass diese ungeeignete Wohnung jedenfalls nicht länger als unbedingt notwendig als Familienwohnung genutzt wird. Als mildestes Mittel, welches das Sorgerecht der Eltern geringer tangiert als ein - teilweiser - Entzug, war deshalb gem. § 1666 Abs.3 Nr.5 BGB die einseitige Willenserklärung einer fristlosen Kündigung aus gesundheitlichen Gründen gem. § 569 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 543 BGB gegenüber dem Vermieter Herrn J.H., wohnhaft in I., zu ersetzen und durch diese Entscheidung auszusprechen. Dem Vermieter ist der gesundheitsgefährdende Zustand der Wohnung seit langem bekannt, ohne dass er Abhilfe geschaffen hat. (§ 543 Abs.3 S.2 BGB). Die Möglichkeit einer Ersetzung der Willenserklärung der Eltern bestand bereits nach altem Recht ( so für die Zustimmung für ein Gutachten: OLG Zweibrücken, FamRZ 1999, 521).
4. Außerdem war zu verfügen, dass die Eltern gem. § 1666 Abs. 3 Nr. 3 BGB die von ihnen bewohnte und jedenfalls für die Kinder gesundheitsgefährdende Wohnung nicht mehr ab Rechtskraft des Beschlusses nutzen dürfen. Die Eltern sind daher verpflichtet, sich sofort intensiv um eine andere Wohnung zu bemühen. Dabei haben sie die von Landkreis, ARGE und Stadt zur Verfügung gestellten Hilfen zu nutzen. Notfalls ist es Aufgabe der Stadt Sigmaringen als Obdachlosenbehörde, die Familie so unterzubringen, dass die Kinder nicht weiter gesundheitlich gefährdet sind.
5. Die Wohnverhältnisse der Eltern der Kinder P. , J. und L. haben es mit sich gebracht, dass die Kinder nur wenig Kontakt zu anderen Gleichaltrigen haben. Die Mutter ist aufgrund der Lebenssituation der Familie manchmal so überfordert, dass sie sich nicht anders zu helfen weiß, als etwa das älteste Kind auch körperlich mit Klapsen zu bestrafen, wohl wissend, dass Gewalt in der Erziehung verboten ist. Auch der Hausarzt der Familie, den jene von der Schweigepflicht entbunden hat, vertritt aus ärztlicher Sicht die Auffassung, dass es den Kindern von ihrer Entwicklung her förderlich ist, wenn sie regelmäßig den Kindergarten besuchen. Deshalb hat das Gericht für J. [P. besucht seit September die Grundschule] eine entsprechende Anordnung nach § 1666 Abs.3 Nr.2 BGB getroffen. Der im Wortlaut der Vorschrift enthaltene Bezug zur Schulpflicht stellt ein Regelbeispiel ( vergleiche „insbesondere“) dar; wenn - wie hier notwendig - kann auch der regelmäßige Kindergartenbesuch vom Familienrichter verpflichtend gemacht werden, selbst wenn es keine gesetzliche „Kindergartenpflicht“ (ähnlich der Schulpflicht) gibt.
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6. Nicht erforderlich ist es derzeit, dass die Eltern, wie vom Jugendamt vorgeschlagen, mit einer ambulante sozialpädagogische Familienhilfe einverstanden sind. Das Gericht hat sich in allen mündlichen Verhandlungen, zuletzt in derjenigen vom 29.08.2008, davon überzeugt, dass die Kinder wohlerzogen und interessiert sind. Sie gehen auf fremde Personen unbefangen und freundlich zu, ohne distanzlos zu sein. Die Kinder können ruhig miteinander spielen und halten sich an die Bitten der Erwachsenen, ungestört ein Thema besprechen zu können. Die Kinder wachsen in ihrer sozialen Umgebung auf, auch wenn diese objektiv nicht die besten Entwicklungschancen bietet. Das staatliche Wächteramt der Jugendbehörden und des Familiengerichts lässt es nicht zu, in die Familie einzugreifen, soweit nicht die Kinder objektiv gefährdet sind (BVerfG, JAmt 2006,516 und FamRZ 2008, 492; OLG Brandenburg FamRZ 2008, 1556 ff).
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Es besteht die Erwartung, dass sich die Verhältnisse auch innerhalb der Familienbeziehungen nachhaltig verbessern, wenn die Wohnsituation eine andere ist. Es ist zu erwarten, dass auch dann die vom Arzt des Gesundheitsamtes festgestellten Vermüllungstendenzen ihr Ende finden.
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7. Da die Eltern durch ihr Verhalten das Verfahren veranlasst haben, haben sie auch die Gerichtsgebühr zu tragen.
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(1) Jede Vertragspartei kann das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vert

(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der

Annotations

(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.

(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere

1.
Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2.
Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3.
Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4.
Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5.
die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6.
die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.

(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.

(1) Jede Vertragspartei kann das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

(2) Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor, wenn

1.
dem Mieter der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache ganz oder zum Teil nicht rechtzeitig gewährt oder wieder entzogen wird,
2.
der Mieter die Rechte des Vermieters dadurch in erheblichem Maße verletzt, dass er die Mietsache durch Vernachlässigung der ihm obliegenden Sorgfalt erheblich gefährdet oder sie unbefugt einem Dritten überlässt oder
3.
der Mieter
a)
für zwei aufeinander folgende Termine mit der Entrichtung der Miete oder eines nicht unerheblichen Teils der Miete in Verzug ist oder
b)
in einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung der Miete in Höhe eines Betrages in Verzug ist, der die Miete für zwei Monate erreicht.
Im Falle des Satzes 1 Nr. 3 ist die Kündigung ausgeschlossen, wenn der Vermieter vorher befriedigt wird. Sie wird unwirksam, wenn sich der Mieter von seiner Schuld durch Aufrechnung befreien konnte und unverzüglich nach der Kündigung die Aufrechnung erklärt.

(3) Besteht der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Mietvertrag, so ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten angemessenen Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig. Dies gilt nicht, wenn

1.
eine Frist oder Abmahnung offensichtlich keinen Erfolg verspricht,
2.
die sofortige Kündigung aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen gerechtfertigt ist oder
3.
der Mieter mit der Entrichtung der Miete im Sinne des Absatzes 2 Nr. 3 in Verzug ist.

(4) Auf das dem Mieter nach Absatz 2 Nr. 1 zustehende Kündigungsrecht sind die §§ 536b und 536d entsprechend anzuwenden. Ist streitig, ob der Vermieter den Gebrauch der Mietsache rechtzeitig gewährt oder die Abhilfe vor Ablauf der hierzu bestimmten Frist bewirkt hat, so trifft ihn die Beweislast.

(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.

(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere

1.
Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2.
Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3.
Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4.
Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5.
die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6.
die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.

(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.