Reiserecht: Aktuelle Gesetzgebung: Fahrgastrechte treten in Kraft - Bahn frei für mehr Verbraucherschutz

bei uns veröffentlicht am26.08.2009

Rechtsgebiete

Autoren

Rechtsanwalt

für Familien- und Erbrecht

EnglischDeutsch
Zusammenfassung des Autors
Rechtsanwalt für Reiserecht - Zivilrecht - BSP Bierbach, Streifler & Partner PartGmbB
Seit dem 29. Juli 2009 gilt das neue Fahrgastrechtegesetz. Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer haben jetzt vor allem bei Verspätungen und Zugausfällen mehr Rechte. Das Gesetz beruht auf einer EG-Verordnung, die ab dem 3. Dezember 2009 europaweit gelten wird. Das neue Fahrgastrechtegesetz verbessert die Rechte der Bahnreisenden in Deutschland bereits jetzt und erweitert sie darüber hinaus gegenüber dem europäischen Recht:

1. Unpünktlichkeit und Ausfall von Zügen im Fern- und Nahverkehr

Hat ein Zug Verspätung oder fällt er aus, muss das Eisenbahnunternehmen dem Fahrgast künftig eine Entschädigung zahlen. Diese wird wie folgt berechnet: Kommt der Fahrgast 60 Minuten verspätet am Zielort an, sind 25 Prozent des Fahrpreises zu erstatten. Liegt die Verspätung bei 120 Minuten, sind 50 Prozent des Fahrpreises zu erstatten. Der Betrag muss dem Fahrgast auf Wunsch bar ausgezahlt werden. Außerdem muss das Eisenbahnunternehmen bei einer Verspätung von mindestens 60 Minuten eine kostenlose Hotelunterkunft anbieten, wenn wegen der Unpünktlichkeit oder des Ausfalls eine Übernachtung erforderlich wird. Maßgeblich ist die verspätete Ankunft am Zielort.

Beispiel:
Fahrgast F möchte mit dem Zug von Darmstadt nach Kiel fahren. Die Fahrkarte hat 117 EUR gekostet. Der Regionalzug soll um 13.48 Uhr in Frankfurt am Main ankommen; der vorgesehene Anschlusszug soll um 13.58 Uhr nach Kiel abfahren und dort um 18.46 Uhr ankommen. Der Regionalzug hat in Frankfurt am Main aber 30 Minuten Verspätung, sodass F den Zug nach Kiel verpasst. F kommt erst um 20.02 Uhr in Kiel an. Da F sein Ziel mehr als 60 Minuten verspätet erreicht, erhält er 25 Prozent des Fahrpreises, also 29,25 EUR erstattet.

Sonderregeln gelten für Zeitfahrkarten wie etwa die Bahncard 100. Hier greifen die genannten Pauschalen nicht. In diesen Fällen sind aber die Eisenbahnunternehmen verpflichtet, in ihren Beförderungsbedingungen eine angemessene Entschädigung vorzusehen, wenn der Fahrgast wiederholt Verspätungen erleidet. Sie können sich nicht vollständig von ihrer Ersatzpflicht freizeichnen.

Das Eisenbahnunternehmen haftet nicht, wenn die Verspätung durch außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegende Umstände verursacht wird und das Eisenbahnunternehmen diese Umstände trotz der gebotenen Sorgfalt nicht vermeiden kann.

Beispiel
: Einem Lkw-Fahrer gelingt es nicht mehr, an einem geschlossenen Bahnübergang zu halten, weil die Bremsen versagen. Der Lkw durchbricht die Schranken. Der Zugführer des ankommenden Zugs kann zwar mit einer Vollbremsung eine Kollision vermeiden. Der Zug muss aber über eine Stunde am Unfallort warten, bis die Polizei die Gleise zur Weiterfahrt freigibt. Obwohl der Fahrgast seinen Zielort erst mit 90 Minuten Verspätung erreicht, ist das Eisenbahnunternehmen nicht verpflichtet, ihm einen Teil des Fahrpreises zu erstatten.

Das Eisenbahnunternehmen kann von einer Zahlung absehen, wenn der zu erstattende Betrag unter 4 EUR liegt (Bagatellgrenze).

Beispiel:
F fährt mit dem Regionalzug von Lathen nach Emsdetten. Der Fahrpreis beträgt 15,20 EUR, die planmäßige Ankunft ist um 14.36 Uhr. Tatsächlich erreicht F Emsdetten aber eine Stunde später. F erhält dennoch keine Fahrpreiserstattung in Höhe von 25 Prozent des Fahrpreises, da der zu erstattende Betrag 3,80 EUR betragen würde und damit unterhalb der Bagatellgrenze liegt.
Zeichnet sich eine Verspätung von mehr als 60 Minuten ab, kann der Fahrgast auch von einer Fahrt absehen und die Rückerstattung des Fahrpreises verlangen oder die Fahrt zu einem späteren Zeitpunkt auch mit geänderter Streckenführung durchführen.

2. Unpünktlichkeit und Ausfall von Zügen im Nahverkehr

Für den Nahverkehr werden im Vergleich zu den europäischen Vorgaben weitergehende Regelungen getroffen. Um Nahverkehr handelt es sich, wenn in der Mehrzahl der Beförderungsfälle eines Zugs die Reiseweite nicht mehr als 50 Kilometer oder die Reisezeit nicht mehr als eine Stunde beträgt. Hier ist eine anteilige Fahrpreiserstattung in der Regel nur von geringer Attraktivität, weil die Fahrkarten vergleichsweise preiswert sind. Im Vordergrund steht hier vor allem das Interesse des Fahrgasts, sein Nahverkehrsziel so schnell wie möglich zu erreichen.

Ist abzusehen, dass der Fahrgast wegen einer Unpünktlichkeit oder eines Ausfalls eines Zugs im Nahverkehr wenigstens 20 Minuten verspätet sein Ziel erreicht, kann er einen anderen Zug, insbesondere auch einen Zug des Fernverkehrs nutzen. Ausgenommen sind nur Sonderfahrten oder Züge mit umfassender Reservierungspflicht - wie beispielsweise beim City Night Line oder ICE Sprinter.

Beispiel: F erwirbt eine Fahrkarte für den Regional-Express von Aschaffenburg nach Wiesbaden. Die fahrplanmäßige Abfahrt ist um 17.16 Uhr, die fahrplanmäßige Ankunft um 18.55 Uhr. F erfährt auf dem Bahnsteig, dass der Regional-Express erst mit einer Verspätung von 40 Minuten in Aschaffenburg und voraussichtlich sodann auch in Wiesbaden eintreffen wird. F darf nun anstelle des Regional-Expresses den ICE von Aschaffenburg nach Frankfurt am Main benutzen, sodass er Wiesbaden um 18.58 Uhr erreicht. Hat er hierdurch Zusatzkosten gehabt, kann er diese ersetzt verlangen.

Bei Nachtfahrten kann der Fahrgast bei einer Verspätung von mindestens 60 Minuten auch auf ein Taxi umsteigen, wenn keine preisgünstigeren öffentlichen Verkehrsmittel mehr zur Verfügung stehen, um den Zielort zu erreichen. Der Erstattungsanspruch ist allerdings auf einen Betrag von 80 EUR begrenzt. Als Nachtfahrt sind Fahrten anzusehen, die fahrplanmäßig zwischen 0.00 Uhr und 5.00 Uhr enden.

Beispiel: F möchte nach einem Opernbesuch am Mittwochabend um 0.41 Uhr mit dem Regional-Express von Berlin Hauptbahnhof nach Werder (Havel) fahren. Planmäßige Ankunft ist um 1.18 Uhr. Nach Ankunft auf dem Bahnhof erfährt F, dass der Zug wegen eines Defekts ausfällt. Der nächste Zug fährt erst um 4.35 Uhr. F darf sofort ein Taxi nehmen und erhält die Taxikosten bis zu einem Betrag von 80 EUR ersetzt, wenn auch kein Bus mehr fährt.

Bei Ausfall des letzten fahrplanmäßigen Zuges des Tages kann der Fahrgast ebenfalls auf ein Taxi umsteigen, wenn er seinen Zielort ohne die Nutzung eines anderen Verkehrsmittels nicht mehr bis um 24.00 Uhr erreichen kann. Auch hier ist der Erstattungsanspruch auf einen Betrag von 80 EUR begrenzt.

Beispiel: F will nach einem Besuch bei Freunden in Menden im Sauerland am Sonntagabend mit der Regionalbahn zurück nach Balve im Sauerland fahren. Auf dem Bahnsteig des Bahnhofs in Menden angekommen erfährt er, dass der letzte fahrplanmäßige Zug des Tages um 18.45 Uhr wegen eines Fahrwerkschadens ausfällt. Eine andere Möglichkeit, seinen Zielort mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis um 24.00 Uhr zu erreichen, hat er nicht. F darf deshalb sofort ein Taxi nehmen und erhält die Kosten bis zu einem Betrag in Höhe von 80 EUR erstattet.

3. Haftung bei Personenschäden

Bei einem Eisenbahnunfall müssen die Eisenbahnunternehmen, soweit ein Fahrgast getötet oder verletzt wurde, künftig einen Vorschuss zahlen, der die unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnisse des geschädigten Fahrgasts oder seiner Angehörigen deckt. Wird ein Fahrgast getötet, beträgt dieser Vorschuss mindestens 21.000 EUR. Wenn die Verordnung in Kraft tritt, werden europaweit außerdem einheitliche Haftungsregeln und Mindestentschädigungssummen bei Personenschäden gelten. Dann kann kein Mitgliedsstaat mehr geringere Haftungshöchstsummen festschreiben als umgerechnet ca. 200.000 EUR.

4. Rechte von Personen mit eingeschränkter Mobilität

Die Rechte von behinderten Personen und sonstigen Personen mit eingeschränkter Mobilität, etwa alte Menschen oder kleine Kinder, werden gestärkt. Eisenbahnunternehmen und Bahnhofsbetreiber werden verpflichtet, gemeinsam mit den Interessenvertretern der genannten Gruppen Zugangsregelungen für die Beförderung aufzustellen. Sie müssen dafür sorgen, dass der Bahnhof, die Bahnsteige, die Fahrzeuge und andere Einrichtungen für Personen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich sind. Soweit entsprechendes Personal vorhanden ist und der Unterstützungsbedarf vorher angemeldet wurde, werden die Eisenbahnunternehmen und Bahnhofsbetreiber verpflichtet, kostenlos Unterstützung beim Ein- und Aussteigen sowie bei der Fahrt zu leisten.

5. Informationspflichten der Eisenbahnunternehmen

Die Eisenbahnunternehmen sind künftig gesetzlich ausdrücklich verpflichtet, die Fahrgäste beim Fahrkartenverkauf bzw. während der Fahrt gut zu informieren. Dabei müssen die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit einer Gehör- oder Sehbehinderung berücksichtigt werden. Folgende Informationen muss das Eisenbahnunternehmen auf Nachfrage vor Fahrtantritt geben:
  • Welche Verbindung ist die kürzeste und preisgünstigste?
  • Sind Störungen oder Verspätungen absehbar?
  • Wie lauten die Allgemeinen Beförderungsbedingungen?
  • Welche Einrichtungen gibt es für Personen mit eingeschränkter Mobilität, insbesondere zum Einstieg in den Zug als auch im Zug?
  • Welche Einrichtungen gibt es für Fahrgäste mit Fahrrädern?
Während der Fahrt muss das Eisenbahnunternehmen folgende Informationen geben:
  • Gibt es eine Verspätung und wenn ja, wie lang ist diese?
  • Welche Anschlusszüge kann der Fahrgast erreichen?
  • Welche Serviceleistungen werden im Zug angeboten?
Im Nahverkehr sind die Informationspflichten aus Praktikabilitätsgründen allerdings weniger umfangreich. Zum Beispiel können die Informationen über die Anschlussverbindungen während der Fahrt entfallen. Außerdem können die Fahrgäste im Nahverkehr durch eine Zusammenfassung informiert werden. Die Information selbst kann durch Aushang oder Auslage sowie den Einsatz eines Informations- und Buchungssystems erfolgen.

6. Qualitätsmanagement, Beschwerdestellen und Schlichtung

Eisenbahnunternehmen im Fernverkehr müssen künftig Qualitätsstandards festlegen und systematisch überprüfen. Diese beziehen sich auf Informationen, Fahrkarten, Pünktlichkeit, Zugausfälle, Sauberkeit, Kundenbefragungen, Beschwerdebearbeitung und Hilfeleistung für Personen mit Behinderungen und Personen mit eingeschränkter Mobilität.

Ferner müssen alle Eisenbahnunternehmen ein Verfahren zur Bearbeitung von Beschwerden einrichten. Die Eisenbahnunternehmen sind verpflichtet, die Fahrgäste in weitem Umfang, insbesondere an auffälliger Stelle über die Kontaktdaten der unternehmenseigenen Beschwerdestelle zu unterrichten. Die Beschwerden müssen innerhalb eines Monats oder, wenn der Fahrgast hierüber unterrichtet worden ist, innerhalb von spätestens drei Monaten beantwortet sein.

Zusätzlich werden Beschwerdestellen bei den Eisenbahnaufsichtsbehörden eingerichtet, damit der Fahrgast eine Anlaufstelle hat, wenn er von einem Eisenbahnunternehmen nicht zufriedenstellend behandelt worden ist. Die Beschwerden können auch stets an das Eisenbahnbundesamt gerichtet werden.

Gesetzlich klargestellt wird schließlich, dass der Fahrgast darüber hinaus die Möglichkeit hat, eine Schlichtungsstelle anzurufen. Gedacht ist hierbei beispielsweise derzeit an die Schlichtungsstelle Mobilität beim VCD in Berlin, die Schlichtungsstelle Nahverkehr in Nordrhein-Westfalen, die Ombudsstelle Nahverkehr in Bayern oder die Mitte Juli 2009 gegründete "Schlichtungsstelle öffentlicher Verkehr". Die "Schlichtungsstelle öffentlicher Verkehr" wird voraussichtlich Ende des Jahres ihre Arbeit aufnehmen. Die Eisenbahnunternehmen sollen bei der Beantwortung einer Beschwerde eines Fahrgasts auf die Schlichtungsmöglichkeit und eine geeignete Schlichtungsstelle hinweisen.

Was sollten Sie als Bahnfahrerin und Bahnfahrer tun, wenn der Zug ausfällt oder Verspätung hat?
  • Lassen Sie sich schon im verspäteten Zug oder im Bahnhof die Verspätung oder den Ausfall des Zugs schriftlich bestätigen.
  • Wenden Sie sich mit Ihrer Fahrkarte, auf der die Strecke unter Angabe des Abfahrts- und Zielorts vermerkt ist, und der Bestätigung über die Verspätung oder den Ausfall des Zugs an das Eisenbahnunternehmen, bei dem Sie die Fahrkarte gekauft haben.
  • Teilen Sie dem Eisenbahnunternehmen mit, ob Sie die Entschädigung in Geld haben wollen. Das Eisenbahnunternehmen muss Ihnen innerhalb eines Monats nach Einreichung Ihres Antrags die Entschädigung zahlen, wenn der Anspruch berechtigt ist. Die Entschädigung kann, wenn Sie nicht Auszahlung in bar verlangt haben, auch in Form von Gutscheinen oder anderen Leistungen erfolgen.

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Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.

(1) Für das Verfahren über den Einspruch gelten im Übrigen die Vorschriften sinngemäß, die für den Erlass des angefochtenen oder des begehrten Verwaltungsakts gelten.

(2) In den Fällen des § 93 Abs. 5, des § 96 Abs. 7 Satz 2 und der §§ 98 bis 100 ist den Beteiligten und ihren Bevollmächtigten und Beiständen (§ 80) Gelegenheit zu geben, an der Beweisaufnahme teilzunehmen.

(3) Wird der angefochtene Verwaltungsakt geändert oder ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Satz 1 gilt entsprechend, wenn

1.
ein Verwaltungsakt nach § 129 berichtigt wird oder
2.
ein Verwaltungsakt an die Stelle eines angefochtenen unwirksamen Verwaltungsakts tritt.

Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.

(1) Für das Verfahren über den Einspruch gelten im Übrigen die Vorschriften sinngemäß, die für den Erlass des angefochtenen oder des begehrten Verwaltungsakts gelten.

(2) In den Fällen des § 93 Abs. 5, des § 96 Abs. 7 Satz 2 und der §§ 98 bis 100 ist den Beteiligten und ihren Bevollmächtigten und Beiständen (§ 80) Gelegenheit zu geben, an der Beweisaufnahme teilzunehmen.

(3) Wird der angefochtene Verwaltungsakt geändert oder ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Satz 1 gilt entsprechend, wenn

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(1) Der Einspruch kann bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch zurückgenommen werden. § 357 Abs. 1 und 2 gilt sinngemäß.

(1a) Soweit Besteuerungsgrundlagen für ein Verständigungs- oder ein Schiedsverfahren nach einem Vertrag im Sinne des § 2 von Bedeutung sein können, kann der Einspruch hierauf begrenzt zurückgenommen werden. § 354 Abs. 1a Satz 2 gilt entsprechend.

(2) Die Rücknahme hat den Verlust des eingelegten Einspruchs zur Folge. Wird nachträglich die Unwirksamkeit der Rücknahme geltend gemacht, so gilt § 110 Abs. 3 sinngemäß.

(1) Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird.

(2) Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.

(3) Ein nichtiger Verwaltungsakt ist unwirksam.

(1) Ein Verwaltungsakt ist nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.

(2) Ohne Rücksicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 ist ein Verwaltungsakt nichtig,

1.
der schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist, die erlassende Finanzbehörde aber nicht erkennen lässt,
2.
den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann,
3.
der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht,
4.
der gegen die guten Sitten verstößt.

(3) Ein Verwaltungsakt ist nicht schon deshalb nichtig, weil

1.
Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind,
2.
eine nach § 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 6 und Satz 2 ausgeschlossene Person mitgewirkt hat,
3.
ein durch Rechtsvorschrift zur Mitwirkung berufener Ausschuss den für den Erlass des Verwaltungsakts vorgeschriebenen Beschluss nicht gefasst hat oder nicht beschlussfähig war,
4.
die nach einer Rechtsvorschrift erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde unterblieben ist.

(4) Betrifft die Nichtigkeit nur einen Teil des Verwaltungsakts, so ist er im Ganzen nichtig, wenn der nichtige Teil so wesentlich ist, dass die Finanzbehörde den Verwaltungsakt ohne den nichtigen Teil nicht erlassen hätte.

(5) Die Finanzbehörde kann die Nichtigkeit jederzeit von Amts wegen feststellen; auf Antrag ist sie festzustellen, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse hat.

Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.

(1) Ein Verwaltungsakt ist nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.

(2) Ohne Rücksicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 ist ein Verwaltungsakt nichtig,

1.
der schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist, die erlassende Finanzbehörde aber nicht erkennen lässt,
2.
den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann,
3.
der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht,
4.
der gegen die guten Sitten verstößt.

(3) Ein Verwaltungsakt ist nicht schon deshalb nichtig, weil

1.
Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind,
2.
eine nach § 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 6 und Satz 2 ausgeschlossene Person mitgewirkt hat,
3.
ein durch Rechtsvorschrift zur Mitwirkung berufener Ausschuss den für den Erlass des Verwaltungsakts vorgeschriebenen Beschluss nicht gefasst hat oder nicht beschlussfähig war,
4.
die nach einer Rechtsvorschrift erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde unterblieben ist.

(4) Betrifft die Nichtigkeit nur einen Teil des Verwaltungsakts, so ist er im Ganzen nichtig, wenn der nichtige Teil so wesentlich ist, dass die Finanzbehörde den Verwaltungsakt ohne den nichtigen Teil nicht erlassen hätte.

(5) Die Finanzbehörde kann die Nichtigkeit jederzeit von Amts wegen feststellen; auf Antrag ist sie festzustellen, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse hat.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993 bis 1998) zusteht.

2

Die Klägerin betrieb in den Streitjahren eine Spielhalle und führte dort Umsätze durch den Betrieb von Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit aus.

3

In den Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre wurden diese Umsätze, den Steuererklärungen der Klägerin folgend, vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) als umsatzsteuerpflichtig behandelt.

4

Mit Urteil vom 17. Februar 2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Linneweber und Akritidis C-453/02 und C-462/02 (Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94), dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) unmittelbare Wirkung zukomme, so dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf die Steuerfreiheit dieser Umsätze berufen könne. Bei Ergehen dieses Urteils lag für alle Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung nach den Bestimmungen der Abgabenordnung (AO) vor. Die Einspruchsfrist für die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerjahresbescheide war bereits seit mehr als einem Jahr abgelaufen.

5

Mit Schreiben unter dem 13. April 2005 legte die Klägerin Einspruch gegen die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerfestsetzungen ein und machte die Steuerfreiheit für die Umsätze mit Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit geltend.

6

Das FA verwarf die Einsprüche wegen Verfristung als unzulässig. Die hiergegen eingelegte Klage zum Finanzgericht (FG) hat das FG aus den in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2010, 364 mitgeteilten Gründen abgewiesen.

7

Hiergegen richtet sich die Revision. Die Klägerin rügt die Verletzung materiellen Bundesrechts sowie des Unionsrechts. Sie regt an, dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens folgende Fragen vorzulegen:

8

"1. Kann sich ein Steuerpflichtiger gegenüber dem Finanzamt erfolgreich darauf berufen, dass die Europarechtswidrigkeit einer steuergesetzlichen Norm des nationalen Rechts durch den EuGH festgestellt worden ist, wenn nach nationalem Recht die Vorschrift der Bestandskraft entgegenstünde?

9

2. Gilt dies insbesondere dann, wenn die Umsetzung einer Richtlinie fehlerhaft geschehen ist, sodass dem Steuerpflichtigen nicht offenbart wurde, dass eine Abweichung des Gemeinschaftsrechts vom nationalen Recht vorlag und der Steuerpflichtige durch diese Unwissenheit nicht in der Lage war, seine Rechte innerhalb der nationalen Frist geltend zu machen?

10

3. Ist es für die Zumutbarkeit eines Rechtsbehelfs im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 24. März 2009 C-445/06, Danske Slagterier von Relevanz, ob es sich um einen Eingriff handelt, der sich für den Bürger als ungewöhnlich oder selten darstellt, oder ob es sich um einen Eingriff handelt, der bereits vor Inkrafttreten der betreffenden verletzten Richtlinie durchgeführt wurde und auch bei anderen Steuerpflichtigen durchgeführt wird, sodass der Bürger keinen Anlass einer besonderen Prüfung erkennen kann, wie dies bei der Umsatzsteuerveranlagung der Fall ist und wirkt sich dies bejahendenfalls auf die Zumutbarkeit aus?

11

4. Muss der Steuerpflichtige --entgegen der Aussage in der Sache Emmott vom 25. Juli 1991 C-208/90-- die Richtlinien der EG kennen, auf denen nationale Gesetze beruhen, die für ihn anwendbar sind?

12

5. Falls Frage 3 (gemeint: 4) zu bejahen ist, stellt sich Frage 4 (gemeint: 5): Macht es für den Beginn oder für die Länge der Rechtsmittelfrist einen Unterschied, dass das nationale Recht voraussetzt, dass der Bürger die nationalen Rechtsvorschriften zumindest kennen muss, er die Vorschriften der EG-Richtlinien aber nicht kennen muss und nicht kennt (Verstoß gegen den Grundsatz der Effektivität)? Ist der kurze Lauf der Rechtsmittelfrist deshalb im nationalen Recht angemessen, weil Kenntnis vorausgesetzt wird? Bedeutet dies dann, dass beim Verstoß gegen europarechtliche Richtlinien eine längere Frist oder mangels anwendbarer Regelungen des nationalen Rechts gar keine Frist läuft?

13

6. Kann der Steuerpflichtige trotz entgegenstehender Bestandskraft nach nationalem Recht Rückzahlung der zu Unrecht vereinnahmten Steuer verlangen?

14

7. Unter welchen Voraussetzungen kann der Steuerpflichtige eine entsprechende Rückzahlung verlangen?"

15

Die Klägerin beantragt,

das FG-Urteil sowie die Einspruchsentscheidung vom 20. April 2007 aufzuheben und die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen 1993 bis 1998 in der Weise zu ändern, dass die Umsätze aus Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit steuerfrei belassen und damit im Zusammenhang stehende Vorsteuern nicht berücksichtigt werden,

hilfsweise den Streitfall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

16

Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

17

II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Recht sowohl die Nichtigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen als auch die Änderbarkeit der bestandskräftigen und festsetzungsverjährten Bescheide für die Streitjahre verneint.

18

1. Die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen sind nicht nichtig.

19

Gemäß § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Nach § 125 Abs. 2 AO ist ein Verwaltungsakt z.B. nichtig, der die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen lässt, den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt oder der gegen die guten Sitten verstößt.

20

Im Streitfall liegt kein Nichtigkeitsgrund vor. Ein Verwaltungsakt ist nicht allein deswegen nichtig, weil er der gesetzlichen Grundlage entbehrt oder weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften --auch diejenigen des formellen Rechts (Verfahrensrechts)-- unrichtig angewendet worden sind. Der erforderliche besonders schwere Fehler liegt nur vor, wenn er die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen und offenkundigen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt, da die Klägerin selbst in ihren Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre die streitigen Umsätze als steuerpflichtig angesehen hat und das FA dem gefolgt ist.

21

Darüber hinaus ist ein Verwaltungsakt nicht allein deswegen nichtig, weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewendet worden sind (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13. Mai 1987 II R 140/84, BFHE 150, 70, BStBl II 1987, 592, und vom 26. September 2006 X R 21/04, BFH/NV 2007, 186). Für Verstöße gegen Unionsrecht ergeben sich insoweit keine Besonderheiten (vgl. EuGH-Urteil vom 6. Oktober 2009 C-40/08, Asturcom Telecomunicationes SL, Slg. 2009, I-9579, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht --EWS-- 2009, 475, Europäische Zeitschrift für Wirtschaft --EuZW-- 2009, 852, unter Rdnr. 37; ebenso Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 17. Januar 2007  6 C 32/06, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht --NVwZ-- 2007, 709). Die Gegenauffassung, nach der ein Verstoß gegen das Unionsrecht stets einen "schweren" Rechtsfehler begründen soll (vgl. de Weerth, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2008, 1368, 1369 zu § 130 AO), lässt unberücksichtigt, dass für einen unionsrechtswidrigen Bescheid keine andere Behandlung geboten ist als für einen Bescheid, der auf einer nicht verfassungskonformen Rechtsgrundlage beruht und dessen Bestand hiervon unberührt bleibt (§ 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht; BFH-Urteile vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; vom 21. März 1996 XI R 36/95, BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399).

22

2. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin ihren Einspruch verspätet eingelegt hat.

23

Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 1 AO) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde, in den Fällen des § 168 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden der Zustimmung, zu erheben.

24

Die Klägerin hat mit Schreiben unter dem 13. April 2005 Einspruch gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993 bis 1998) erhoben. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) war zu diesem Zeitpunkt bereits für alle Streitjahre sowohl die Monatsfrist als auch die --nach Auffassung der Klägerin wegen fehlender Rechtsbehelfsbelehrung anwendbare-- Jahresfrist für die Einlegung eines Einspruchs abgelaufen. Dies ist im Übrigen auch zwischen den Beteiligten unstreitig.

25

3. Die Versäumung der Einspruchsfrist durch die Klägerin ist nicht aufgrund der sog. "Emmott'schen Fristenhemmung" unbeachtlich.

26

Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 25. Juli 1991 C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269 Rdnr. 23) kann sich ein säumiger Mitgliedstaat zwar bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf die verspätete Einlegung einer Klage berufen (vgl. zuletzt EuGH-Urteil vom 24. März 2009 C-445/06, Danske Slagterier, Slg. 2009, I-2119 Rdnrn. 53 f.). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern setzt das Vorliegen besonderer Umstände voraus, die sich in der Rechtssache Emmott daraus ergaben, dass ein Bürger eines Mitgliedstaates von dessen Behörden zunächst von der rechtzeitigen Einlegung einer Klage abgehalten und ihm später der Einwand der verspäteten Klageerhebung entgegen gehalten wurde (EuGH-Urteil Danske Slagterier in Slg. 2009, I-2119 Rdnr. 54). Eine derartige Fallgestaltung ist im Streitfall nicht gegeben, da die Klägerin nicht daran gehindert war, innerhalb der allgemeinen Fristen ihre Umsatzsteuerfestsetzungen anzufechten (vgl. BFH-Entscheidungen vom 23. November 2006 V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23. November 2006 V R 51/05, BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; vom 9. Oktober 2008 V R 45/06, BFH/NV 2009, 39; BFH-Urteile in BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399; vom 15. September 2004 I R 83/04, BFH/NV 2005, 229).

27

4. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nach dem Unionsrecht weder die Dauer der Einspruchsfrist zu beanstanden, noch besteht eine Anlaufhemmung bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie Kenntnis von der EuGH-Entscheidung Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 erlangt hat. Das FA war auch nicht verpflichtet, ihr die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist zu gewähren.

28

a) Die Dauer der Einspruchsfrist nach § 355 AO verstößt weder gegen die unionsrechtlichen Vorgaben des Äquivalenz- noch des Effektivitätsprinzips, da nach dem EuGH-Urteil vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04, I-21 Germany und Arcor (Slg. 2006, I-8559 Rdnrn. 59, 60 und 62) eine einmonatige Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs angemessen ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf sein Urteil in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436.

29

b) Die Einspruchsfrist beginnt --trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht-- mit Bekanntgabe des Steuerbescheids und nicht erst zu dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin Kenntnis von der EuGH-Entscheidung Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 erlangen konnte.

30

Das Unionsrecht verlangt auf Grundlage der aus Art. 10 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG) abgeleiteten Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz (zum Grundsatz der Zusammenarbeit vgl. EuGH-Urteil vom 8. September 2010 C-409/06, Winner Wetten, juris, unter Rdnrn. 55, 58) nur, dass die Mitgliedstaaten die verfahrensrechtlichen Fristen, die zur Durchsetzung des Unionsrechts einzuhalten sind, nicht ungünstiger ausgestalten als in den nur das innerstaatliche Recht betreffenden Verfahren. Weiter darf es nicht praktisch unmöglich sein, eine auf das Unionsrecht gestützte Rechtsposition geltend zu machen. Danach sind Verwaltungsakte, die nach Ablauf einer angemessenen Frist nicht mehr anfechtbar sind, selbst wenn sie gegen das Unionsrecht verstoßen, für die Beteiligten bindend (vgl. EuGH-Entscheidungen vom 13. Januar 2004 C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51).

31

Die Klägerin beansprucht demgegenüber für sich eine Besserstellung gegenüber den Steuerpflichtigen, die sich auf eine Rechtsposition des innerstaatlichen Rechts berufen können, diese aber nicht kennen und sich nach Ablauf der Einspruchsfrist in § 355 Abs. 1 AO die formelle Bestandskraft der Steuerfestsetzung entgegenhalten lassen müssen.

32

Die von der Klägerin für maßgeblich gehaltenen Umstände, dass die Richtlinie 77/388/EWG sich an die Mitgliedstaaten und nicht unmittelbar an den Bürger als Adressaten wende und es bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 nicht vorhersehbar gewesen sei, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar Anwendung finden könne, rechtfertigt entgegen ihrer Auffassung nicht den Schluss, dass es "praktisch unmöglich" war, diese Rechtsposition im Rahmen der "normalen" Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO durchzusetzen. Denn es kommt nicht darauf an, ob eine nach Erlass eines Bescheids eintretende günstige Rechtsentwicklung auf einer günstigen Richtlinienauslegung durch den EuGH oder auf einer anderen Grundlage beruht. Ein Steuerpflichtiger, der mit Rücksicht auf die herrschende Rechtsauffassung zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses von einer Klage abgesehen und es unterlassen hat, die Gerichte selbst von einem Verstoß der Steuerfestsetzung gegen das Unionsrecht zu überzeugen, nimmt den Eintritt der Bestandskraft --auch für den Fall eines späteren Rechtsprechungswandels-- bewusst in Kauf (vgl. bereits Senatsurteil vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889, unter II.3.b; s. auch weiter unten bei II.5.c bb). Die Rechtsverfolgung innerhalb der allgemeinen gesetzlichen Fristen ist daher auch bei Fragen des Unionsrechts möglich und zumutbar (BFH-Urteil in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433, unter II.3.).

33

c) Das FG hat weiter zutreffend entschieden, dass der Klägerin keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gemäß § 110 AO zu gewähren war.

34

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass im Zeitpunkt des Einspruchs mit Schreiben unter dem 13. April 2005, den das FG zugleich als Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß § 110 Abs. 1 AO behandelte, mehr als ein Jahr seit dem Ende der versäumten Einspruchsfrist verstrichen war. Das FG hat eine Wiedereinsetzung --sowohl auf Antrag der Klägerin als auch von Amts wegen-- daher zutreffend bereits im Hinblick auf die gemäß § 110 Abs. 3 AO einzuhaltende Jahresfrist verneint.

35

Der Auffassung der Klägerin, die Jahresfrist sei unbeachtlich, da sie bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 weder habe wissen können noch müssen, dass die Steuerbefreiung gemäß Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar zu ihren Gunsten anwendbar sei, schließt sich der Senat nicht an. Die Klägerin kann sich insoweit nicht auf das BFH-Urteil vom 8. Februar 2001 VII R 59/99 (BFHE 194, 466, BStBl II 2001, 506) berufen. Diese Entscheidung betraf die Wiedereinsetzung in die prozessuale Antragsfrist gemäß § 68 FGO a.F. Für den Streitfall, in dem es die Klägerin von vornherein unterlassen hat, Rechtsbehelfe gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen einzulegen, lässt sich hieraus nichts ableiten.

36

Die Klägerin beansprucht vielmehr (vgl. bereits oben unter II.4.b) eine verfahrensrechtliche Besserstellung gegenüber den sich aus dem nationalen Recht ergebenden Rechten, um die auf der Richtlinie 77/388/EWG beruhende Steuerbefreiung durchzusetzen. Das Unionsrecht gebietet es jedoch nicht, die Klägerin verfahrensrechtlich besserzustellen (vgl. oben II.4.a zur Einspruchsfrist und die Senatsentscheidung in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433, unter II.3.; EuGH-Urteil Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37).

37

5. Die Klägerin kann auch keine Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen beanspruchen.

38

a) Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfen des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. Urteile Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51).

39

b) Zu beachten ist allerdings, dass die für den Erlass einer Verwaltungsentscheidung zuständige Behörde nach dem (für die Streitjahre noch) in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sein kann, ihre Entscheidung zu überprüfen und zurückzunehmen (EuGH-Urteile Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 28; vom 16. März 2006 C-234/04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585, unter Rdnr. 23; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 52; vom 12. Februar 2008 C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411, unter Rdnrn. 37 bis 39; vom 3. September 2009 C-2/08, Olimpiclub, Slg. 2009, I-7501, EuZW 2009, 739, unter Rdnrn. 23 ff.; Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37).

40

Für diesen Überprüfungs- und Aufhebungsanspruch müssen nach der Rechtsprechung des EuGH vier "Voraussetzungen" vorliegen:

41

- Erstens muss die Behörde nach nationalem Recht befugt sein,

die bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen.

- Zweitens muss die Entscheidung infolge eines Urteils eines

in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts gegen-

über dem die Änderung begehrenden Steuerpflichtigen be-

standskräftig geworden sein.

- Drittens muss das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergan-

gene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen

Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen, die erfolgt ist,

ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist,

obwohl die Voraussetzungen einer Vorlage gemäß Art. 234

Abs. 3 EG (nunmehr Art. 267 des Vertrags über die Arbeits-

weise der Europäischen Union --AEUV--) erfüllt waren.

- Viertens muss der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er

Kenntnis von der besagten Entscheidung des EuGH erlangt

habe, an die Verwaltungsbehörde gewandt haben.

42

c) Bereits die erste Voraussetzung, nach der eine nationale Behörde zur Aufhebung oder Änderung eines rechtswidrigen bestandskräftigen Steuerbescheids "befugt" sein muss, ist im Streitfall nicht erfüllt.

43

aa) Steuerbescheide i.S. des § 155 AO können bei nachträglich erkannter Unionsrechtswidrigkeit --wie auch bei einem nachträglich erkannten Verstoß gegen innerstaatliches Recht-- auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Grundsätze" und den §§ 172 ff. AO nicht geändert werden, da es im steuerrechtlichen Verfahrensrecht an der hierzu erforderlichen Befugnis fehlt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23. November 2006 V R 28/05, BFH/NV 2007, 872; in BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399; vom 8. Juli 2009 XI R 41/08, BFH/NV 2010, 1; zustimmend Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 130 Rz 32 f. und § 172 Rz 4 a; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 172 bis 177 Rz 41.1; de Weerth, Der Betrieb --DB-- 2009, 2677; Tehler in Festschrift für Reiss 2008, 81, 94; Leonard/Sczcekalla, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2005, 420, 426 ff.; Birk/Jahndorf, UR 2005, 198, 199 f.; Gosch, DStR 2005, 413 ff., DStR 2004, 1988, 1991).

44

Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH (Urteile Kapferer in Slg. 2006, I-2585, unter Rdnrn. 22 und 23; Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnrn. 37 f.), der der Senat folgt, setzt der auf den "Kühne & Heitz-Grundsätzen" beruhende Anspruch auf Überprüfung oder Änderung rechtskräftiger Entscheidungen voraus, dass das nationale Verfahrensrecht hierfür eine Rechtsgrundlage vorsieht und insoweit das Äquivalenz- sowie das Effektivitätsprinzip beachtet werden. Hiermit stellt der EuGH klar, dass das Unionsrecht weder verlangt, im nationalen Verfahrensrecht einen entsprechenden Überprüfungs- oder Änderungsanspruch für bestandskräftige unionsrechtswidrige Verwaltungsakte vorzusehen, noch, dass aus dem Unionsrecht ein eigenständiger (vom nationalen Recht losgelöster) Überprüfungs- und Änderungsanspruch abgeleitet werden kann (unzutreffend daher Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2563; Meilicke, DStR 2007, 1892, 1893; ders., Betriebs-Berater --BB-- 2004, 1087; Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1257).

45

bb) Die fehlende Änderungsmöglichkeit für bestandskräftige unionsrechtswidrige Steuerbescheide in den §§ 172 ff. AO verstößt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht gegen den unionsrechtlichen Äquivalenzgrundsatz.

46

Im Streitfall kann offen bleiben, ob auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Grundsätze" im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO bei unionsrechtswidrigen Steuerverwaltungsakten (§ 118 AO) eine Ermessensreduzierung eintreten und ein Überprüfungs- oder Änderungsanspruch bei bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten bestehen kann (so Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 130 AO Rz 22 ff.; Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2564). Selbst wenn dies zutreffen sollte, verletzt die abweichende Rechtslage bei Steuerbescheiden (vgl. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO) nicht das Äquivalenzprinzip. Der nach nationalem Recht bestehende Dualismus der abgabenrechtlichen Korrekturvorschriften mit voneinander unabhängigen Regelungssystemen --§§ 130, 131 AO einerseits und §§ 172 ff. AO andererseits-- ist ein Grundprinzip des steuerrechtlichen Verfahrensrechts (vgl. Wernsmann in HHSp, vor §§ 130 bis 133 AO Rz 43, 114 ff.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Vorbemerkungen zu §§ 172 bis 177 AO Rz 6; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 130 bis 133 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 172 Rz 1; Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., vor §§ 172 bis 177 Rz 5). Dem Äquivalenzprinzip wird genügt, wenn innerhalb der verfahrensrechtlich jeweils eigenständigen Änderungsregelungen für rechtswidrige bestandskräftige Steuerverwaltungsakte einerseits und für Steuerbescheide andererseits dieselben Änderungsmöglichkeiten zur Durchsetzung der sich aus dem nationalem Recht und dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche bestehen (vgl. z.B. EuGH-Urteil Asturcom Telecomunicationes SL, Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnrn. 49 f.). Dies ist vorliegend der Fall, da Verstöße gegen innerstaatliches Recht und das Unionsrecht innerhalb der beiden Änderungssysteme jeweils gleich behandelt werden.

47

cc) Ferner verstößt die fehlende nachträgliche Änderungsmöglichkeit für unionsrechtswidrige Steuerbescheide nicht gegen das Effektivitätsprinzip.

48

Der Grundsatz der Effektivität ist entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin nicht verletzt, wenn der Steuerpflichtige eine Steuerfestsetzung des FA bestandskräftig werden lässt, weil eine künftige Rechtsprechungsänderung des EuGH oder BFH zu seinen Gunsten nicht absehbar ist (Senatsurteil in BFH/NV 2008, 1889, unter II.1.d). Denn durch das Rechtsinstitut der Bestandskraft bezweckt der Gesetzgeber den Eintritt der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Dieser Zweck würde vereitelt, wenn die Bestandskraft nachträglich durchbrochen werden könnte und dies von der regelmäßig schwierig zu beurteilenden Vorhersehbarkeit einer Rechtsprechungsänderung des EuGH oder des BFH abhängig gemacht würde. Es ist --wie bereits unter II.4.b erläutert-- Sache des Steuerpflichtigen, unter Übernahme des Kostenrisikos seine Chance zur Herbeiführung der Korrektur einer entgegenstehenden Rechtsprechung zu wahren, indem er Rechtsmittel einlegt (Senatsurteil in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433). Sieht der Steuerpflichtige hiervon ab, nimmt er den Eintritt der Bestandskraft auch für den Fall einer späteren Rechtsprechungsänderung bewusst in Kauf.

49

Dass nach den von der Klägerin angeführten zivilrechtlichen Entscheidungen eine Haftung von Steuerberatern bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 mangels Verschuldens nicht in Betracht kommen kann, wenn diese auf die Steuerfreiheit der Umsätze nicht hingewiesen hatten, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Der Effektivitätsgrundsatz garantiert --anders als die Klägerin meint-- nur eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener Frist. Er betrifft das Verfahren, nicht aber die Frage, ob es in der Sache schwierig ist, eine günstige Rechtsentwicklung vorherzusehen und durchzusetzen. Der EuGH hat die deutschen Einspruchs- und Klagefristen und damit die nationalen verfahrensrechtlichen Regelungen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht beanstandet (EuGH-Urteil I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 58 bis 60; vgl. auch unter II.4.a und b).

50

dd) Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 4. September 2008  2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst 2009, 60) ergibt sich ebenfalls nichts anderes. Zwar hat das BVerfG dort ausgeführt, der EuGH habe die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet und es sei unklar, welche Bedeutung der vom EuGH in der "Kühne und Heitz-Entscheidung" aufgestellten Voraussetzung zukomme, die Behörde müsse nach nationalem Recht befugt sein, die Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. Die vom BVerfG hierzu zitierten Schrifttumsauffassungen beziehen sich aber zu Recht ausschließlich auf die --für Steuerbescheide nicht maßgeblichen-- §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 51 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), die für rechtswidrige unanfechtbare Verwaltungsakte im allgemeinen Verwaltungsrecht wie in § 130 Abs. 1 AO --anders als die §§ 172 ff. AO-- unter bestimmten Voraussetzungen eine ermessensgebundene Überprüfungs- und Änderungspflicht vorsehen (vgl. im Hinblick auf unionsrechtswidrige Verwaltungsakte zu den §§ 48, 51 VwVfG BVerwG-Urteile vom 22. Oktober 2009  1 C 26/08, Deutsches Verwaltungsblatt --DVBl-- 2010, 261; vom 17. Januar 2007  6 C 32/06, NVwZ 2007, 709).

51

d) Die zweite Voraussetzung der "Kühne & Heitz-Rechtsprechung" liegt ebenfalls nicht vor. Die Klägerin hat --wie sie selbst einräumt-- gegen die bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen nicht die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe (vgl. EuGH-Urteil I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 53 f.) ausgeschöpft (vgl. zu diesem Erfordernis BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 229; Kanitz/Wendel, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2008, 231, 232; Ludwigs, DVBl 2008, 1164, 1170; Müller/Seer, Internationale Wirtschaftsbriefe Fach 11, Gruppe 2, 865, 875; Rennert, DVBl 2007, 400, 408; Ruffert, Juristenzeitung 2007, 407, 409). Die Gegenauffassung von Meilicke (DStR 2007, 1892, 1893; ders., BB 2004, 1087 ff., und Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1255), nach der die Rechtslage hinsichtlich dieser Voraussetzung nicht abschließend geklärt sein soll, vermag nicht zu begründen, warum und in welcher Hinsicht nach den Ausführungen des EuGH im Urteil I-21 Germany & Arcor in Slg. 2006, I-8559 noch Klärungsbedarf besteht.

52

Der EuGH hat auch nicht, wie die Klägerin behauptet, im Urteil Danske Slagterier in Slg. 2009, I-2119 von dieser Voraussetzung Abstand genommen, sondern dort lediglich im Bezug auf den unionsrechtlichen Entschädigungs- und Staatshaftungsanspruch entschieden, es sei nicht in jedem Fall zwingend erforderlich, dass der Geschädigte zuvor im Wege des Primärrechtsschutzes gegen das zum Schaden führende legislative oder judikative Unrecht vorgehe (vgl. auch EuGH-Urteil vom 26. Januar 2010 C-118/08, Transportes Urbanos y Servicios Generales, BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnr. 48). Für die im "Kühne & Heitz-Urteil" definierten Korrekturvoraussetzungen bei rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakten folgt hieraus nichts.

53

6. Im Streitfall sind die von der Klägerin aufgeworfenen Vorlagefragen 6 und 7 zu den Voraussetzungen des unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nicht entscheidungserheblich, da sie im vorliegenden Verfahren nur die Änderung der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen, nicht aber auch einen Erlass der Steuer begehrt.

54

a) Das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen. Es besteht ein Entschädigungs- oder Staatshaftungsanspruch, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, oder ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer und der Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Voraussetzung ist, dass die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den Betroffenen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht (vgl. EuGH-Urteile vom 12. Dezember 2006 C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753; vom 13. März 2007 C-524/04, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107, unter Rdnrn. 110, 111; vom 23. April 2008 C-201/05, Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation, Slg. 2008, I-2875; in Transportes Urbanos y Servicios Generales in BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnrn. 29 ff.).

55

b) Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nur ein Erlass der Steuer gemäß § 227 AO in Betracht kommt (vgl. BFH-Entscheidungen vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460; in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; in BFH/NV 2008, 1889; vom 5. Juni 2009 V B 52/08, BFH/NV 2009, 1593). Mangels einer Unionsregelung über die Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, insoweit die Verfahrensmodalitäten zu regeln (vgl. das EuGH-Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation in Slg. 2006, I-11753, unter Rdnr. 203).

56

7. Der Senat folgt im Übrigen nicht der Anregung der Klägerin, gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen zu den Voraussetzungen, unter denen eine Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Rechtsprechung" des EuGH in Betracht kommt, sowie zu Beginn und Dauer der Einspruchs- und Wiedereinsetzungsfrist bei nicht zutreffender Umsetzung einer Richtlinienbestimmung sind --wie dargelegt-- nach Auffassung des Senats bereits geklärt (vgl. unter II.5.). Unter diesen Umständen besteht für den Senat keine Vorlagepflicht (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81, Cilfit u.a., Slg. 1982, 3415, unter Rdnr. 21; vom 6. Dezember 2005 C-461/03, Gaston Schul, Slg. 2005, I-10513; vom 15. September 2005 C-495/03, Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151).

57

8. Es kommt schließlich keine Aussetzung des Verfahrens und Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) an das BVerfG in Betracht. Die unter II.5. dargelegten möglicherweise unterschiedlichen Rechtsfolgen für die Aufheb- und Änderbarkeit von bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten i.S. des § 118 AO und von Steuerbescheiden gemäß § 155 AO, wenn nachträglich deren Unionsrechtswidrigkeit festgestellt wird, führen wegen des Dualismus der Korrektursysteme in §§ 130 ff. AO und §§ 172 ff. AO nicht zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung i.S. des Art. 3 Abs. 1 GG.

(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.