Bundesgerichtshof Urteil, 24. Mai 2011 - 5 StR 565/10

bei uns veröffentlicht am24.05.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 565/10

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 24. Mai 2011
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
24. Mai 2011, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König,
Richter Bellay
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt D.
als Verteidiger für den Angeklagten C. ,
Rechtsanwalt E.
als Verteidiger für die Angeklagte R. ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Juli 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtmittels, an eine andere Jugendschwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten C. wegen (gemeinschaftlicher ) gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Verletzung der Fürsorgepflicht (durch Unterlassen) zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt; die Angeklagte R. wurde wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit (gemeinschaftlicher) gefährlicher Körperverletzung und Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (durch Unterlassen) zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung beider Jugendstrafen wurde zur Bewährung ausgesetzt. Mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, dass eine Verurteilung beider Angeklagter auch wegen versuchten Totschlags (durch Unterlassen) unterblieben ist, und macht im Übrigen Einwände gegen die Strafzumessung geltend. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen :
3
a) Die am 6. August 1990 geborene Angeklagte R. wurde Mitte des Jahres 2007 schwanger und trennte sich „relativ bald“ von dem leiblichen Vater des ungeborenen Kindes. Sie lernte den am 1. Dezember 1987 geborenen Angeklagten C. kennen. Am 16. Mai 2008 gebar sie ihre normalgewichtige, gesunde Tochter L. M. . Im Juli 2008 bezog sie mit dem Angeklagten C. und dem Kind eine gemeinsame Wohnung. Der Angeklagte C. übernahm Vaterpflichten für das Kind.
4
Die Angeklagte R. , die „ohne Strukturen und Halt in den Tag hinein“ lebte, war bereits zuvor durch das Jugendamt betreut worden. Die Jugendamtsmitarbeiter und die Eltern der Angeklagten R. kamen zu der Einschätzung , dass diese mit der Betreuung und Versorgung eines Säuglings überfordert wäre. Die Angeklagte erklärte sich auf Drängen bereit, sozialpädagogische Familienhilfe in Anspruch zu nehmen, in deren Rahmen sie von der gesondert verfolgten Sozialpädagogin K. betreut wurde. Diese berichtete gegenüber dem Jugendamt, dass sich die Angeklagte in ihre Rolle gut eingefunden und zu L. M. eine liebevolle Beziehung aufgebaut habe; ärztliche Untersuchungen erledige sie selbstständig. Tatsächlich wurde L. M. aber nur zweimal im Juni (Dritte Vorsorgeuntersuchung – U3) und Juli 2008 einer Kinderärztin vorgestellt. Am Tag der U3 wog L. M. 4050 g. Weitere Vorsorgeuntersuchungen nahmen die Angeklagten „aus Gleichgül- tigkeit, Faulheit und Unerfahrenheit“ nicht mehr wahr.
5
In den ersten Lebensmonaten versorgten die Angeklagten L. M. noch hinreichend mit Flaschennahrung. „Ungefähr seit Septem- ber/Oktober 2008, als es zur Umstellung der Ernährung des Babys durch das Angebot von säuglingstypischem Brei kam, wurden die Angeklagten den steigenden Anforderungen an die Versorgung und Ernährung ihres Kindes nicht mehr gerecht und gaben L. M. aus Gleichgültigkeit nicht mehr aus- reichend Nahrung“ (UA S. 14). „Die Angeklagte suchte keine Hilfe und Unter- stützung bei ihren Schwestern oder der Betreuerin K. , da sie ihnen, sich und dem übrigen Umfeld zeigen wollte, dass sie entgegen der Prognose des Jugendamtes in der Lage sei, ein Baby ohne deren Hilfe zu versorgen. Der Angeklagte unternahm hiergegen nichts“ (UA S. 15).
6
Im Dezember 2008 suchte die Betreuerin K. die Angeklagten in ihrer Wohnung auf. Obwohl schon zu diesem Zeitpunkt „für einen aufmerksa- men Beobachter“ die Reduzierung des Unterhautfettgewebes im Gesicht des Kindes erkennbar war, gelangte sie zu dem unzutreffenden Ergebnis, dass L. M. ausreichend versorgt werde.
7
Die Angeklagten bemerkten indes „spätestens seit dem 5. Dezember 2008“ (UA S. 19) die sich immer mehr verschlechternde körperliche Verfassung des Kindes und den immer deutlicher werdenden Verlust des Körperfettanteils. Spätestens seit diesem Zeitpunkt wussten sie, dass sie die Versorgung, Pflege und Ernährung ihres Babys nicht gewährleisteten. Dennoch versorgten sie das Kind weiterhin unzureichend. L. M. war ihnen gleichgültig.
8
Am Abend des 20. Februar 2009 verschlechterte sich der Zustand des Kindes, da es sich übergeben musste. Die Angeklagten erkannten „spätestens seit diesem Zeitpunkt“ aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes von L. M. , „der zum Teil faltigen eingefallenen Haut am Hals und Gesäß, ihrer körperlichen Schwäche, des zurückgebliebenen Wachstums, des viel zu geringen Gewichtes, welches nur unwesentlich das Geburtsgewicht überschritten hatte, und aufgrund des Erbrechens, dass L. M. lebensbedrohlich unterernährt und durch das Erbrechen zusätzlich geschwächt war“ (UA S. 26). Obwohl L. M. die letzten zwei Wochen vor ihrem Tod die Nahrung vermehrt verweigerte, gingen die Angeklagten mit ihr nicht zum Arzt. Sie nahmen in Kauf, dass das Kind an dem inzwischen lebensbedrohlich gewor- denen Unterernährungszustand und der durch das Erbrechen bedingten weiteren Schwächung sterben könnte.
9
Am 3. März 2009 suchte die Betreuerin K. die Angeklagten das letzte Mal auf. Sie schlug vor, nach ihrer Urlaubsrückkehr gemeinsam einen Arztbesuch durchzuführen.
10
In der Nacht vom 10. auf den 11. März 2009 verstarb L. M. . Die Angeklagte R. , die am Morgen kurz vor 11.30 Uhr das schon tote Kind regungslos im Bett auf dem Bauch liegend vorgefunden hatte, rief den Angeklagten C. , der es hochnahm. Beide Angeklagten erkannten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass das Kind schon tot war, sondern glaubten, es könne noch gerettet werden. Der von ihnen herbeigerufene Notarzt nahm zunächst Reanimationsversuche vor und erkannte dann, dass schon Leichenflecke und eine beginnende Leichenstarre aufgetreten waren. Zum Todeszeitpunkt wog L. M. lediglich 4802 g, während das Normalgewicht eines Kindes dieses Alters bei 7,5 bis 10,6 kg liegt.
11
Nach den Erkenntnissen des gerichtsmedizinischen Sachverständigen , die sich die Jugendkammer zu eigen macht, war der Körperfettanteil des Kindes fast völlig aufgezehrt. Die über mehrere Monate andauernde Mangelernährung hatte zu einer Verzögerung des Längenwachstums, der Skelettreife und der Organentwicklung geführt. Dass die gravierende Unterernährung todesursächlich war, vermochten der Sachverständige und ihm folgend das Landgericht indes nicht festzustellen. Sie schlossen nicht aus, dass L. M. aufgrund eines von der Mangelernährung unbeeinflussten plötzlichen Kindstodes gestorben war.
12
b) Das Landgericht ist von einem bedingten Tötungsvorsatz beider Angeklagten ausgegangen. Es hat indes angenommen, dass diese wegen der von ihnen nach Todeseintritt entfalteten Rettungsbemühungen vom gemeinschaftlichen Versuch des Totschlags durch Unterlassen strafbefreiend zurückgetreten seien. Beweiswürdigend hat sich die Strafkammer nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Angeklagten zum Zeitpunkt ihrer Rettungsversuche den schon eingetretenen Tod des Kindes erkannten. Im Hinblick darauf, dass ihnen der Erfolgseintritt nicht zurechenbar sei, lägen die Voraussetzungen des „§ 24 Abs. 2 StGB“ vor.
13
2. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Zu Unrecht hat das Landgericht einen strafbefreienden Rücktritt der Angeklagten vom Tötungsversuch angenommen.
14
Die Beweiswürdigung hält – eingedenk deren eingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfbarkeit – materiell-rechtlicher Nachprüfung jedenfalls insoweit nicht stand, als die Jugendkammer zugunsten der Angeklagten angenommen hat, diese hätten zum Zeitpunkt ihrer Rettungsbemühungen den Tod des Kindes nicht erkannt. Insoweit hat der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme vom 11. Januar 2011 zutreffend ausgeführt: „Hierhat die Jugendkammer den Grundsatz ‚in dubio pro reo’ ohne verlässliche Tatsachengrundlage angewandt (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 2008  1 StR 292/08 ). Den Urteilsfeststellungen lässt sich schon nicht entnehmen, dass die Angeklagten  die sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen haben  in ihren polizeilichen Vernehmungen behauptet hätten, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Rettungsbemühungen davon ausgingen , dass das Kind noch lebte. Ausweislich der Urteilsgründe hat der Angeklagte vielmehr bekundet, dass die Angeklagte ihm gesagt habe, das Kind lebe nicht mehr bzw. es sei leblos. Weshalb dem Landgericht vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung dessen, dass die Angeklagte hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen um 11:00 Uhr nachweislich gelogen hat, eine Überzeugungsbildung nicht möglich war, erschließt sich nicht. Dies gilt auch, soweit das Landgericht unterstellt, die Leichenflecken im Gesicht des Opfers hätten mit einer durch Sauerstoffmangel verursachten Verfärbung verwechselt werden können. Selbst bei wohlwollender Lektüre des Urteils ist diesem ei- ne dahingehende Behauptung der Angeklagten nicht zu ent- nehmen.“
15
3. Auch wenn jedenfalls die Feststellungen zum objektiven Geschehen für den Zeitraum vor dem Tod des Kindes und zur Todesursache von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen sind, hebt der Senat alle Feststellungen auf, um eine neue tatgerichtliche Prüfung des gesamten angeklagten Tatgeschehens zu ermöglichen. Dies ist für die erneute Feststellung des Tötungsvorsatzes geboten, welche die Angeklagten nicht zur revisionsgerichtlichen Überprüfung stellen konnten, weil sie im Hinblick auf den angenommenen Rücktritt nicht wegen eines versuchten Tötungsdelikts schuldig gesprochen worden sind. Naheliegend unter Hinzuziehung eines pädiatrischen Sachverständigen wird ferner die komplizierte Frage einer Zurechnung des Todeserfolges zu prüfen sein. Hierfür würde eine Förderung der bislang nicht ausgeschlossenen, jedoch eher ungewöhnlichen Todesursache des „plötzli- chen Kindstodes“ durch die Folgen derin vielfältiger Weise unzureichenden Versorgung des Kindes genügen.
16
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
17
a) Selbst wenn das nunmehr entscheidende Tatgericht zur Frage der Todesverursachung, zum Tötungsvorsatz und zum Vorstellungsbild der Angeklagten im Zeitpunkt der objektiv sinnlosen Rettungsbemühungen zu denselben Feststellungen wie das angefochtene Urteil gelangen sollte, kann ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht angenommen werden (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1997 – 5 StR 127/97, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, beendeter 11; siehe auch BGH, Beschlüsse vom 10. März 2000 – 1 StR 675/99, NJW 2000, 1730, vom 29. Oktober 2002 – 4 StR 281/02, NStZ 2003, 252, und vom 20. Dezember 2002 – 2 StR 251/02, BGHSt 48, 147, 149). Überdies ist in Bedacht zu nehmen, dass der Versuch – anders als bei dem dem Urteil des Senats vom 15. Mai 1997 (aaO) zugrunde liegen- den Sachverhalt – vorliegend nicht untauglich, sondern bereits über zwei Wochen hinaus in vollendungstauglicher Weise fortentwickelt war, alsL. M. nach der Bewertung des Landgerichts nicht ausschließbar an einem von ihrem überaus schlechten körperlichen Zustand unbeeinflussten „plötzlichen Kindstod“ verstarb. Den Täter eines tauglichen Unterlassungsdelikts trifft das volle Erfolgsabwendungsrisiko (vgl. BGH, Beschluss vom 10. März 2000 aaO; Weigend in LK, 12. Aufl., § 13 Rn. 81; siehe auch Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 24 Rn. 22a). Dem entspricht es, dass der Gesetzgeber mit den Regelungen in § 24 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 StGB in erster Linie das Anliegen verfolgt hat, dem Täter – anders als nach vormaligem Recht – bei „ungefährlichen“ Versuchen die Möglichkeit des Rücktrittseinzuräumen (BT-Drucks. IV/650 S. 146). Ein solcher lag hier offensichtlich nicht vor.
18
b) Zu der im angefochtenen Urteil vorgenommenen Strafzumessung ist zu bemerken:
19
aa) Die Anwendung von Jugendstrafrecht auf die Tat des am 1. Dezember 2008 erwachsen gewordenen Angeklagten C. (§ 105 Abs. 1 i.V.m. § 32 JGG) begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
20
Das Landgericht sieht das Schwergewicht der Tat bei den Straftatanteilen , die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Dabei ist es davon ausgegangen, „dass die Fürsorgepflichtverletzungen im Oktober und No- vember 2008 auslösende und ursächliche Bedeutung für die im Dezember 2008 im Erwachsenenalter tateinheitlich begangene gefährliche Körper- verletzung hatten“ (UA S. 67).Indes haben die Angeklagten nach den Feststellungen des Landgerichts erst „spätestens seit dem 5. Dezember 2008“ (UA S. 19) gewusst, dass sie die Versorgung, Pflege und Ernährung ihres Säuglings nicht gewährleisteten. Konsequenterweise wäre erst ab diesem Zeitpunkt, zu dem der Angeklagte bereits erwachsen war, ein Vorsatz auch hinsichtlich der Verletzung der Fürsorgepflicht zu erwägen.
21
Auch wenn aber ein früherer Tatbeginn – mit den Ausführungen des Landgerichts in der rechtlichen Würdigung (UA S. 55), insoweit letztlich sogar zugunsten des Angeklagten – in Betracht gezogen wird, ist die Anwendung von Jugendstrafrecht rechtsfehlerhaft: Nicht nur das zeitliche Schwergewicht der Dauer der Mangelernährung, sondern insbesondere die immer deutlichere Verschlechterung des Zustands des Kindes lagen in einem Zeitraum, in dem der Angeklagte das 21. Lebensjahr bereits vollendet hatte; den Beginn des Tötungsversuches, mit dem das Unterlassen der Angeklagten eine neue Unrechtsdimension erreichte, datiert das Landgericht – insoweit rechtsfehlerfrei – auf den 21. Februar 2009 (UA S. 63), nachdem das Kind erbrochen hatte. Mangelnde Erfahrung in der Säuglingspflege, die schon seit der Umstellung der Nahrung im Oktober 2008 eine viel zu geringe Nahrungszufuhr zur Folge hatte und die das Landgericht als „Ursache für das Leiden des Kindes“ (UA S. 67) ansieht, kann gegenüber der immer deutlicher – bis zur Dramatik im Februar 2009 – hervortretenden Dringlichkeit von Rettungsbe- mühungen nicht als lediglich „fortgeschriebener“ Auslöser fürein im Erwach- senenalter fortgesetztes Verhalten des Angeklagten bewertet werden.
22
bb) Hinsichtlich der Strafzumessung bezüglich der AngeklagtenR. weist der Senat auf die Ausführungen in der Stellungnahme des General- bundesanwalts vom 11. Januar 2011 hin, denen er sich anschließt. Die Schwere ihrer Tat und ihr hoher Erziehungsbedarf sind bei der Bemessung der Jugendstrafe grob unterschätzt worden.
Basdorf Brause Schneider König Bellay

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BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 292/08 vom 21. Oktober 2008 in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. Oktober 2008, an der teilgenommen haben

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 292/08
vom
21. Oktober 2008
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. Oktober
2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt - in der Verhandlung -
als Verteidiger,
Justizangestellte - in der Verhandlung - und
Justizangestellte - bei der Verkündung -
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 21. Januar 2008 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Stuttgart zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen diesen Freispruch richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, welche vom Generalbundesanwalt vertreten wird, mit der Sachrüge.
2
Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

3
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
4
Der Angeklagte bewohnte gemeinsam mit dem Geschädigten S. das Doppelzimmer Nr. 24 des Männerwohnheims der C. in Stutt- gart. Zwischen ihnen bestand ein freundschaftliches Verhältnis. Der Angeklagte unterstützte S. in privaten sowie behördlichen Angelegenheiten und hat ihm auch den Platz im Wohnheim beschafft. Beide sind dem Trinkermilieu zuzurechnen.
5
Am Vormittag des 2. Juni 2007 erhielten sie Besuch von dem Mitbewohner K. , der ebenfalls "russlanddeutscher Aussiedler" war und sich mit S. angefreundet hatte. Das Verhältnis des Angeklagten zu K. war dagegen aufgrund nicht aufgeklärter Vorfälle belastet. Die drei Personen tranken im Zimmer eine 0,7 Liter fassende Flasche Wodka aus.
6
Um die Mittagszeit - nach 11.30 Uhr - verließen S. und K. das Wohnheim, während der Angeklagte allein im Zimmer 24 zurückblieb. Die beiden suchten eine Tankstelle auf, wo sie eine weitere Flasche Wodka und einige Flaschen Bier konsumierten, die S. , der am Tag zuvor sein Arbeitslosengeld II erhalten hatte, bezahlte. Im Laufe des Nachmittags - der genaue Zeitpunkt ließ sich nicht feststellen - kehrten sie ins Wohnheim zurück. S. war so betrunken, dass er nur von K. gestützt sein Zimmer erreichen konnte. Die dem später Geschädigten um 19.30 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 4,2 ‰. Es konnte nicht festgestellt werden, ob der Angeklagte bei der Rückkehr S. s sich in ihrem Zimmer aufhielt. K. ging in sein eigenes Zimmer Nr. 20.
7
Der Angeklagte kaufte sich um 15.37 Uhr in einem Kiosk am Stuttgarter Hauptbahnhof zwei Schachteln der von ihm gerauchten Zigarillos der Marke "Basic Blue". Die Uhrzeit ergibt sich aus den Aufzeichnungen der Registrierkasse. Der Weg vom Wohnheim dorthin beträgt ca. zehn Gehminuten.
8
Am Nachmittag des 2. Juni 2007 vor 17.45 Uhr wurde der Zeuge S. von einer unbekannten Person in seinem Zimmer angegriffen und schwer verletzt. Es bestand akute Lebensgefahr. Er erlitt eine stark blutende, doppelte offene Unterkiefer- sowie Nasenbeinfraktur und verschiedene Schürfwunden. Außerdem wurde er am Hals mit einem kabelartigen Gegenstand, dessen Adern teilweise freilagen, gedrosselt, wodurch im Halsbereich deutlich sichtbare Strangmarken entstanden. Ein Stahldraht - ein Teil des Tatwerkzeugs - wurde am 5. Juni 2007 in der Nähe des Bettes des Angeklagten unter dort abgestellten Badezimmerpantoffeln aufgefunden.
9
Der verletzte S. wurde am Tattag gegen 17.45 Uhr vom Pförtner L. in nicht ansprechbarem, blutverschmiertem Zustand, auf einem Treppenabsatz liegend, vorgefunden. Mit Hilfe eines weiteren Bewohners brachte dieser ihn zurück in sein Zimmer. Herbeigerufene Polizeibeamte, Rettungssanitäter und Notarzt hielten sich dort von ca. 18.00 Uhr bis 19.05 Uhr auf. In diesem Zeitraum war der Angeklagte nicht im gemeinsam bewohnten Zimmer. Der Geschädigte wurde ins Krankenhaus verbracht und auf der Intensivstation behandelt.
10
Um 20.20 Uhr versuchten Kriminalbeamte, die inzwischen den Fall übernommen hatten, die Tür zum Zimmer 24 mit einem überlassenen Schlüssel zu öffnen. Sie trafen in dem von innen verschlossenen Raum den Angeklagten an und nahmen ihn mit zur Kriminalwache. Die Beamten hatten mehrere blutverdächtige Antragungen an Hemd und Hose des Angeklagten festgestellt. Die sachverständig beratene Kammer gelangt auf der Grundlage eines molekulargenetischen Gutachtens zu der Überzeugung, dass diese Blutspuren vom Geschädigten S. herrühren.
11
2. Der gegen den Angeklagten sprechende Tatverdacht beruht auf folgenden Erkenntnissen:
12
a) Die wechselnden Einlassungen des einschlägig vorbestraften Angeklagten :
13
Gegenüber KOK T. gab er am Tattag um 20.20 Uhr an, er habe gegen 18.00 Uhr das Wohnheim verlassen. Zu dem Zeitpunkt sei es S. noch gut gegangen. Vor dem Haftrichter führte er aus, als er gegen 16.30 Uhr das Wohnheim verlassen habe, seien S. und K. bereits zurück gewesen. In der Hauptverhandlung ließ er sich dahin ein, er habe S. am Tattag nicht mehr gesehen, nachdem dieser mit K. fortgegangen sei. Er selbst habe das Wohnheim gegen 15.00 Uhr verlassen, habe nach dem Zigarillokauf noch zwei Bekannte getroffen und sei um 18.30 Uhr in das Zimmer zurückgekehrt. Zu dem Zeitpunkt sei niemand darin gewesen. Beim Haftrichter sei er falsch verstanden worden.
14
b) Die Blutspuren des Geschädigten auf Hemd und Hose des Angeklagten :
15
In der Hauptverhandlung hat der Angeklagte sich ferner dahin eingelassen , das Blut des Geschädigten auf seiner Kleidung sei dadurch zu erklären, dass S. am Vormittag des Tattages in einem Krampfanfall mit dem Kopf auf den Tisch geschlagen sei und Nasenbluten bekommen habe. Hierbei müsse er selbst mit dem Blut des Geschädigten in Kontakt gekommen sein. Nach den Ausführungen des Sachverständigen B. sind die Blutspuren nicht mit einem Nasenbluten zu vereinbaren, weil es sich um Spritzspuren handele.
16
3. Das Landgericht hat sich nicht von der Täterschaft des Angeklagten zu überzeugen vermocht.
17
a) Die wechselnden Einlassungen des Angeklagten sieht es zwar hinsichtlich der zeitlichen Einordnung seines Verlassens und seiner Rückkehr zum Wohnheim als widerlegt an, zumal auch die benannten Bekannten sich an ein Treffen mit dem Angeklagten nicht erinnern konnten. Gleichwohl ist das Landgericht der Auffassung, dass nicht ausgeschlossen werden könne, die Tat sei in der Abwesenheit des Angeklagten von mindestens einer halben Stunde, die er zum Zigarillokauf um 15.37 Uhr gebraucht habe, begangen worden.
18
b) Die Blutspuren, bei denen auch das Landgericht von Spritzspuren ausgeht, die nicht von einem Nasenbluten herrühren, seien "nicht geeignet die volle Überzeugung der Kammer von der Täterschaft des Angeklagten zu begründen , da das Alter dieser Blutantragungen nicht geklärt werden konnte". In diesem Zusammenhang führt die Kammer u.a. aus, im Trinkermilieu, dem der Angeklagte und S. zuzuordnen seien, stünden Sauberkeit und Hygiene nicht an erster Stelle, sodass nicht damit gerechnet werden könne, dass Kleidungsstücke regelmäßig gewaschen werden. Deshalb sei "es nicht nur nicht auszuschließen, sondern sogar zu einem gewissen Grad wahrscheinlich", dass die auf der Kleidung des Angeklagten gefundenen Blutspuren des Geschädigten schon älter seien.
19
c) Den aufgefundenen Stahldraht hat der Sachverständige B. als Teil des Tatwerkzeugs qualifiziert, weil sich mit diesem zwar nicht alle am Hals des Geschädigten festgestellten Strangmarken erklären ließen, jedoch ein großer Teil. Die molekulargenetische Untersuchung dieses Stahldrahtstückes hat eine Mischspur von zumindest zwei Personen ergeben, die im Hauptspurenanteil dem Geschädigten zuzuordnen ist. Der Angeklagte war aber als Mischspurenverursacher sicher auszuschließen. Nach Meinung der Kammer liege es nicht fern, dass der zweite Verursacher, eine unbekannte Person, der Täter der Körperverletzung sei. Sie könne mit Sicherheit ausschließen, dass nach der Tat jemand mit dem Stahldrahtstück in Berührung gekommen sei, da das Zimmer nach dem Antreffen des Angeklagten um 20.20 Uhr des Tattages von den Kri- minalbeamten verschlossen und danach von niemandem mehr betreten worden sei.
20
d) Ein beim Angeklagten bestehendes Motiv "sei nicht zu erkennen". Es spreche nichts dafür, dass es vor der Tat zu einem Bruch im guten Verhältnis zwischen dem Angeklagten und S. gekommen sei. Bei dieser Sachlage sei "das fehlende Motiv des Angeklagten als ein ihn nicht unerheblich entlastender Gesichtspunkt zu bewerten".

II.

21
Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
22
1. Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders würdigt oder Zweifel überwunden hätte. Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn eine vom Tatrichter getroffene Feststellung "lebensfremd" erscheinen mag. Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann rechtsfehlerhaft , wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht (z.B. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes), wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Urt. vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06; BGH NJW 2005, 1727; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33, jew. m.w.N.).
23
2. Das Landgericht hat umfänglich die den Angeklagten belastenden Indizien sowie die ihn entlastenden Umstände aufgelistet und gewürdigt. Gleichwohl werden die Abwägungen den vorstehenden Grundsätzen nicht in vollem Umfang gerecht. Insbesondere hat das Landgericht den Zweifelssatz rechtsfehlerhaft angewendet.
24
Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichende Anhaltspunkte erbracht sind (vgl. nur BVerfG, Beschl. vom 8. November 2006 - 2 BvR 1378/06; BGH NStZ-RR 2003, 371; NStZ 2004, 35, 36; NJW 2007, 2274). Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten zu gewinnen vermag. Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anzuwenden (Senat, Urt. vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06). Keinesfalls gilt er für entlastende Indiztatsachen (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 24 m.w.N.).
25
a) Das Landgericht hatte u.a. als besonders gewichtiges Belastungsindiz zu prüfen, ob die dem Geschädigten zuzuordnenden Blutspuren auf Hemd und Hose des Angeklagten dessen Täterschaft belegen können. Soweit es eine vor der Tat liegende Entstehung der Blutspuren in Form von Spritzspuren unter Hinweis auf das Trinkermilieu und die in Augenschein genommenen Fotos des Tatortes, die ein vermülltes und unaufgeräumtes Zimmer zeigen, für wahrscheinlich hält, fehlt es an jeglichen Anknüpfungstatsachen, zumal nicht festgestellt werden konnte, wann die betreffenden Kleidungsstücke zuletzt gewaschen oder gereinigt wurden. Das Landgericht hat ausdrücklich dargelegt, dass sich frühere Übergriffe des Angeklagten auf den Geschädigten nicht feststellen ließen. Der Sachverständige hat Kontakt- oder Tropfspuren ausgeschlossen, das Blut müsse vielmehr auf die Kleidungsstücke gespritzt sein. Das spricht für eine massive Gewalteinwirkung und nicht etwa für eine bloße Verletzung im Alltag. Es gibt keinen Erfahrungssatz dahin, dass im Trinkermilieu Blutanhaftungen in Form von Spritzspuren üblicherweise entstehen. Bei der früheren Entstehung handelt es sich daher um eine rein denktheoretische Möglichkeit ohne verlässliche Tatsachengrundlage. Der Angeklagte selbst hat sich auf eine Entstehung vor dem Tattag nicht berufen. Seine Einlassung, die Ursache sei in einem Nasenbluten des Geschädigten zu sehen, wurde widerlegt. Allein das Landgericht hat zu Gunsten des Angeklagten eine frühere Entstehung angenommen, was besorgen lässt, dass der Zweifelssatz auf eine einzelne Indiztatsache angewendet wurde. Dafür spricht auch die Formulierung, die Blutspuren seien nicht geeignet, die volle Überzeugung der Kammer von der Täterschaft des Angeklagten zu begründen.
26
b) Im Rahmen der Motivprüfung stellt die Kammer fest, ein Motiv für einen Angriff auf S. sei beim Angeklagten "nicht zu erkennen". Daraus zieht sie zu Gunsten des Angeklagten den Schluss, ein Motiv "fehle", was sie als einen ihn nicht unerheblich entlastenden Gesichtspunkt bewertet. Bei diesem Schluss wurde der Zweifelssatz - was hier durchgreifend rechtsfehlerhaft ist - auf ein einzelnes Indiz, das Tatmotiv, angewendet. Das Landgericht konnte nämlich ein Tatmotiv lediglich "nicht erkennen", hat daraus aber gleichwohl den Schluss gezogen, dass ein Tatmotiv "fehle". Ein bloß unaufklärbares Motiv ist aber nicht gleichbedeutend mit einem tatsächlich fehlenden Tatmotiv, welches in der Tat ein nicht unerhebliches Entlastungsindiz wäre.
27
3. Im Übrigen wird zur weiteren Begründung auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift Bezug genommen.

III.

28
Die Sache muss somit neu verhandelt und entschieden werden. Nack Wahl Kolz Hebenstreit Elf

(1) Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern.

(2) Sind an der Tat mehrere beteiligt, so wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die Vollendung verhindert. Jedoch genügt zu seiner Straflosigkeit sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern, wenn sie ohne sein Zutun nicht vollendet oder unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
_______________________
Zur Verknüpfung von Verdeckungsabsicht und Tötungsvorsatz sowie zum
Rücktritt beim Verdeckungsmord durch Unterlassen.
BGH, Beschl. vom 10. März 2000 - 1 StR 675/99 - LG Stuttgart

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 675/99
vom
10. März 2000
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Mordes u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. März 2000 gemäß § 349
Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 30. Juni 1999 werden als unbegründet verworfen. Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihres Rechtsmittels und die dadurch den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

Das Landgericht hat die beiden miteinander verheirateten Angeklagten jeweils wegen Mordes in Tateinheit mit Mißhandlung von drei Schutzbefohlenen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Als Mordmerkmal ist Verdeckungsabsicht festgestellt. Die Revisionen der Angeklagten haben keinen Erfolg. I. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatten die Angeklagten eine Großfamilie gegründet, in der sie zuletzt mit drei ehelich geborenen Kindern und drei Pflegekindern lebten. Sie hatten das Pflegekind A. (geboren am 2. Juni 1989) etwa sieben Jahre lang und die Pflegekinder Al. (geboren am 29. Mai 1991) und Ale. (geboren am 9. November 1992) etwa dreieinhalb Jahre lang zur Pflege aufgenommen. Die Kinder waren ihnen in altersgerechtem Entwicklungszustand anvertraut worden. Während die Angeklagten ihre
eigenen Kinder gut versorgten, quälten sie die Pflegekinder von Anfang an, um deren Willen zu brechen und sie gefügig zu machen. Dazu setzten sie vor allem auf das natürliche und elementare Bedürfnis nach Nahrung. Sie gaben den Pflegekindern zu wenig, Minderwertiges oder zeitweise gar nichts zu essen. Daneben sperrten sie diese ein und schlugen sie. Die Angeklagten bemerkten und nahmen es hin, wie sie die Kinder dadurch an ihrer Gesundheit schädigten. Diese waren schließlich in ihrer Entwicklung, insbesondere in ihrem Längenwachstum gestört und von sogenanntem psychosozialen Minderwuchs (Kleinwuchs) gezeichnet. Auf dem Hintergrund einer sich im Jahre 1996 entfaltenden Ehe- und Berufskrise, verschärft durch ein scheineheliches Kind der Angeklagten U. R. , entglitt ihnen die Kontrolle über die Nahrungszufuhr , mit der sie die Pflegekinder zunächst gerade so weit bei Kräften hielten, daß sie deren Zustand mit erfundenen Geschichten über Epilepsie, Alkoholembryopathie und andere Ursachen gegenüber Außenstehenden plausibel machen konnten. Nachdem Mitte September 1997 der abgemagerte Zustand der Pflegekinder für jedermann sichtbar war, schotteten die Angeklagten diese von der Außenwelt ab. Sie wollten so verhindern, daß die vorausgegangenen Mißhandlungen aufgedeckt und sie deswegen strafrechtlich verfolgt würden. Insbesondere schickten sie A. nicht mehr zur Schule sowie Al. und Ale. nicht mehr in den Kindergarten. Spätestens Anfang Oktober 1997 erkannten sie, daß die drei Pflegekinder infolge des abgemagerten Zustandes in Lebensgefahr waren, weil deren Körper aufgrund des zuletzt verschärften Nahrungsentzuges auf Fett- und Muskelreserven zurückgegriffen hatte. Gleichwohl konsultierten sie in Kenntnis der tödlichen Gefahr weiter fortschreitender Abmagerung und in weiterer Kenntnis ihrer Handlungspflicht als Pflegeeltern, die für den todbringenden Zustand der Kinder verantwortlich waren, keinen Arzt.
Auch dies unterblieb, weil sie befürchteten, die jahrelange Mißhandlung und das Quälen insbesondere durch Nahrungsentzug würde dadurch im gesamten Ausmaß aufgedeckt. Sie versteckten die Pflegekinder im Haus und "wimmelten Besucher ab". In ihrer angespannten Lebenssituation hofften sie, dennoch nicht ihrer Taten überführt zu werden. Ale. s tarb infolge der Unterernährung am 27. November 1997. Ein in der Todesnacht doch noch herbeigerufener Notarzt konnte ihn nicht mehr reanimieren. Die beiden anderen Pflegekinder wurden durch ärztliche Hilfe gerettet. II. Die Revisionen erweisen sich als unbegründet. Die von der Angeklagten U. R. erhobenen Verfahrensrügen greifen aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 17. Januar 2000 dargelegten Gründen nicht durch. Auch die Sachrügen bleiben ohne Erfolg. Der Erörterung bedarf der Schuldspruch wegen Verdeckungsmordes zum Nachteil des Pflegekindes Ale. . Dieser begegnet keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. 1. Die Annahme, die Angeklagten hätten um die tödliche Konsequenz ihres Handelns und Unterlassens im Umgang mit den Pflegekindern gewußt, ist als Element des Tötungsvorsatzes (sog. Wissenselement) von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Soweit die Revisionen sich hiergegen wenden, suchen sie lediglich ihre eigene Würdigung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen. Damit können sie nicht durchdringen, weil die Bewertung des Landgerichts hierzu tragfähig ist. Sie weist weder Widersprüche noch Lücken auf; auch verstößt sie nicht gegen die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze. Im wesentlichen stützt sich das Landgericht auf die in der Schlußphase für jedermann erkennbare todbringende Auszehrung der Pflegekinder, die die Angeklagten in ihrem Haushalt vor Augen hatten. Auch der Angeklagte K. R. hatte beim Baden den unbekleideten Körper des Ale. Anfang
Oktober 1997 zu Gesicht bekommen. Das Landgericht geht weiter davon aus, daß dieser Zustand der Pflegekinder den Angeklagten auch deshalb nicht verborgen geblieben sein kann, weil sie ihre eigenen Kinder, von denen zwei nur wenig älter waren, vorbildlich versorgt hätten. Überdies hat das Landgericht darauf abgestellt, daß die Angeklagten sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückzogen und intensive Abschottungsbemühungen bis hin zur Abmeldung der Pflegekinder in Schule und Kindergarten sowie zur Ummeldung des Telefons entfalteten. Zudem hätten sie die Frage diskutiert, ob ein Arzt hinzugezogen werden solle. Bei alledem litten die Angeklagten nicht etwa unter Wahrnehmungsstörungen , wie die Strafkammer, sachverständig beraten, nachvollziehbar ausgeführt hat. Wenn sie auf dieser Grundlage und unter Hinweis auf die Lebenserfahrung den Schluß gezogen hat, die Angeklagten seien sich der tödlichen Konsequenz ihres Vorgehens bewußt gewesen, ist diese Folgerung möglich und beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Dabei hat das Landgericht ersichtlich mitbedacht, daß die Angeklagte U. R. s taatlich geprüfte Kindererzieherin ist und der Angeklagte K. R. als ehemaliger Berufssoldat und als Student der Sozialpädagogik mit bereits absolvierten Praktika als Erzieher durchaus über entsprechende Erfahrungsgrundlagen verfügten. Ohne Erfolg beanstandet die Revision der Angeklagten U. R. in diesem Zusammenhang die Würdigung der Aussage des 13jährigen Zeugen F. R. , eines leiblichen Sohnes der Angeklagten. Die Bewertung dieser Aussage ist nicht deshalb lückenhaft, weil das Landgericht nicht ausdrücklich erwogen hat, ob F. R. auf einen entsprechenden Vorhalt nur deswegen - unzutreffend - von einem Gespräch seiner Eltern über das Herbeiholen ärztlicher Hilfe berichtet haben könnte, weil er die Eltern in einem möglichst günstigen Licht habe erscheinen lassen wollen. Die Strafkammer hat die Bekundung
des Kindes F. R. nicht etwa unkritisch übernommen. Sie hat vielmehr darauf abgehoben, daß die Angeklagten selbst diesen Angaben ihres Sohnes in der Hauptverhandlung nicht widersprochen haben, obwohl gerade der in Rede stehende Teil seiner Aussage thematisiert worden sei. Unter diesen Umständen läßt die von der Revision vermißte Erwägung die Beweiswürdigung zur Aussage des F. R. nicht als lückenhaft erscheinen. 2. Gegen die vom Landgericht festgestellte Verdeckungsabsicht der Angeklagten ist von Rechts wegen nichts zu erinnern.
a) Die Verdeckungsabsicht steht nicht im Widerspruch zu einem nur bedingten Tötungsvorsatz der Angeklagten. Das Landgericht hat nicht ausdrücklich hervorgehoben, von welchem Vorsatzgrad der Angeklagten es ausgeht. Der Zusammenhang der Urteilsgründe bietet Anhalt sowohl für die Annahme direkten wie auch bedingten Tötungsvorsatzes. So führt das Landgericht aus, die Angeklagten hätten den sicheren Tod des Pflegekindes "akzeptiert"; "im Bewußtsein der tödlichen Konsequenz" ihres Vorgehens hätten sie die Kinder abgeschottet und auch deren Besuch beim Arzt vermieden. Im Rahmen der Straffindungserwägungen formuliert die Strafkammer allerdings, die Angeklagten hätten in Kenntnis der tödlichen Gefahr "bewußt an ihrer Entscheidung festgehalten, Ale. sterben zu lassen". Letzteres deutet auf direkten Tötungsvorsatz hin, ohne daß sich die Strafkammer jedoch mit der Abgrenzung ausdrücklich auseinandergesetzt hätte. Die Frage kann im Ergebnis dahingestellt bleiben, weil auch die Annahme nur bedingten Tötungsvorsatzes hier einen Widerspruch zur Verdeckungsabsicht nicht begründen würde.
Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden, daß die Annahme von bedingtem Tötungsvorsatz und von Verdeckungsabsicht sich nicht stets widersprechen (BGHSt 21, 283, 284 f.; 41, 358, 359 ff.; BGH NJW 1988, 2682; 1992, 583, 584; StV 2000, 74, 75). Anders verhält es sich nur dann, wenn die vom Täter erstrebte Verdeckung einer Straftat nach seiner Vorstellung nur durch den Tod des Opfers erreicht werden kann. Dann können widerspruchsfrei nur direkter Tötungsvorsatz und Verdeckungsabsicht miteinander einhergehen. Ist der Tod des Opfers hingegen aus Sicht des Täters nicht unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Verdeckung seiner Täterschaft hinsichtlich einer anderen Straftat, so kann das von Verdeckungsabsicht bestimmte Vorgehen des Täters ohne weiteres mit einer nur möglichen, aber gebilligten Todesfolge zusammentreffen, ohne daß darin ein denkgesetzlicher Widerspruch läge (vgl. Jähnke in LK 10. Aufl. § 211 Rdn. 24). So aber lag es hier. Das Landgericht ist - wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt - davon ausgegangen, daß die Maßnahmen der Angeklagten zur Verdeckung der Mißhandlung ihrer Pflegekinder (Abschotten, Unterlassen ärztlicher Hilfe) nach ihrer Vorstellung erfolgversprechend waren. Die Verdeckung der Erziehungspraktiken und Mißhandlungen war bereits über einen längeren Zeitraum hinweg gelungen, in dem die Angeklagten gegenüber Außenstehenden immer neue Erklärungen und Ausreden für die Verhältnisse erfanden und die Kinder selbst sich gegenüber Dritten weitgehend ausschwiegen. Infolge der Mißhandlung durch Nahrungsentzug und Strafen hatten sie gelernt, alle Gebote und Verbote der Angeklagten strikt einzuhalten. Sie "parierten" schon, wenn die Angeklagte U. R. auch nur "mit den Augen rollte". Dementsprechend gingen die Angeklagten, wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt, davon aus, daß ihre Mißhandlungen durch ihre Maßnahmen unentdeckt bleiben würden, und zwar auch für den Fall des Weiterlebens
der Pflegekinder, ebenso aber auch für den Fall ihres Sterbens; für den Fall des tödlichen Ausganges gingen sie zudem davon aus, diesen "irgendwie vertuschen" zu können.
b) Der Annahme von Verdeckungsabsicht steht nicht entgegen, daß die Angeklagten in der Todesnacht des Pflegekindes Ale. doch noch den Notarzt alarmierten, der das Kind erfolglos zu reanimieren versuchte. Über die Ursachen für den Zustand des Kindes suchte der Angeklagte K. R. auch den Notarzt mit Ausreden zu täuschen; die weitere Verdeckung gelang indes nicht mehr; wegen "unnatürlicher Todesursache" schaltete die Rettungsleitstelle die Kriminalpolizei ein.
c) Die Würdigung des Landgerichts zur Verdeckungsabsicht der Angeklagten ist schließlich nicht deshalb zu beanstanden, weil die Angeklagten für den Fall des Todes eines der Pflegekinder keinen konkreten Plan für die Verdeckung der Todesursache oder die Beseitigung der Leiche hatten. Dieser Umstand läßt die Beweiswürdigung des Landgerichts auch insoweit weder als lückenhaft noch als widersprüchlich erscheinen; sie verstößt auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemein gültige Erfahrungssätze. Nach den Feststellungen hofften die Angeklagten im Wissen um den tödlichen Ausgang ihres Vorgehens, diesen irgendwie vertuschen zu können, da ihnen auch bis dahin niemand auf die Spur gekommen war. Die Gedanken, wie sie etwa die Leiche beseitigen oder deren Zustand den Behörden erklären sollten, verdrängten sie. Sie handelten "von jetzt auf nachher". Diese "relative Planlosigkeit" für den Fall des letalen Ausganges ändert nichts daran, daß das Tun und Lassen der Angeklagten von der Fortführung ihrer rohen Erziehungspraktiken und von den Bemühungen zur Verdeckung der
Mißhandlung ihrer Pflegekinder bestimmt war. Überdies liegt auf der Hand, daß im Falle des Todeseintritts mögliche etwaige weitere Verdeckungsbemühungen innerhalb ihrer Großfamilie situationsabhängig und schon deshalb nicht verläßlich planbar gewesen wären. Wenn die Angeklagten sie deshalb nicht von vornherein festlegten, die Frage stattdessen verdrängten und ersichtlich darauf vertrauten, gegebenenfalls lageangepaßt reagieren zu können, so steht das der Annahme von Verdeckungsabsicht nicht zwingend entgegen. Es läßt ihre Verdeckungsbemühungen auch nicht als von vornherein untauglich oder völlig ungeeignet erscheinen. 3. Entgegen der Ansicht der Revision der Angeklagten U. R. ist auch die nach § 211 Abs. 2 StGB erforderliche Verknüpfung zwischen der - möglicherweise nur bedingt vorsätzlichen - Tötung des Pflegekindes Ale. und der Verdeckungsabsicht gegeben. Der Senat war bereits früher mit der Auslegung dieses im Tatbestand angelegten Verknüpfungserfordernisses befaßt (BGHSt 41, 358 ff.). Danach muß das Mittel der Verdeckung, also der vom Täter in Gang gesetzte Ursachenverlauf , der dazu dienen soll, die vorangegangene Straftat nicht offenbar werden zu lassen, zugleich (vorsätzlich) zum Tod eines Menschen führen (BGHSt aaO S. 360). Nach diesem aus dem Gesetzestext abgeleiteten Verständnis kommt es also darauf an, welches Motiv den Täter bei seinem als Tötung eines Menschen eingestuften Handeln bestimmt hat. Hier ist hinsichtlich der gegebenen Anknüpfungspunkte zu differenzieren : Das fortgesetzte Hungernlassen der Pflegekinder als solches diente nicht der Verdeckung der Mißhandlungen. In ihm schlug sich allein die Fortführung der rohen, quälerischen Erziehungspraxis der Angeklagten nieder. Anders verhält es sich hingegen mit dem strikten Abschotten der Pflegekinder, vor allem
mit dem Unterlassen des (rechtzeitigen) Herbeirufens ärztlicher Hilfe. Nach den Feststellungen des Landgerichts unterließen sie es, Ale. mit ärztlicher Hilfe zu retten, weil es ihnen darauf ankam, die jahrelange Mißhandlung weiter zu verbergen, die dadurch nicht nur bei Ale. , sondern auch bei den anderen Pflegekindern aufgedeckt worden wäre. An anderer Stelle des Urteils heißt es, aus Angst vor Entdeckung hätten sie keine ärztliche Hilfe geholt. Um sich der Strafverfolgung zu entziehen, hätten sie dem Pflegekind Ale. die erforderliche medizinische Versorgung verwehrt. Darüber hinaus haben sie die Pflegekinder im Haus verborgen gehalten, damit niemand auf deren Zustand aufmerksam wurde. Dieses - wenigstens bedingt vorsätzlich - zum Tode führende bewußte Unterlassen ärztlicher Hilfe bezweckte mithin zugleich die Verdeckung der vorangegangenen Mißhandlungen ihrer Schutzbefohlenen. In dem verdeckungsgerichteten Unterlassen hat das Landgericht eine Ursache für den Todeseintritt gesehen. Das genügt für die vom Tatbestand vorausgesetzte Verknüpfung zwischen Tötung und Verdeckungsabsicht. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, daß die Angeklagten den körperlichen Zustand des Opfers, der ärztliches Eingreifen gebot, selbst erst durch - für sich gesehen nicht verdeckungsgerichtetes - Hungernlassen und Quälen der Pflegekinder herbeigeführt haben. Dies begründete unter dem Gesichtspunkt der Ingerenz lediglich einmal mehr ihre Garantenstellung. Im übrigen können mit der Verdeckungsabsicht bei Verdeckungsmaßnahmen auch andere Zwecke - hier die rohe Erziehungspraxis - zusammentreffen (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1976, 15; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT Teilband 1 § 2 III Rdn. 36). Daß die Verdeckung und Tötung desAle. insoweit durch ein Unterlassen der Angeklagten erfolgte, ändert im Ergebnis ebenfalls nichts. Zu
Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, daß das Unterlassen der Verwirklichung des Tatbestandes durch positives Tun hier entspricht (§ 13 Abs. 1 StGB; vgl. zum Verdeckungsmord durch Unterlassen Jähnke in LK 10. Aufl. § 211 Rdn. 22 m.w.Nachw.; Eser in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 211 Rdn. 35; siehe auch Horn in SK StGB § 211 Rdn. 68, 69 unter Aufgabe seiner früheren Auffassung). 4. Im Ergebnis ohne Rechtsfehler hat das Landgericht auch einen strafbefreienden Rücktritt vom Mordversuch verneint. Die Angeklagten hatten ihr pflichtwidriges Unterlassen, an das hier anzuknüpfen ist, noch vor der Vollendung der Tat aufgegeben. Der Angeklagte K. R. alarmierte um 0.44 Uhr in der Todesnacht - nach Eintritt des Atemstillstandes bei Ale. - den Notarzt. Dieser traf um 0.50 Uhr ein und mußte schließlich um 1.33 Uhr den Eintritt des Todes feststellen. Nach einer in der Literatur verbreiteten Ansicht wäre bei dieser Sachlage auf den sog. Rücktrittshorizont des Angeklagten abzustellen gewesen, weil beim unbeendeten Versuch eines unechten Unterlassungsdelikts das Risiko der Erfolgsabwendung durch letztlich doch noch pflichtgemäßes Handeln des Täters nicht von diesem zu tragen sein soll (vgl. Eser in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 24 Rdn. 27 ff., insbesondere Rdn. 30; Vogler in LK 10. Aufl. § 24 Rdn. 142; siehe auch die Übersicht bei Wessels/Beulke, Strafrecht AT 28. Aufl. Rdn. 743 bis 745 m.w.Nachw.). Hierzu verhält sich das Urteil nicht. Das erweist sich aber als unschädlich, weil die Rücktrittsvoraussetzungen beim Versuch des Unterlassungsdelikts entgegen der zitierten Ansicht dieselben sind wie beim beendeten Versuch des Begehungsdeliktes (so schon mit näherer Begründung BGH StV 1998, 369). Damit wird in den Fällen des Erfolgseintritts trotz Rücktrittsbemühungen dem Grundsatz Rechnung getragen, strafbefreienden Rücktritt vom Versuch nur dann anzunehmen , wenn es beim Versuch geblieben ist (vgl. Vogler in LK aaO § 24
Rdn. 149). In Fällen wie diesem trägt daher grundsätzlich der Täter das Risiko, daß trotz eines Rücktritts der tatbestandliche Erfolg eintritt (so auch Rudolphi in SK vor § 13 Rdn. 56). Denn der Grund der Strafbefreiung wurzelt letztlich in der freiwilligen Ä nderung der Verhaltensrichtung, weil und solange der Täter alle unerlaubten Risiken noch sicher in der Hand hat (siehe dazu Lackner/Kühl, StGB 23. Aufl. § 24 Rdn. 2; Jakobs ZStW Bd. 104, 82, 104; für eine angemessene Verteilung des Risikos für den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges bei nachträglicher Pflichterfüllung auch Eser in Schönke/Schröder aaO § 24 Rdn. 27). Nach allem kann offen bleiben, ob die Alarmierung des Notarztes angesichts erwachter anderer Kinder als freiwillig zu werten gewesen wäre und ob dieses Verhalten vollen Umfangs der Garantenstellung gerecht wurde. Letzteres müßte fraglich erscheinen, weil die Angeklagten den Notarzt und den nachalarmierten Oberarzt der Kinderklinik nicht über die wirklichen Ursachen des Zustandes des Pflegekindes Ale. unterrichteten. Maul Granderath Wahl Boetticher Schluckebier

Für mehrere Straftaten, die gleichzeitig abgeurteilt werden und auf die teils Jugendstrafrecht und teils allgemeines Strafrecht anzuwenden wäre, gilt einheitlich das Jugendstrafrecht, wenn das Schwergewicht bei den Straftaten liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wären. Ist dies nicht der Fall, so ist einheitlich das allgemeine Strafrecht anzuwenden.