Rückforderung von Einsätzen beim unerlaubten Online‑Glücksspiel – Was das OLG Dresden entschieden hat und wie Betroffene jetzt vorgehen sollten

published on 08.10.2025 17:09
Rückforderung von Einsätzen beim unerlaubten Online‑Glücksspiel – Was das OLG Dresden entschieden hat und wie Betroffene jetzt vorgehen sollten
Gesetze

Oberlandesgericht Dresden Urteil, 27. Okt. 2022 - 10 U 736/22

Author’s summary by ra.de Redaktion

Wer zwischen Juni  2019 und Juni  2021 (außerhalb von Schleswig‑Holstein) in Online‑Kasinos gespielt hat, konnte oft ohne deutsche Erlaubnis zocken – rechtswidrig nach dem damals geltenden § 4 Abs. 4 GlüStV 2011. Das OLG Dresden hat mit vorliegendem Urteil einen Anbieter mit maltesischer Lizenz zur Rückzahlung der Nettoverluste verurteilt: 19.250 € plus Zinsen. Das Gericht bejaht § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB(Leistungskondiktion) und verneint die Kondiktionssperre des § 817 S. 2 BGB.

Kernaussage: Der Spielvertrag ist nichtig (§ 134 BGB) wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 GlüStV 2011; Einsätze sind ohne Rechtsgrund geleistet und können zurückgefordert werden. Einwände wie „EU‑Dienstleistungsfreiheit“, behördliche Duldung oder Treuhandkonten verfingen nicht.

1) Der Fall – kurz und präzise

  • Anbieter: in Malta ansässiges Online‑Casino mit maltesischer Lizenz, ohne deutsche Erlaubnis.

  • Spieler: wohnhaft in Sachsen; Einzahlungen 25.850 €, Auszahlungen 6.600 €Nettoverlust 19.250 € (Zeitraum 22.06.2019–29.05.2020).

  • Erstinstanz (LG Leipzig): Klageabweisung unter Hinweis auf § 817 S. 2 BGB (Kondiktionssperre).

  • Berufung (OLG Dresden): Klage statt – Rückzahlung 19.250 € zzgl. Zinsen seit Rechtshängigkeit(5 Prozentpunkte über Basiszinssatz), Kostenlast beim Anbieter, Revision nicht zugelassen.


2) Zuständigkeit & anwendbares Recht

  • Internationale Zuständigkeit: Art. 17 Abs. 1 c, 18 Abs. 1 EuGVVO (Verbrauchergerichtsstand). Der Spieler blieb trotz intensiven Spielens Verbraucher; der Anbieter richtete sein Angebot gezielt auf Deutschland (u. a. deutschsprachige Website).

  • Anwendbares Recht: Art. 6 Rom I‑VO (Verbrauchervertrag); deutsches materielles Recht gilt. Auch die Rückabwicklung nichtiger Verträge unterfällt dem Vertragsstatut.


3) Rechtsfolge: Nichtigkeit des Spielvertrags (§ 134 BGB i. V. m. § 4 Abs. 4 GlüStV 2011)

  • Rechtslage damals: § 4 Abs. 4 GlüStV 2011 verbot das Veranstalten/Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet. Das Angebot des Anbieters an Spieler in Sachsen verletzte dieses Verbot.

  • Kein „Rettungsanker“ 2021: Die spätere Öffnung des Glücksspielstaatsvertrags seit 01.07.2021 (GlüStV 2021) heilt frühere Nichtigkeiten nicht; maßgeblich ist die Rechtslage bei Vertragsschluss.

  • EU‑Recht: Das Internet‑Verbot war verfassungs‑ und unionsrechtskonform (Spieler‑/Jugendschutz, Suchteindämmung, Kriminalitätsprävention; vgl. BVerwG 8 C 14/16; EuGH u. a. Markus Stoß, Carmen Media, Zeturf). Jedenfalls scheidet eine contra‑legem‑Nichtanwendung im Privatrechtsstreit aus: § 4 Abs. 4 GlüStV 2011 war klarer Gesetzeswortlaut.

  • Behördliche „Duldung“: Verweist der Anbieter auf Verwaltungsrundschreiben (z. B. Umlaufbeschluss 8.9.2020), hilft das zivilrechtlich nicht: Zivilrechtlicher Schutz des Spielers läuft unabhängig von behördlicher Vollzugspraxis.


4) Anspruchsgrundlage: § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB (Leistungskondiktion)

  • „Erlangt“ ist, was in den Verfügungsbereich des Anbieters gelangt. Treuhand‑/RTP‑Einwände (z. B. „85 % werden wieder ausgeschüttet“) greifen nicht; die Beklagte hatte faktische Verfügungsmacht über die Einzahlungen.

  • § 762 BGB (Spiel/Wette) sperrt die Rückforderung nicht, wenn – wie hier – der Spielvertrag nichtig ist; dann gelten §§ 812 ff. BGB.


5) Häufige Einwände – und warum sie scheiterten

a) § 814 BGB (Kenntnis der Nichtschuld)

Rückforderung scheidet aus, wenn der Leistende wusste, dass er nicht zahlen musste.

  • Erforderlich ist positive Rechtskenntnis der Nichtschuld; grobe Fahrlässigkeit genügt nicht.

  • Beweislast trägt der Anbieter. Das OLG sah keinen Beweis, dass der Spieler die Illegalität kannte oder „Parallelwertung in der Laiensphäre“ zog.

b) § 817 S. 2 BGB (Kondiktionssperre bei eigenen Verstößen)

Der Anbieter berief sich auf § 285 StGB (Teilnahme am unerlaubten Glücksspiel) und wollte die Rückzahlung sperren. Das OLG reduziert § 817 S. 2 teleologisch:

  • Schutzzweck des § 4 Abs. 4 GlüStV 2011 (Spieler‑/Jugendschutz, Suchtprävention, Bekämpfung illegaler Märkte) würde konterkariert, wenn illegale Anbieter Einsätze behalten dürften.

  • Generalprävention: Rückzahlungsansprüche nehmen illegalen Angeboten den finanziellen Anreiz (Parallele: BGH zu Schneeballsystemen, III ZR 72/05; VII ZR 241/13; IX ZR 111/20).

  • Subjektive Seite: Selbst wenn der Spieler objektiv § 285 StGB erfüllt,müsste der Anbieter Vorsatz/Leichtfertigkeit des Spielers beweisen; das gelang nicht. Medienberichte genügen nicht – Glücksspielrecht ist Spezialmaterie, der Laie kennt Verbote regelmäßig nicht.

c) Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB)

Kein Erfolg, weil § 819 Abs. 2 BGB verschärfte Haftung anordnet: Wer durch Annahme der Leistung gegen ein Verbotsgesetz verstößt, haftet wie bei RechtshängigkeitAuszahlungen an andere Spieler entlasten nicht.


6) Was bedeutet das Urteil praktisch?

Für Spieler (Verbraucher)

  • Anspruchszeitraum: Besonders relevant sind Einzahlungen bis 30.06.2021, als Internet‑Casino‑Spiele (außer SH) verboten waren.

  • Rückforderbar: Nettoverluste (Einzahlungen minus erhaltene Auszahlungen/„Gewinne“) + Zinsen ab Rechtshängigkeit (§ 291 BGB i. V. m. § 288 Abs. 1 BGB).

  • Beweise sichern: Konto‑/Kreditkartenumsätze, Anbieter‑Kontoverlauf, Einzahlungs‑/Bonus‑Belege, E‑Mails/Screenshots, IP‑/Geräteprotokolle, ggf. Selbstauskunft beim Anbieter.

  • Verjährung: Regelmäßig 3 Jahre (§ 195 BGB)ab Jahresende der Kenntnis von Anspruch und Person (§ 199 Abs. 1 BGB); spätestens 10 Jahre ab Entstehung (§ 199 Abs. 4 BGB). Frühzeitige Hemmung (Mahnbescheid/Klage) prüfen.

  • Suchtproblematik: Hinweise auf Spielsucht helfen häufig bei der Beweis‑/Plausibilisierung der fehlenden Rechtskenntnis und der Treuwidrigkeits‑Einwände des Anbieters.

Für Anbieter / Zahlungsdienstleister

  • Haftungsrisiko für Nettoeinzahlungen vor 07/2021; Treuhand‑/RTP‑Modelle schützen nicht.

  • Compliance: Dokumentation zur Rechtsausrichtung (Geotargeting, Sperrlisten, Länderausschlüsse, Aufklärung), KYC/AML und Werbung in DE‑Sprache kritisch prüfen.

  • Prozessstrategie: § 814 BGB (positive Nichtschuldkenntnis) bleibt Ausnahme und ist beweisintensiv; § 817 S. 2greift eng (teleologische Reduktion).

  • Recovery‑Rückstellungen und Vergleichsangebote kalkulieren.


7) Streitstand in der Rechtsprechung – wo gibt es Gegenwind?

Das OLG Dresden steht im Einklang mit einer breiten Linie landgerichtlicher Entscheidungen, die Rückzahlungenzusprechen und § 817 S. 2 einschränken (u. a. LG Paderborn, Coburg, Gießen, Aachen, Köln, Bochum). Einzelne Gerichte (z. B. LG München I, LG Bonn) haben die Sperre weit verstanden. Obergerichte wie KG Berlin (5 U 72/19), OLG Frankfurt (23 U 55/21) und OLG Braunschweig (8 W 20/21) betonen ebenfalls die Anwendbarkeit des Verbots und die zivilrechtliche Unabhängigkeit von Verwaltungsduldungen. Das OLG Dresden verweist auf diese Linie; Revisionwurde nicht zugelassen.


8) So gehen Betroffene vor – Checkliste

  1. Zeitraum prüfen: Einzahlungen bis 30.06.2021 an Anbieter ohne deutsche Erlaubnis (außer Schleswig‑Holstein) sind potenziell rückforderbar.

  2. Nachweise sammeln: Kontoauszüge, Anbieter‑History, Kommunikationslogs, Bonusbedingungen.

  3. Anspruch berechnen: Einzahlungen – Auszahlungen = Nettoverlust.

  4. Fristen sichern: Verjährungshemmung erwägen (Mahnbescheid/Klage).

  5. Außergerichtlich vorgehen: Aufforderung mit Fristsetzung (Zahlung + Zinsen), Begründung (Nichtigkeit § 134 BGB; § 4 Abs. 4 GlüStV 2011; § 812; kein § 814; teleologische Reduktion § 817 S. 2; § 819 Abs. 2).

  6. Klageweg: Zuständigkeit am Wohnsitzgericht (Art. 17 f. EuGVVO); deutsches Recht (Art. 6 Rom I‑VO).

Hinweis: Jeder Fall ist einzelfallbezogen. Zahl der Einzahlungen, Art der Spiele, Kommunikation und Werbeauftritt des Anbieters sind entscheidend.


9) Muster‑Argumentationslinie (Kurzfassung)

  • I. Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB (Leistung ohne Rechtsgrund)
    Nichtigkeit (§ 134 BGB) wegen§ 4 Abs. 4 GlüStV 2011 (Internet‑Verbot); EU‑Konformität/Anwendbarkeitbejaht; 2021‑Öffnung unerheblich.

  • II. Keine Sperre
    § 762 BGB nicht einschlägig bei Nichtigkeit;
    § 814 BGB: fehlende positive Nichtschuldkenntnis, Beweislast Anbieter;
    § 817 S. 2 teleologisch reduziert (Schutzzweck: Verbraucher‑/Jugendschutz, Illegalitätsbekämpfung).

  • III. Keine Entreicherung (§ 818 Abs. 3) wegen § 819 Abs. 2 (verbotenes Erlangen).


10) Fazit

Das Urteil des OLG Dresden (10 U 736/22) ist spielentscheidend für Ansprüche gegen nicht erlaubte Online‑Kasinos im Zeitraum bis 30.06.2021: Es öffnet den Weg zur Rückzahlung der Nettoverluste und schließt die wichtigsten Einwände. Für Betroffene lohnt sich die Prüfung – für Anbieter wird Risikomanagement zwingend.

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