Urteils-Kommentar zu Bundesarbeitsgericht Urteil, 21. März 2024 - 2 AZR 79/23 von ra.de Redaktion

published on 09.11.2025 15:03
Urteils-Kommentar zu Bundesarbeitsgericht Urteil, 21. März 2024 - 2 AZR 79/23 von ra.de Redaktion
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Bundesarbeitsgericht Urteil, 21. März 2024 - 2 AZR 79/23

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1. Sachverhalt und Verfahrensgang

Eine Automobilherstellerin gliederte aus einem großen Entwicklungszentrum (ITEZ) den Bereich Fahrzeug- und Antriebsstrangentwicklung mit Testanlagen, Gebäuden, IT‑Hardware/Software und organisatorischer Leitung aus, wies Mitarbeiter diesem Bereich zu und veräußerte die Wirtschaftsgüter nebst betrieblicher Leitungsmacht an eine Erwerberin (S GmbH). Der Kläger wurde kurz vor Übergang in die neue Einheit versetzt und später widersprach er – erst mehr als ein Jahr nach Zugang des Unterrichtungsschreibens – dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses. Er verlangte Beschäftigung bei der Veräußerin. Das LAG wies die Klage ab; das BAG hob auf und verwies zurück – mit zentralen rechtlichen Leitlinien zu Zuordnung, Versetzung und Unterrichtung. 

2. Kernaussagen des BAG

a) Erfassung des Arbeitsverhältnisses nur bei vorheriger wirksamer Zuordnung
Der Übergang eines Arbeitsverhältnisses setzt voraus, dass der Arbeitnehmer individual‑ und ggf. kollektivrechtlich der übergehenden wirtschaftlichen Einheit bereits vor dem Übergang zugeordnet war. Diese (Vor‑)Zuordnung kann auch durch eine Versetzung nach § 106 GewO erfolgen – sie muss allerdings wirksam sein. 

b) Keine Analogie des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB auf Versetzungen
Die Norm verbietet Kündigungen „wegen“ des Übergangs. Für eine Analogie auf Versetzungen vor einem Übergang fehle es an einer planwidrigen Regelungslücke und an einer vergleichbaren Interessenlage, weil § 613a Abs. 6 BGB dem Arbeitnehmer bereits das Widerspruchsrecht als zentrales Schutzinstrument gibt. Ergebnis: Die Rechtmäßigkeit einer Zuordnungs‑Versetzung ist am Direktionsrecht und ggf. einschlägigen Mitbestimmungsnormen zu messen, nicht am Kündigungsschutz des § 613a Abs. 4 BGB. 

c) Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB – nicht jeder Fehler hindert die Frist
Nach der nun bekräftigten Linie beginnt die Monatsfrist des § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB zu laufen, wenn das Schreiben klar und verständlich über die wesentlichen Umstände des Übergangs informiert; Fehler, die den Willensbildungsprozess des Arbeitnehmers regelmäßig nicht beeinflussen, lassen die Frist gleichwohl anlaufen. Damit rückt der Senat von früher sehr strengen Anforderungen ab, ohne die gesetzlichen Mindestinhalte infrage zu stellen. 

d) Wirtschaftliche Einheit – Zeitpunkt und „Neuschaffung“
Für das Vorliegen eines Betriebs(teil)übergangs kommt es auf die Wahrung der Identität einer auf Dauer angelegten wirtschaftlichen Einheit an; entscheidend ist die funktionale Selbständigkeit im Übergangszeitpunkt, nicht die lange Existenz der Einheit. Auch eine kurz vor dem Übergang geschaffene (Teil‑)Einheit kann wirtschaftliche Einheit sein, sofern die Spijkers‑Kriterien eingehalten sind (Art. 1 RL 2001/23/EG). 

3. Rechtliche Einordnung

Wirtschaftliche Einheit und Spijkers‑Kriterien
Der EuGH prüft die Identität eines Betriebs anhand einer Gesamtabwägung (Art der Einheit, Übergang von materiellen/immateriellen Betriebsmitteln, Hauptbelegschaft, Kundschaft, Ähnlichkeit der Tätigkeit, Unterbrechung, Dauer). Diese Maßstäbe gelten in Deutschland seit langem (Spijkers; Ayse Süzen). Das BAG fügt sich ein: Maßgeblich ist die organisatorische Verfestigung einer klar abgegrenzten Einheit (Leitung, Ressourcen, Prozesse) – im entschiedenen Fall durch eigene Bereichsleiter, Abgrenzungen, Leadership‑Konferenzen und die fortgesetzte Tätigkeit ohne wesentliche Unterbrechung.

Zuordnung vor Übergang und Versetzung
Die praxisrelevante Weichenstellung: Wer in die übergehende Einheit fällt, entscheidet sich vor dem Übergang. Unternehmen dürfen hierfür das Direktionsrecht nutzen. Gerichtlich überprüfbar bleibt, ob die Versetzung die vertraglich geschuldete Tätigkeit und billigem Ermessen entspricht und ob Mitbestimmungsrechte gewahrt sind. Eine „Versetzungssperre“ aus § 613a Abs. 4 BGB lehnt das BAG überzeugend ab, weil der Gesetzgeber Schutzzwecke anders (Widerspruchsrecht) geregelt hat; eine planwidrige Lücke besteht nicht. 

Unterrichtung und Fristanlauf
Konsequent stärkt der Senat die Rechtssicherheit: Für den Fristanlauf genügt ein verständlich formuliertes Schreiben; Detailfehler (etwa über interne Registrierangaben des Erwerbers oder Randdaten) blockieren die Frist nicht, solange die Kerninformationen (Zeitpunkt, Gegenstand, rechtliche/soziale Folgen, Identität des Erwerbers, Widerspruchsablauf) erteilt sind. Damit konsolidiert das BAG seine jüngere Rechtsprechung zur Unterrichtung.

4. Ergebnis der Entscheidung

Das BAG hat nicht abschließend entschieden, ob das Arbeitsverhältnis des Klägers überging; es hat das LAG zur neuen Verhandlung verpflichtet. Maßgeblich wird sein, ob die Versetzung wirksam war und ob die Unterrichtung den Fristanlauf auslöste (der Widerspruch wäre dann verspätet). 

5. Bewertung: Ist die Entscheidung richtig?

Die dogmatische Linie überzeugt. Die Nicht‑Analogie des § 613a Abs. 4 BGB respektiert die Kompetenzordnung und den Normtext; das Schutzkonzept des § 613a (Widerspruch statt Versetzungssperre) ist geschlossen. Gleichzeitig verhindert die Absenkung überzogener Anforderungen an die Unterrichtung, dass jahrelange Rechtsunsicherheit über den Bestand von Arbeitsverhältnissen entsteht. In der Praxis hätten sonst minimale Formfehler zu einer uferlosen Widerspruchsmöglichkeit geführt. Die Anknüpfung an die Spijkers‑Gesamtschau zur wirtschaftlichen Einheit harmonisiert mit der EuGH‑Rechtsprechung. 

6. Was lernen wir für die Praxis?

Für Arbeitgeber/Erwerber:

·       Rechtzeitig strukturieren: Die Bildung einer selbständigen Teil‑Einheit vor dem Übergang ist zulässig; dokumentieren Sie Leitung, Ressourcen, Prozesse und die kontinuierliche Fortführung beim Erwerber. 

·       Zuordnen – aber rechtmäßig: Versetzungen müssen vom Direktionsrecht gedeckt sein; dokumentieren Sie Sachgrund, Gleichbehandlung, Mitbestimmung. § 613a Abs. 4 BGB bietet keine zusätzliche Hürde. 

·       Unterrichtung schlank und verständlich: Achten Sie auf klare Sprache und die gesetzlichen Mindestangaben. Nicht jede Unrichtigkeit ist fatal – aber Kerninformationen sind Pflicht.

Für Arbeitnehmer/Vertretungen:

·       Zügig prüfen und handeln: Nach Zugang der Unterrichtung läuft regelmäßig die Monatsfrist. Wer widersprechen will, sollte frühzeitig rechtlichen Rat einholen. 

·       Angriffspunkte bleiben: Unwirksame Versetzung (fehlende Billigkeit/Mitbestimmung), fehlende funktionale Selbstständigkeit der Einheit oder echte Informationsdefizite können den Übergang bzw. Fristanlauf weiterhin zu Fall bringen. 

7. Abweichende Auffassungen und offene Punkte

In Teilen der Literatur und vereinzelt in der Instanzrechtsprechung wurde eine Analogie des § 613a Abs. 4 BGB auf Zuordnungsversetzungen befürwortet, um „Ausschleusungen“ kurz vor dem Übergang zu verhindern. Das BAG weist dies nun zurück – mit Hinweis auf das Widerspruchsrecht als Vollschutz. Offen bleibt die Missbrauchskontrolle: Die Verlagerung von Mitarbeitenden in einen wirtschaftlich nicht lebensfähigen Restbetrieb könnte treuwidrig sein; hierzu enthält das Urteil Hinweise, ohne den Grenzfall abschließend zu entscheiden. 

8. Einordnung in die EuGH‑Linie

Die Entscheidung ist mit den Grundsätzen aus Spijkers (Gesamtabwägung zur Identität des Betriebs) und Ayse Süzen (Abgrenzung Funktionsnachfolge) konsistent: Entscheidend ist die Übernahme einer hinreichend strukturierten Einheit und die Fortsetzung der Tätigkeit. Der Zeitpunkt und die „Neuschaffung“ der Einheit sind zweitrangig, solange die funktionale Selbstständigkeit im Übergangszeitpunkt feststeht.


Fazit

Das BAG schärft die Spielregeln für Betriebs(teil)übertragungen nach § 613a BGB: Zuordnen ja, aber rechtmäßig; Kündigungsschutz ist nicht Versetzungsschutz; Unterrichtung mit Augenmaß genügt. Für Transaktionen bedeutet das mehr Planungssicherheit, für Beschäftigte bleibt das Widerspruchsrecht das zentrale Steuerungsinstrument.

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Lastenausgleichsgesetz - LAG

(1) Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Sind diese Rechte und Pflichten durch Rec

Annotations

(1) Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Sind diese Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Satz 2 gilt nicht, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Vor Ablauf der Frist nach Satz 2 können die Rechte und Pflichten geändert werden, wenn der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung nicht mehr gilt oder bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen Tarifvertrags dessen Anwendung zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird.

(2) Der bisherige Arbeitgeber haftet neben dem neuen Inhaber für Verpflichtungen nach Absatz 1, soweit sie vor dem Zeitpunkt des Übergangs entstanden sind und vor Ablauf von einem Jahr nach diesem Zeitpunkt fällig werden, als Gesamtschuldner. Werden solche Verpflichtungen nach dem Zeitpunkt des Übergangs fällig, so haftet der bisherige Arbeitgeber für sie jedoch nur in dem Umfang, der dem im Zeitpunkt des Übergangs abgelaufenen Teil ihres Bemessungszeitraums entspricht.

(3) Absatz 2 gilt nicht, wenn eine juristische Person oder eine Personenhandelsgesellschaft durch Umwandlung erlischt.

(4) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers durch den bisherigen Arbeitgeber oder durch den neuen Inhaber wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils ist unwirksam. Das Recht zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen bleibt unberührt.

(5) Der bisherige Arbeitgeber oder der neue Inhaber hat die von einem Übergang betroffenen Arbeitnehmer vor dem Übergang in Textform zu unterrichten über:

1.
den Zeitpunkt oder den geplanten Zeitpunkt des Übergangs,
2.
den Grund für den Übergang,
3.
die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs für die Arbeitnehmer und
4.
die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen.

(6) Der Arbeitnehmer kann dem Übergang des Arbeitsverhältnisses innerhalb eines Monats nach Zugang der Unterrichtung nach Absatz 5 schriftlich widersprechen. Der Widerspruch kann gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber oder dem neuen Inhaber erklärt werden.