EuGH: türkischer Staatsangehöriger mit Mini-Job darf bleiben

bei uns veröffentlicht am18.02.2010

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für Öffentliches Recht

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Zusammenfassung des Autors
Anwalt für Ausländerrecht - BSP Bierbach, Streifler & Partner PartGmbB
Der EuGH hat mit dem Urteil vom 04.02.2010 (Az: C-14/09) folgendes entschieden:  Eine Person, die sich in einer Situation wie derjenigen der Klägerin des Ausgangsverfahrens befindet, ist Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, wenn es sich bei der fraglichen unselbständigen Tätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die tatsächlichen Prüfungen vorzunehmen, deren es zur Beurteilung der Frage bedarf, ob dies in der bei ihm anhängigen Rechtssache der Fall ist.

Ein türkischer Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 kann sich auch dann auf das ihm nach dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei zustehende Freizügigkeitsrecht berufen, wenn der Aufenthaltszweck der Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat entfallen ist. Erfüllt ein solcher Arbeitnehmer die in Art. 6 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen, darf sein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nicht zusätzlichen Bedingungen hinsichtlich des Bestehens von den Aufenthalt rechtfertigenden Belangen oder der Art der Beschäftigung unterworfen werden.

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG–Türkei (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Genc, einer türkischen Staatsangehörigen, und dem Land Berlin wegen der Versagung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland.


Rechtlicher Rahmen

Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

– nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

– nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

– nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.“

Art. 7 des Beschlusses bestimmt:
„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,

– haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;

– haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.“

Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sieht vor:
„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.“


Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Frau Genc, die 1966 geboren ist, reiste am 7. Juli 2000 mit einem Visum zum Zweck der Familienzusammenführung nach Deutschland zu ihrem dort lebenden türkischen Ehemann ein.

In den Folgejahren erhielt sie eine Aufenthaltserlaubnis und eine unbefristete Arbeitserlaubnis. Ihr Ehemann war zunächst als Arbeitnehmer tätig und nahm am 5. Mai 2003 eine selbständige Gewerbetätigkeit auf.

Die Eheleute, die bis zum 12. Januar 2004 eine gemeinsame Meldeanschrift hatten, trennten sich zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt. Am 1. August 2005 wurde Frau Genc zuletzt eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Geltungsdauer von zwei Jahren auf der Grundlage des § 30 (Ehegattennachzug) des Aufenthaltsgesetzes vom 30. Juli 2004 erteilt.

Frau Genc ist seit dem 18. Juni 2004 als Raumpflegerin bei der L. Glas- und Gebäudereinigungsservice GmbH beschäftigt. Nach dem am 9. November 2007 schriftlich gefassten Arbeitsvertrag betrug die wöchentliche Arbeitszeit 5,5 Stunden zu einem Stundenlohn von 7,87 Euro. Der Vertrag sieht einen Urlaubsanspruch von 28 Tagen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vor. Ferner ist die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung vereinbart worden. Aus diesem Beschäftigungsverhältnis bezieht Frau Genc einen monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 Euro.

Am 7. August 2007 beantragte Frau Genc eine weitere Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis. Sie bezog zu dieser Zeit neben ihrem Erwerbseinkommen fortlaufend Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II. Diese Leistungen wurden zum Mai 2008 aufgrund eigener Abmeldung von Frau Genc eingestellt.

Mit Bescheid vom 4. Februar 2008 lehnte das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und drohte Frau Genc die Abschiebung an. Nach Auffassung des Landesamts konnte Frau Genc keine Rechte aus dem Beschluss Nr. 1/80 geltend machen, weil sie die Voraussetzungen des Art. 6 des Beschlusses nicht erfüllte. In Anbetracht der besonders geringen Zahl von Arbeitstunden, die sie bei der Firma L. Glas- und Gebäudereinigungsservice GmbH leiste, könne die Erwerbstätigkeit von Frau Genc nicht als eine ordnungsgemäße Beschäftigung angesehen werden. Sie habe auch keine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erworben, da ihr Ehemann im Mai 2003 als Selbstständiger aus dem regulären Arbeitsmarkt als Arbeitnehmer ausgeschieden sei. Sonstige schutzwürdige Belange für einen weiteren Verbleib der Klägerin des Ausgangsverfahrens im Bundesgebiet bestünden nicht.

Gegen diese Entscheidung erhob Frau Genc am 22. Februar 2008 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin. Sie stellte darüber hinaus einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, dem stattgegeben wurde.

In der Folgezeit legte Frau Genc einen Arbeitsvertrag vom 30. April 2008 für ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis ab dem 2. Mai 2008 als Bürohelferin im Umfang von 25 Stunden pro Woche zu einem Nettoarbeitslohn von 422 Euro monatlich vor.

Da das Verwaltungsgericht Berlin unter diesen Umständen der Auffassung ist, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit die Auslegung des Unionsrechts erfordert, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist ein türkischer Staatsangehöriger, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört und dauerhaft für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, die einen gewissen wirtschaftlichen Wert haben und für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält, Arbeitnehmer gemäß Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, auch wenn der zeitliche Umfang der Tätigkeit nur ca. 14 % der tariflichen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten beträgt (hier 5,5 Stunden von 39 Stunden Arbeitszeit pro Woche) und das aus dieser Tätigkeit erzielte alleinige Erwerbseinkommen nur ca. 25 % des nach dem nationalen Recht des Mitgliedsstaates anzusetzenden Bedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts deckt (hier ca. 175 Euro von ca. 715 Euro)?

Für den Fall der Bejahung der Frage 1:

2. Kann sich ein türkischer Staatsangehöriger auch dann auf die assoziationsrechtliche Freizügigkeit als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen, wenn der Aufenthaltszweck der Einreise entfallen ist (hier Ehegattennachzug), keine sonstigen schutzwürdigen Belange für einen Verbleib im Vertragsstaat bestehen und die Möglichkeit der Fortsetzung einer geringfügigen Beschäftigung im Vertragsstaat nicht als Motivation für einen dortigen Verbleib angesehen werden kann, weil insbesondere ernsthafte Bemühungen um eine stabile wirtschaftliche Integration ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts fehlen?


Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage


Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein türkischer Staatsangehöriger, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats angehört und dauerhaft für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält, Arbeitnehmer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist, obwohl der zeitliche Umfang der Tätigkeit nur etwa 14 % der tariflichen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten beträgt und das aus dieser Tätigkeit erzielte Einkommen nur etwa 25 % des nach dem nationalen Recht des Mitgliedsstaates anzusetzenden Bedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts deckt.

Nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 müssen türkische Staatsangehörige, die sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechte berufen wollen, drei Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen Arbeitnehmer sein, dem regulären Arbeitsmarkt angehören und einer ordnungsgemäßen Beschäftigung nachgehen.

Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut von Art. 12 des Assoziierungsabkommens EWG–Türkei und Art. 36 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten, dem Abkommen als Anhang beigefügten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft abgeschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80 abgeleitet, dass die im Rahmen der Art. 48 und 49 EG-Vertrag (nach Änderung Art. 39 EG und 40 EG) sowie des Art. 50 EG-Vertrag (später Art. 41 EG) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden müssen.

Für die Prüfung, ob die erste in Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 aufgestellte Voraussetzung erfüllt ist, ist daher die Auslegung des Begriffs des Arbeitnehmers im Unionsrecht heranzuziehen.

Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, kommt dem Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Art. 39 EG eine für das Unionsrecht autonome Bedeutung zu, und er darf nicht eng ausgelegt werden. Als „Arbeitnehmer“ ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.

Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch die Herkunft der Mittel für diese Vergütung oder der Umstand, dass der Betreffende die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht, kann irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts haben.

Indem das vorlegende Gericht festgestellt hat, dass Frau Genc für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält, hat es zugleich festgestellt, dass die Grundmerkmale eines Arbeitsverhältnisses vorliegen, nämlich ein Abhängigkeitsverhältnis und die Zahlung einer Vergütung als Gegenleistung für die erbrachten Leistungen.

Das nationale Gericht wirft jedoch die Frage auf, ob eine geringfügige Beschäftigung wie die von Frau Genc ihr in Anbetracht der von ihr geleisteten besonders geringen Zahl Arbeitsstunden und der von ihr bezogenen Vergütung, die den Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts nur teilweise deckt, die Rechtsstellung einer Arbeitnehmerin im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs verschaffen kann.

Im Urteil vom 14. Dezember 1995, Megner und Scheffel, hatte sich der Gerichtshof u. a. zur Frage zu äußern, ob zwei in Deutschland als Reinigungskräfte beschäftigte Unionsangehörige, deren Arbeitszeit zehn Stunden pro Woche betrug und deren Arbeitsentgelt im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nicht überstieg, zur Erwerbsbevölkerung im Sinne der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit gehören.

In diesem Urteil hat der Gerichtshof das Vorbringen der deutschen Regierung, geringfügig Beschäftigte gehörten nicht zur Erwerbsbevölkerung, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mit den geringfügigen Einnahmen aus einer solchen Tätigkeit bestreiten könnten, zurückgewiesen.

Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Tatsache, dass das Einkommen des Arbeitnehmers nicht seinen ganzen Lebensunterhalt deckt, ihm nicht die Eigenschaft eines Erwerbstätigen nimmt und dass der Umstand, dass die Bezahlung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis unter dem Existenzminimum liegt oder die normale Arbeitszeit selbst zehn Stunden pro Woche nicht übersteigt, nicht hindert, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG anzusehen.

Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und es somit ermöglicht, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 39 EG zuzuerkennen.

Bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses von Frau Genc sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub von 28 Tagen, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie der Umstand, dass ihr Arbeitsverhältnis mit demselben Unternehmen beinahe vier Jahre bestanden hat.

Diese letztgenannten Gesichtspunkte können darauf hindeuten, dass es sich bei dieser Erwerbstätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt.

Das nationale Gericht weist jedoch darauf hin, dass in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs in Bezug auf Arbeitszeit und Entgelt keine bestimmte Grenze festgelegt sei, unterhalb deren eine Tätigkeit als völlig untergeordnet und unwesentlich zu betrachten wäre, und dass dies zur Unbestimmtheit des Begriffs der völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit beitrage.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG eine enge Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof vorsieht, die auf einer Verteilung der Aufgaben zwischen ihnen beruht, und ein Instrument darstellt, mit dem der Gerichtshof den nationalen Gerichten die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen.

Eines der wesentlichen Merkmale des durch Art. 234 EG geschaffenen Systems der gerichtlichen Zusammenarbeit besteht darin, dass der Gerichtshof eine ihm gestellte Frage nach der Auslegung des Unionsrechts eher abstrakt und allgemein beantwortet, während es Sache des vorlegenden Gerichts ist, den bei ihm anhängigen Rechtsstreit unter Berücksichtigung der Antwort des Gerichtshofs zu entscheiden.

Die Prüfung der Folgen, die sich aus der Gesamtheit der ein Arbeitsverhältnis kennzeichnenden Aspekte, insbesondere der in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils genannten, für die Feststellung ergeben können, ob es sich bei der von Frau Genc ausgeübten unselbständigen Tätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt und sie damit Arbeitnehmerin ist, fällt in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts. Denn dieses verfügt allein über eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts und ist am besten in der Lage, die erforderlichen Prüfungen vorzunehmen.

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass eine Person, die sich in einer Situation wie derjenigen der Klägerin des Ausgangsverfahrens befindet, Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist, wenn es sich bei der fraglichen unselbständigen Tätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die tatsächlichen Prüfungen vorzunehmen, deren es zur Beurteilung der Frage bedarf, ob dies in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit der Fall ist.


Zur zweiten Frage


Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich ein türkischer Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auch dann auf das ihm nach dem Assoziierungsabkommen EWG–Türkei zustehende Freizügigkeitsrecht berufen kann, wenn der Aufenthaltszweck der Einreise entfallen ist, keine sonstigen schutzwürdigen Belange für einen Verbleib im Aufnahmemitgliedstaat bestehen und die Möglichkeit, dort eine geringfügige Beschäftigung fortzusetzen, nicht als Motivation für einen dortigen Verbleib angesehen werden kann.

Vorab ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht bei dieser Frage, da es von einem türkischen Arbeitnehmer im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 spricht, davon ausgeht, dass Frau Genc die dort aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, dass sie also nicht nur Arbeitnehmerin ist, sondern auch dem regulären Arbeitsmarkt angehört und einer ordnungsgemäßen Beschäftigung nachgeht.

Nach gefestigter Rechtsprechung folgt sowohl aus dem Vorrang des Unionsrechts vor dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten als auch aus der unmittelbaren Wirkung einer Bestimmung wie Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80, dass es einem Mitgliedstaat nicht gestattet ist, den Inhalt des Systems zur schrittweisen Integration türkischer Staatsangehöriger in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats einseitig zu verändern.

Die Mitgliedstaaten können daher keine aufenthaltsrechtliche Maßnahme gegenüber einem türkischen Staatsangehörigen ergreifen, die die Ausübung der Rechte beeinträchtigen kann, die diesem durch das Unionsrecht ausdrücklich verliehen sind.

Erfüllt der türkische Staatsangehörige die Voraussetzungen einer Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80 und ist er daher bereits ordnungsgemäß in einem Mitgliedstaat integriert, so ist Letzterer nicht mehr befugt, die Ausübung dieser Rechte zu beschränken, da sonst dem genannten Beschluss seine praktische Wirksamkeit genommen würde.

Insbesondere hängt die Ausübung der Rechte, die den türkischen Staatsangehörigen nach dem Beschluss Nr. 1/80 zustehen, nicht davon ab, aus welchem Grund ihnen die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung im Aufnahmemitgliedstaat ursprünglich erteilt wurde.

Folglich macht Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht eines türkischen Arbeitnehmers auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat und damit einhergehend sein Recht auf Aufenthalt in diesem Staat nicht davon abhängig, unter welchen Umständen er das Einreise- und Aufenthaltsrecht erworben hat.

Das nationale Gericht führt außerdem an, dass weder schutzwürdige Belange noch die Möglichkeit der Fortsetzung einer geringfügigen Beschäftigung die Verlängerung des Aufenthalts von Frau Genc in Deutschland rechtfertigten.

In diesem Zusammenhang genügt der Hinweis, dass es nur zwei Arten von Beschränkungen der Rechte geben kann, die der Beschluss Nr. 1/80 den türkischen Staatsangehörigen verleiht, die die Voraussetzungen dieses Beschlusses erfüllen: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen.

Der abschließende Charakter der in der vorstehenden Randnummer genannten Beschränkungen wäre in Frage gestellt, wenn die nationalen Behörden das Aufenthaltsrecht des Betroffenen zusätzlichen Bedingungen hinsichtlich des Bestehens von den Aufenthalt rechtfertigenden Belangen oder der Art der Beschäftigung unterwerfen könnten.

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass sich ein türkischer Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auch dann auf das ihm nach dem Assoziierungsabkommen EWG-Türkei zustehende Freizügigkeitsrecht berufen kann, wenn der Aufenthaltszweck der Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat entfallen ist. Erfüllt ein solcher Arbeitnehmer die in Art. 6 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen, darf sein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nicht zusätzlichen Bedingungen hinsichtlich des Bestehens von den Aufenthalt rechtfertigenden Belangen oder der Art der Beschäftigung unterworfen werden.


Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.


Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1. Eine Person, die sich in einer Situation wie derjenigen der Klägerin des Ausgangsverfahrens befindet, ist Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, wenn es sich bei der fraglichen unselbständigen Tätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die tatsächlichen Prüfungen vorzunehmen, deren es zur Beurteilung der Frage bedarf, ob dies in der bei ihm anhängigen Rechtssache der Fall ist.

2. Ein türkischer Arbeitnehmer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 kann sich auch dann auf das ihm nach dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei zustehende Freizügigkeitsrecht berufen, wenn der Aufenthaltszweck der Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat entfallen ist. Erfüllt ein solcher Arbeitnehmer die in Art. 6 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen, darf sein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nicht zusätzlichen Bedingungen hinsichtlich des Bestehens von den Aufenthalt rechtfertigenden Belangen oder der Art der Beschäftigung unterworfen werden.

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