Vorverurteilung? EGMR sieht keine Konventionsverletzung (Olearius/C.O. ./. Deutschland)

originally published: 06.10.2025 22:44, updated: 06.10.2025 22:52
Vorverurteilung? EGMR sieht keine Konventionsverletzung (Olearius/C.O. ./. Deutschland)
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Author’s summary by ra.de Redaktion

Aufhänger. Am 17. September 2024 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Beschwerde eines prominenten Cum‑Ex‑Beschuldigten (C.O., allgemein als der Hamburger Bankier Christian Olearius identifiziert) abgewiesen. Die Straßburger Richter sahen keine Verletzung der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK, obwohl deutsche Strafurteile gegen Mitbeschuldigte dessen mutmaßliche Rolle deutlich beschrieben hatten. Zugleich stellte der EGMR klar: Die Bezugnahmen waren notwendig für die Verurteilung der Mitangeklagten, enthielten keine Schuldfeststellung gegen C.O. und entfalteten keine Bindungswirkung im (separaten) Verfahren gegen ihn. 

Warum das wichtig ist – auch für Nichtjuristen: Gerichte dürfen in Urteilen über Dritte sprechen, wenn das nötig ist, um Angeklagte zu verurteilen – aber ohne diese Dritten bereits als schuldig zu erklären. Der EGMR bestätigt damit eine praxisnahe Balance: Aufklärung ja, Vorverurteilung nein.

Kurz zum Kontext: Was ist „Cum‑Ex“ – und was warf C.O. vor?

Cum‑Ex‑Geschäfte sind komplexe Aktientransaktionen rund um den Dividendenstichtag, mit denen Kapitalertragsteuermehrfach angerechnet/erstattet wurde, obwohl sie nur einmal oder gar nicht abgeführt worden war. Der BGH hat 2021 die Strafbarkeit dieser Modelle grundlegend bestätigt (1 StR 519/20). Im ersten Cum‑Ex‑Strafverfahren hatte das LG Bonn zwei Händler verurteilt; Karlsruhe bestätigte dies. C.O. selbst war in jenem Verfahren nicht angeklagt, sah sich durch die Ausführungen in den Urteilsgründen jedoch „vorverurteilt“


Die Entscheidung aus Straßburg – das Wesentliche in 5 Punkten

  1. Kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK. Die Urteilsgründe von LG Bonn (2020) und BGH (2021) beschriebenzwar Handlungen und Motive des gesondert Verfolgten C.O. und prüften diese rechtlich; gleichwohl sah der EGMR keine unzulässige Vorverurteilung. Die Bezugnahmen seien zur Beurteilung der Mitangeklagten erforderlich gewesen (Mittäterschaft/Beihilfe), ohne C.O.s „Schuld“ i. S. des deutschen Strafrechts festzustellen. 

  2. Notwendigkeit & Zurückhaltung als Leitplanken. Der Gerichtshof betont: In komplexen Mehrpersonen‑Verfahren dürfen Gerichte auf Dritte Bezug nehmen, sofern das zur rechtlichen Beurteilung der Angeklagten unerlässlich ist und sprachlich zurückhaltend bleibt – eine Linie, die bereits Karaman ./. Deutschland (2014) angelegt hatte. 

  3. Keine Bindungs‑/Präjudizwirkung. Nach deutschem Recht bindet ein Urteil nicht das spätere Verfahren gegen einen nicht beteiligten Dritten; der spätere Tatrichter muss eigenständig entscheiden. Der EGMR sah deshalb keine Vorwegnahme des Ergebnisses im Verfahren gegen C.O. 

  4. Art. 8 EMRK (Privatleben). Aus den Gründen ergab sich kein eigenständiges Problem des Privatlebensschutzes; nach der Logik der Entscheidung „ergab sich kein gesonderter Prüfungsbedarf“ unter Art. 8 Abs. 1 EMRK. 

  5. Einordnung im Gesamtbild. Der EGMR knüpft an jüngere Grundsatzlinien zur Unschuldsvermutung an (u. a. Nealon/Hallam [GC]). Für Deutschland bestätigt er damit bestehende Maßstäbe, ohne die (materielle) Strafbarkeit von Cum‑Ex zu tangieren. 


Was genau hat der EGMR geprüft?

  • Sprachlicher Gehalt: Die Straßburger Richter schauten Wortlaut und Kontext der deutschen Urteile an: Wurde C.O. als „gesondert Verfolgter“ bezeichnet? Wurden Fakten und Rechtsauffassung zu ihm nur insoweit dargestellt, wie es für Schuldumfang und Beteiligungsform der Angeklagten nötig war? Ergebnis: ja

  • Erforderlichkeit: Die Urteile mussten erklären, ob die Angeklagten als Mit‑Täter (§ 25 II StGB) oderGehilfen(§ 27 I StGB) handelten; dafür war die Rollenbeschreibung anderer Beteiligter – hier C.O. – notwendig

  • Rechtswirkung: Keine Rechtskraft‑/Bindungswirkung für das spätere, getrennte Verfahren gegen C.O.; der spätere Tatrichter ist frei in der Beweisaufnahme. Vorprägung? – Rechtsdogmatisch nein


Einordnung für Praktiker – was die Entscheidung bedeutet

1) Für Gerichte und Staatsanwaltschaften

  • Zulässig, aber dosiert: In Mehrpersonen‑Verfahren dürfen Urteile Dritte erwähnen, wenn das fallnotwendig ist. „Sparsamkeit“ bei Wertungen und deutliche Kennzeichnung als „gesondert verfolgt“ bleiben Pflicht. Keine Formeln der Schuldfeststellung („ist schuldig“, „hat begangen“) gegenüber Nichtangeklagten. 

  • Check: Ist die Dritt‑Darstellung unerlässlich für Tatbeiträge, Vorsatz oder Abrede der Angeklagten? Falls nein: weglassen

2) Für Verteidigungsteams

  • Rügen mit Augenmaß: Eine Vorverurteilungsrüge hat Aussicht, wenn Urteile mehr sagen als nötig und faktisch einer Schuldfeststellung gleichkommen. Sammeln Sie Passagen, in denen Sprache definitiv klingt, ohneNotwendigkeitsbezug. Karaman bleibt der zentrale Referenzpunkt. 

  • Praxis‑Nutzen: Verteidiger können mit dem EGMR‑Urteil Frühwarnsysteme für Urteilsstil entwickeln (Formulierungs‑Watchlist; Antrag auf Richtigstellung/Klarstellung in den Urteilsgründen, wo nötig).

3) Für Pressestellen der Justiz & Behörden

  • Kommunikation präzise: Pressemitteilungen sollten sichtbar die Unschuldsvermutung betonen; Drittbezüge nur sachlich und ohne Schuldzuweisung. So wird rechtlich saubere Gerichtssprache nicht durch öffentliche Kommunikation konterkariert. (Grundsätze der EGMR‑Rechtsprechung zur Wortwahl öffentlicher Stellen). 

4) Für Unternehmen & Compliance

  • Interne Untersuchungen und Berichte sollten Drittpersonen kontextualisieren, aber keine Schuldannahmenformulieren, solange keine bindenden Entscheidungen vorliegen. Das reduziert Anfechtungs‑, Persönlichkeitsrechts‑ und Prozessrisiken.


Woran erkennt man „saubere“ Drittbezüge?

Grüne Formulierungen (regelmäßig unbedenklich):

  • „Der gesondert Verfolgte C. O. soll gemeinsam mit … gehandelt haben; dies ist hier nur relevant, weil …“

  • „Nach dem aktuellen Ermittlungsstand war C. O. an … beteiligt; eine Entscheidung über seine Strafbarkeit trifft dieses Urteil nicht.“

  • „Für die Beurteilung der Angeklagten ist es erforderlich festzustellen, dass … (ohne Feststellungen zur Schulddes Dritten).“

Rote Formulierungen (Vorverurteilungsgefahr):

  • „C. O. hat die Tat begangen …“ (ohne, dass C. O. Angeklagter ist)

  • „C. O. ist schuldig …“

  • „Die Schuld des C. O. steht fest …“

Diese Heuristik entspricht der vom EGMR bekräftigten Karaman‑Linie und der Sprache‑/Kontext‑Prüfung in C.O. ./. Deutschland. 


Laien‑Einordnung: Was sagt das über „Gerechtigkeit“?

Das Urteil ist kein Freibrief für Gerichte, Dritte anzuprangern. Es sagt vielmehr: Gerechte Urteile dürfen klar sein, müssen aber fair bleiben. Wo mehrere Menschen beteiligt sind, führt an Drittbezügen oft kein Weg vorbei – sofern sie notwendig, sachlich und ohne Vorverurteilung formuliert sind. Damit stärkt der EGMR Verfahrensfairness und Effizienz der Strafjustiz.


Prozessrealität: Und was wurde aus dem Verfahren gegen C.O.?

Der Strafprozess gegen C.O. in Deutschland wurde im Juni 2024 aus gesundheitlichen Gründen eingestellt – ein separater Vorgang, der mit der EGMR‑Bewertung der Urteilsgründe in den anderen Verfahren nichts zu tun hatte. Die Straßburger Entscheidung betrifft allein die Sprache und Wirkung jener Urteile gegenüber Dritten


Fazit – Ihr Praxis‑Mehrwert

  • Richter:innen/Schöff:innen erhalten klare Leitplanken, wie sie präzise, notwendige und rechtlich saubereDrittbezüge formulieren.

  • Staatsanwält:innen können Anklagen und Plädoyers so strukturieren, dass notwendige Drittbezüge als Begründung für Tatbeiträge der Angeklagten dienen – ohne Vorverurteilung.

  • Verteidiger:innen wissen, wo eine Rüge Aussicht hat: Übermaß an Bewertungen, definitive Schuldworte, fehlender Notwendigkeitsbezug.

  • Pressestellen/Compliance können ihre Sprach‑Standards schärfen (Hinweise zur Unschuldsvermutung, Kontextualisierung, Vermeiden von Schuldbegriffen).

Bottom line: Der EGMR bringt Rechtssicherheit in ein heikles Spannungsfeld. Wer die Notwendigkeits‑, Sprach‑ und Wirkungsprüfung beherzigt, minimiert Vorverurteilungs‑Risiken – und erhöht die Überzeugungskraft von Urteilen, Schriftsätzen und öffentlichen Statements zugleich. 


Hinweis zur Aktualität: Der Beitrag bezieht sich auf das EGMR‑Urteil vom 17. September 2024 und die damals bereits gefestigte BGH‑Linie zu Cum‑Ex (2021). Beide setzen bis heute den Maßstab.


Weiterführende Quellen / Primärnachweise

  • EGMR, C.O. v. Germany, Urt. v. 17. 09. 2024, ECLI: CE:ECHR:2024:0917JUD001667822 (Hudoc; Volltext). 

  • Auszug/Übersicht (mit Leitsätzen & Auszügen, inkl. Tenor: „No violation of Article 6 § 2; no separate issue unter Art. 8“). 

  • Hintergrundbericht (LTO) mit knapper Einordnung (Einstellung des deutschen Verfahrens, Cum‑Ex‑Kontext). 

  • beck‑aktuell: Kurzmeldung zum Urteil & Verfahrensgeschichte. 

  • Grundsatz Cum‑Ex‑Strafbarkeit: BGH 1 StR 519/20 (PM Nr. 146/2021). 

  • Grundlinien zur Unschuldsvermutung: EGMR‑Case‑Law‑Guide (ECHR‑KS). 

  • Referenzfall: Karaman ./. Deutschland (keine Verletzung trotz Drittbezügen).

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