Zwangsweises Entsperren eines Smartphones per Fingerabdruck – Anmerkung zum BayObLG, Beschl. v. 29. Juli 2024 – 201 StRR 49/24

published on 01.12.2025 12:25
Zwangsweises Entsperren eines Smartphones per Fingerabdruck – Anmerkung zum BayObLG, Beschl. v. 29. Juli 2024 – 201 StRR 49/24
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Bayerisches Oberstes Landesgericht Beschluss, 29. Juli 2024 - 201 StRR 49/24

Author’s summary by ra.de Redaktion

Für wen ist das wichtig?

Der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) richtet sich in seiner praktischen Stoßrichtung an Strafverteidiger:innen, Ermittlungsbehörden, Ermittlungsrichter:innen und an Handels‑ und Zahlungsdienstleister (POS‑Betreiber). Er beantwortet eine hochfrequente Alltagsfrage: Welche Straftatbestände sind bei Warenkäufen mit „fremder“ Girocard erfüllt – und zwar abhängig von der Zahlungsmodalität (PIN‑Eingabe vs. kontaktlos/NFC)? Der Senat nutzt die Revision, um die tragenden Dogmen zur Variante „unbefugte Verwendung von Daten“ (§ 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB), zur Täuschungs‑/Irrtumsstruktur beim Betrug, zur Urkundenunterdrückung sowie zu Alternativdelikten neu zu sortieren. Damit schafft er Leitplanken für eine Vielzahl schwebender und künftiger Verfahren, in denen Supermarkt‑Kleinbeträge, „Tap‑to‑Pay“ und Sperrlisten aufeinandertreffen.

I. Verfahrenslage und Entscheidungsprogramm

Das Amtsgericht hatte den Angeklagten wegen vier Fällen des Computerbetrugs in Tatmehrheit mit versuchtem Computerbetrug verurteilt; das Landgericht verwarf die Berufung. Auf Revision hob das BayObLG das Urteil vollständig auf und verwies zurück. Der entscheidende Darstellungsmangel: Das Landgericht hatte nicht festgestellt, wie bezahlt wurde – mit PIN oder kontaktlos. Ohne diese Tatsachenbasis lässt sich die rechtliche Subsumtion nicht tragen. Genau hier setzt der Senat an und formuliert – im Kern als amtliche Leitsätze – zweierlei: (1) Ohne Feststellung der Zahlungsart sind die Urteilsgründe lückenhaft (§ 267 Abs. 1 S. 1 StPO). (2) Kontaktloses Bezahlen ohne PIN trägt regelmäßig keine Verurteilung nach § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB. (Amtl. LS und Gründe; vgl. die im Wortlaut veröffentlichten Entscheidungsgründe.)


II. Die dogmatische Weichenstellung des BayObLG

1. § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB („unbefugte Verwendung von Daten“) – nur bei PIN‑Eingabe

Für POS‑Zahlungen rekonstruiert der Senat den technischen und rechtsgeschäftlichen Ablauf: Bei PIN‑gestützter Autorisierung prüft das kartenausgebende Institut die Legitimation und übernimmt gegenüber dem Händler regelmäßig ein abstraktes Zahlungsversprechen. Das Verbot der PIN‑Weitergabe führt dazu, dass eine wirksame Autorisierung nur durch den berechtigten Karteninhaber erfolgen kann. Nutzt ein Nichtberechtigter mit PIN, erfüllt er die Variante der „unbefugten Verwendung von Daten“; § 263a Abs. 1 Alt. 3 StGB ist dann typischerweise einschlägig. (So bereits die Literatur und Instanzrechtsprechung; das BayObLG knüpft daran an.)

Anders die NFC‑Zahlung ohne PIN: Nach der – inzwischen weithin anerkannten – betrugsspezifischen Auslegung ist „unbefugt“ i. S. d. § 263a Alt. 3 nur, was gegenüber einem Menschen Täuschungscharakter hätte. Beim kontaktlosen Tap‑to‑Pay fehlt es an einer starken Kundenauthentifizierung gegenüber einer natürlichen Person; die Kassiererin/der Kassierer wird über die Berechtigung nicht getäuscht, weil das System bei Kleinstbeträgen gerade keine PIN verlangt. Konsequenz: Kein § 263a allein wegen des Vorhaltens der Karte an das Lesegerät. Damit führt das BayObLG die Linie des OLG Hamm fort, die bereits 2020/2021 für NFC‑Käufe ohne PIN aufgestellt wurde.

2. Betrug (§ 263 StGB) – regelmäßig ebenfalls Nein bei NFC‑Kleinbeträgen

Konsequent verneint der Senat – für den Fall ohne PIN – regelmäßig auch § 263 StGB: Der Händler erhält bei autorisierter NFC‑Transaktion unmittelbar eine einredefreie Forderung gegen die Bank; es fehlt daher sowohl an Täuschung als auch am Irrtum des Ladenpersonals. Dass der Kartenverwender „fremd“ ist, ändert daran nichts – die Bank hat das Risiko geringer Beträge bewusst systemisch verlagert (u. a. durch Staffelung/Verzicht auf PIN‑Abfragen).

3. (Versuchte) Urkundenunterdrückung (§ 274 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB) – hohe subjektive Hürden

Zwar kann die Girocard als Daten‑/Beweisurkunde fungieren. Für § 274 genügt aber nicht irgendeine Vermögensbeeinträchtigung; erforderlich ist die Absicht, einem anderen gerade im Beweisführungsrecht einen Nachteil zuzufügen („Nachteilszufügungsabsicht“). Daran fehlte es: Dass ein Laie weiß, sein kontaktloser Karteneinsatz beeinträchtige die Beweisfunktion der Karte (etwa zur Rekonstruktion der Verwendung), ist nicht selbstverständlich; aus den bisherigen Feststellungen ergab sich das nicht. Folge: Kein Schuldspruch nach § 274 ohne belastbare Anhaltspunkte zum spezifischen Beweisvereitelungs‑Vorsatz.


III. Konsequenzen für die neue Hauptverhandlung – Alternativdelikte

Der Senat gibt konkrete Hinweise für das weitere Verfahren:

  • § 303a StGB (Datenveränderung, Computersabotage): Beim kontaktlosen Bezahlen werden im System Daten ergänzt/verändert (z. B. Verfügungsrahmen, NFC‑Einsatzhistorie). Für das „Unterdrücken“ genügt bereits ein vorübergehender Entzug vom Zugriff des Berechtigten. Subjektiv reicht dolus eventualis; der Täter muss nicht alle IT‑Details kennen, wohl aber die Fremdheit des Datenbestimmungsrechts (Parallelwertung in der Laiensphäre).

  • § 246 StGB (Unterschlagung): Die erstmalige Nutzung der gefundenen Karte kann die Manifestation eines Zueignungswillens nach außen darstellen (kein bloßer furtum usus), weil die Karte – jedenfalls bei NFC – eigenen Vermögenswert verkörpert (Zahlungsfunktion ohne PIN). Ist jedoch Urkundenunterdrückung gegeben, tritt § 246 zurück (formelle Subsidiarität).

  • Strafantragsberechtigung: Bei § 303a/§ 246 i. V. m. § 248a sindAntragserfordernisse zu beachten. Wer ist Geschädigter? Bei rechtzeitigem Sperren zeigt das Zahlungsdienste‑Recht (insb. § 675v Abs. 5 BGB) auf dieBank; andernfalls kann das Kundenrisiko durchbrechen. Die Staatsanwaltschaft kann das besondere öffentliche Interesse bejahen.


IV. Systematische Verortung: Warum die Unterscheidung PIN vs. NFC so zentral ist

1. Technik als Deliktsdogmatik

Das POS‑Ökosystem ist bewusst mehrstufig ausgestaltet: Authentifizierung (PIN/biometrisch/keine), Autorisierung, Clearing. Wo das System bewusst auf eine starke Authentifizierung verzichtet, greift die betrugsspezifische Auslegung des § 263a Alt. 3 StGB: „Unbefugt“ ist nur, was auch gegenüber Menschen täuschte. Das ist bei NFC‑Kleinbeträgen gerade nicht intendiert; der Händler vertraut nicht auf die Identität des Präsentierenden, sondern auf die Zusage des Issuers. Die Strafbarkeit darf systemische Risikoallokation nicht durch strafrechtliche Zurechnung „reparieren“. Das ist der Kern der OLG‑Hamm‑Linie, die das BayObLG fortschreibt.

2. Beweis‑ vs. Vermögensschutz bei § 274 StGB

Die Entscheidung schärft das Bewusstsein, dass § 274kein Annex‑Vermögensdelikt ist. Es bedarf des Willens, Beweisführungsrechte zu beeinträchtigen – eine Hürde, die Alltagsdelikte am POS selten nehmen. Damit werden Fehlverlagerungen in schwere Urkundendelikte vermieden.

3. Keine Hintertür über § 263 StGB

Wer bei NFC standardmäßig Betrug annimmt, verkennt die Händler‑Issuer‑Risikoteilung. Das Strafrecht folgt der Zahlungsdogmatik, nicht umgekehrt.


V. Praxisfolgen: To‑dos für Tatrichter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung 

  • Feststellungsdichte: Gerichte müssen die Zahlungsmodalität feststellen: Gerät/Terminal, Betrag, PIN‑Abfrage ja/nein, Sperrstatus, Belege/Terminal‑Logs. Ohne dies bleibt jede Subsumtion wacklig – der vorliegende Aufhebungsbeschluss zeigt es exemplarisch.

  • Anklage‑ und Beweisstrategie: Wo NFC ohne PIN vorliegt, nicht auf § 263a oder § 263 fixieren, sondernAlternativen denken (insb. § 303a, § 246). Auf Strafanträge achten!

  • Verteidigung: In Zweifelsfällen die Feststellungslücke (PIN vs. NFC) offensiv herausarbeiten; beim Verdacht auf § 274 dieNachteilszufügungsabsicht angreifen; bei § 303a denDatenbegriff eng und die Zurechnung (Fremdheit des Datenbestimmungsrechts) kritisch beleuchten.


VI. Anschlussfragen und offene Punkte

1. Schwellenlogik der Zahlungsdiensterichtlinie/ZAG

Das BayObLG baut auf der Praxis „PIN‑Freiheit“ bei Kleinbeträgen auf. Die Frage, ab wann und unter welchen Umständen Terminals spontan wieder eine PIN verlangen („Risikoparameter“) und wie sich das auf die Subsumtion auswirkt, bleibt fallbezogen zu klären – kann aber im Einzelfall den Übergang zu § 263a (Alt. 3) triggern.

2. Versuchskonstellationen

Der Senat hebt einen Versuchsfall mit auf. Für künftige Entscheidungen wird zu präzisieren sein, wie bei abgewiesenen oder abgebrochenen NFC‑Transaktionen (Sperre, Offline‑Limit) Versuchsbeginn und unmittelbares Ansetzen sauber begründet werden.

3. Konkurrenzfragen

Kommt es kumulativ zu mehreren Tap‑to‑Pay‑Vorgängen, stellen sich Konkurrenzfragen zwischen § 303a und § 246 sowie innerhalb der Datenzugriffe. Auch hier wird die Begründungstiefe über die Strafzumessung entscheiden.


VII. Bewertung

Der Beschluss ist klar, pragmatisch und dogmatisch sauber: Er rückt die technische Realität des POS‑Zahlens in den Mittelpunkt der Subsumtion und verhindert die Überdehnung des § 263a auf Fälle, in denen der Gesetz‑ und Systemeber bewusst gegenPIN‑Abfrage optiert hat. Zugleich hält er die Tür für passgenaue Delikte offen (§ 303a/§ 246), setzt beim schweren § 274 zu Rechtsubjektiv hoch an und erinnert die Tatsachengerichte an die Pflicht zu lückenfreien Urteilsfeststellungen. Für die Praxis entsteht so ein handhabbarer Entscheidungsbaum: PIN = § 263a naheliegend; NFC ohne PIN = regelmäßig kein § 263a/§ 263, dafür Alternativen prüfen – stets getragen von genauer Technik‑ und Prozessaufklärung.


Fazit für die Praxis: Ohne klare Feststellung der Zahlungsart kein tragfähiger Schuldspruch. PIN = Computerbetrug häufig ja; kontaktlos ohne PIN = regelmäßig nein – dann sorgfältig Alternativen denken. Wer diese Struktur beherzigt, entscheidet rechtssicher und vermeidet dogmatische Übergriffigkeit.

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09.01.2025 09:17

Die Abgrenzung zwischen transitorischem Besitz und faktischer Verfügungsgewalt im Rahmen der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung nach § 73 Abs. 1 StGB ist eine Kernfrage der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH). Insbesondere zwei Entscheidungen – das Urteil des 1. Strafsenats vom 1. Juni 2022 (1 StR 421/21) und der Beschluss des 3. Strafsenats vom 10. Januar 2023 (3 StR 343/22) – beleuchten die Thematik im Zusammenhang mit Betrugstaten nach dem Modus Operandi des „falschen Polizeibeamten“.
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(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung von Urkundenfälschung oder Betrug verbunden hat,
2.
einen Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeiführt oder in der Absicht handelt, durch die fortgesetzte Begehung von Betrug eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen,
3.
eine andere Person in wirtschaftliche Not bringt,
4.
seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger oder Europäischer Amtsträger mißbraucht oder
5.
einen Versicherungsfall vortäuscht, nachdem er oder ein anderer zu diesem Zweck eine Sache von bedeutendem Wert in Brand gesetzt oder durch eine Brandlegung ganz oder teilweise zerstört oder ein Schiff zum Sinken oder Stranden gebracht hat.

(4) § 243 Abs. 2 sowie die §§ 247 und 248a gelten entsprechend.

(5) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer den Betrug als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Straftaten nach den §§ 263 bis 264 oder 267 bis 269 verbunden hat, gewerbsmäßig begeht.

(6) Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1).

(7) (weggefallen)