Bundesgerichtshof Urteil, 26. Jan. 2011 - 5 StR 395/10

bei uns veröffentlicht am26.01.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

5 StR 395/10

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 26. Januar 2011
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26. Januar
2011, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Bellay
alsbeisitzendeRichter,
Staatsanwältin beim Bundesgerichtshof
alsVertreterinderBundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
alsVerteidiger,
Justizangestellte
alsUrkundsbeamtinderGeschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 16. April 2010 wird verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
1
Das Landgericht hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, bleibt ohne Erfolg.
2
1. Der Verurteilte wurde am 8. Juni 2004 wegen schwerer Vergewaltigung (Einsatzstrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe), Vergewaltigung (Einzelstrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe) und Körperverletzung in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Dieser Anlassverurteilung lagen Taten zugrunde, die der Verurteilte zwischen August 2002 und Juli 2003 überwiegend zu Lasten seiner am 11. Juni 1985 geborenen Stieftochter F. beging.
3
Die Strafhaft endete am 12. Januar 2010. Anschließend war der Verurteilte bis zum Ende der Hauptverhandlung am 16. April 2010 nach § 275a Abs. 5 StPO untergebracht.
4
Seine Haftzeit verbrachte er „weitgehend gleichförmig und eher zurückgezogen“ (UA S. 12). Zu einer aufarbeitenden Therapie kam es auch deshalb nicht, weil der Verurteilte sich nicht zu seinen Taten bekannte und die in der Justizvollzugsanstalt tätigen Therapeuten es deswegen ablehnten, mit ihm zu arbeiten. Infolge der fehlenden Aufarbeitung der Delikte wurden Vollzugslockerungen nicht gewährt, der Verurteilte verbüßte seine Strafe schließlich vollständig. Gegenüber einem Mitgefangenen machte er für seine – von ihm als unrechtmäßig bewertete – Verurteilung seine damalige Lebensgefährtin und deren Tochter verantwortlich; er gab in diesem Zusammenhang gegen Ende seiner Haftzeit Rachegedanken kund. Darüber hinaus äußerte er Vergeltungswünsche in Bezug auf Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt und auf einen Kriminalbeamten, der an seiner Verhaftung beteiligt gewesen war.
5
Im Hinblick auf diese Äußerungen hat die Staatsanwaltschaft beantragt , gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 2 StGB nachträglich die Sicherungsverwahrung anzuordnen.
6
2. Das Landgericht hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung abgelehnt, weil es sich auf der Grundlage der Gutachten der Sachverständigen K. und D. weder vom Vorliegen eines Hangs noch von der für die Anordnung der Maßregel notwendigen hohen Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer schwerer Straftaten durch den Verurteilten zu überzeugen vermochte.
7
3. Die Bewertung des Landgerichts hält – in Übereinstimmung mit der Bundesanwaltschaft – sachlich-rechtlicher Prüfung stand.
8
a) Rechtsfehlerfrei ist das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Verurteilten der auch für die Anordnung der nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB erforderliche Hang zur Begehung erheblicher Straftaten (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2006 – 5 StR 585/05, BGHSt 50, 373; vgl. dazu Fischer, StGB, 58. Aufl., § 66b, Rn. 34 f.) auf der Grundlage beider Gutachten nicht festgestellt werden kann. Das Merkmal „Hang“ verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Es wird definiert als eine auf charakterlicher Anlage beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung zu Rechtsbrüchen (vgl. BGH, aaO, S. 381 f.; Fischer, aaO, § 66 Rn. 24). Die mögliche Geneigtheit zur Begehung einer aus einem bestimmten Konflikt resultierenden Vergeltungstat kann danach nicht ausreichen, um eine intensive Neigung zu Rechtsbrüchen zu begründen; eine solche liegt nur bei einer über den einzelnen Konflikt hinausgehenden , überdauernden psychischen Grunddisposition vor. Das Landgericht setzt sich in diesem Zusammenhang mit den Ausführungen des Sachverständigen K. auseinander, nach denen bei dem Verurteilten eine Geneigtheit besteht, Konflikte im personalen Nahfeld gewaltsam zu lösen. In rechtsfehlerfreier Weise kommt es zu dem Ergebnis, dass diese für sich genommen noch nicht die intensive Neigung zur Begehung auch erheblicher Straftaten begründet. Eine intensive Neigung des Verurteilten zu Straftaten, die den der Anlassverurteilung zugrunde liegenden Vergewaltigungstaten in ihrer Schwere vergleichbar sind, vermochte das Landgericht auch auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen K. nicht festzustellen.
9
b) Auch die Prognoseentscheidung der Strafkammer, wonach der Verurteilte nicht im Sinne des § 66b Abs. 2 StGB zukünftig gefährlich sei, weist – eingedenk der eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfbarkeit (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 2007 – 4 StR 246/07, NStZ-RR 2008, 40, 41) – keinen Rechtsfehler auf. Ungeachtet weiterer notwendiger Konsequenzen , die aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- rechte vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25) und vom 13. Januar 2011 (Beschwerde-Nr. 6587/04, 17792/07, 20008/07, 27360/04 und 42225/07) zu ziehen sind (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 9. November 2010 – 5 StR 394, 440, 474/10, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt, NJW 2011), kommt die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung jedenfalls nicht in Betracht , wenn nicht ein hohes Maß an Gewissheit über die Gefahr besteht, dass der Verurteilte besonders schwere Straftaten begehen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 25. März 2009 – 5 StR 21/09, BGHR StGB § 66b Abs. 1 Satz 2 Voraussetzungen 2; Beschluss vom 21. Juli 2010 – 5 StR 60/10, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt, NJW 2010, 3315). Diesem strengen Maßstab trägt die Urteilsbegründung Rechnung. Das Landgericht hat die im Rahmen der Prognoseentscheidung gebotene Gesamtwürdigung des Verurteilten , seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs vorgenommen. Deren Darstellung in den Urteilsgründen lässt weder Lücken noch Widersprüche erkennen. Das Landgericht setzt sich insbesondere mit der Auffassung des Sachverständigen K. auseinander, wonach die Äußerungen des Verurteilten durchaus auf eine ernsthafte Beschäftigung mit Rachefantasien gegenüber seiner ehemaligen Lebensgefährtin und deren Tochter zurückgehen. Auch verkennt es nicht, dass der Verurteilte möglicherweise noch Zugriff auf eine Schusswaffe hat. In nachvollziehbarer Weise gelangt es gleichwohl zu dem Ergebnis, dass auch auf der Grundlage dieser Einschätzung eine für die Annahme der von § 66b StGB geforderten hohen Wahrscheinlichkeit erheblicher Straftaten nicht ausreichende unklare Gefährdungslage vorliege. Denn es sei ungewiss, ob der Verurteilte zum einen eventuell zuvor vorhandene Rachepläne beibehalten und zum anderen gegebenenfalls zu dem Schluss kommen werde, sie in die Tat umzusetzen. Auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen D. bestehe eine noch geringere Gewissheit über die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr; entsprechende Tathandlungen seien in noch weitergehendem Maße von ungewissen Faktoren abhängig.
10
c) Schließlich stellt es keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar, dass das Landgericht eine auf § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB gestützte Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nicht ausdrücklich erwogen hat, obwohl dessen formelle Voraussetzungen ebenfalls vorlagen. Denn auch insofern hätte es der Feststellung eines Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten und der Prognose zukünftiger Gefährlichkeit des Verurteilten bedurft, die das Landgericht gerade nicht getroffen hat.
Basdorf Raum Brause Schneider Bellay

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Strafgesetzbuch - StGB | § 66b Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung


Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidu

Strafprozeßordnung - StPO | § 275a Einleitung des Verfahrens; Hauptverhandlung; Unterbringungsbefehl


(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig

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Bundesgerichtshof Beschluss, 22. Feb. 2006 - 5 StR 585/05

bei uns veröffentlicht am 22.02.2006

Nachschlagewerk: ja BGHSt : ja Veröffentlichung : ja StGB § 66b Abs. 2 StPO §§ 275a, 462a Abs. 1 Satz 3 GVG § 74f 1. „Neu“ im Sinne der Rechtsprechung zu § 66b StGB sind nur solche Tatsachen, die nach der letzten Möglichkeit, Sicherungsverwahrun

Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Juli 2010 - 5 StR 60/10

bei uns veröffentlicht am 21.07.2010

Nachschlagewerk: ja BGHSt : ja Veröffentlichung : ja § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB § 66 Abs. 2 StGB Zur Ermessensausübung bei Anwendung der §§ 66b Abs. 1 Satz 2, 66 Abs. 2 StGB nach der Entscheidung EGMR EuGRZ 2010, 25. BGH, Beschluss vom 21. Juli

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Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

(1) Ist im Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten (§ 66a des Strafgesetzbuches), übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten rechtzeitig an die Staatsanwaltschaft des zuständigen Gerichts. Diese übergibt die Akten so rechtzeitig dem Vorsitzenden des Gerichts, dass eine Entscheidung bis zu dem in Absatz 5 genannten Zeitpunkt ergehen kann. Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Absatz 6 Satz 1 des Strafgesetzbuches für erledigt erklärt worden, übersendet die Vollstreckungsbehörde die Akten unverzüglich an die Staatsanwaltschaft des Gerichts, das für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66b des Strafgesetzbuches) zuständig ist. Beabsichtigt diese, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu beantragen, teilt sie dies der betroffenen Person mit. Die Staatsanwaltschaft soll den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung unverzüglich stellen und ihn zusammen mit den Akten dem Vorsitzenden des Gerichts übergeben.

(2) Für die Vorbereitung und die Durchführung der Hauptverhandlung gelten die §§ 213 bis 275 entsprechend, soweit nachfolgend nichts anderes geregelt ist.

(3) Nachdem die Hauptverhandlung nach Maßgabe des § 243 Abs. 1 begonnen hat, hält ein Berichterstatter in Abwesenheit der Zeugen einen Vortrag über die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens. Der Vorsitzende verliest das frühere Urteil, soweit es für die Entscheidung über die vorbehaltene oder die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung von Bedeutung ist. Sodann erfolgt die Vernehmung des Verurteilten und die Beweisaufnahme.

(4) Das Gericht holt vor der Entscheidung das Gutachten eines Sachverständigen ein. Ist über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden, müssen die Gutachten von zwei Sachverständigen eingeholt werden. Die Gutachter dürfen im Rahmen des Strafvollzugs oder des Vollzugs der Unterbringung nicht mit der Behandlung des Verurteilten befasst gewesen sein.

(5) Das Gericht soll über die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor der vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe entscheiden.

(6) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet wird, so kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen. Für den Erlass des Unterbringungsbefehls ist das für die Entscheidung nach § 67d Absatz 6 des Strafgesetzbuches zuständige Gericht so lange zuständig, bis der Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei dem für diese Entscheidung zuständigen Gericht eingeht. In den Fällen des § 66a des Strafgesetzbuches kann das Gericht bis zur Rechtskraft des Urteils einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn es im ersten Rechtszug bis zu dem in § 66a Absatz 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bestimmten Zeitpunkt die vorbehaltene Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Die §§ 114 bis 115a, 117 bis 119a und 126a Abs. 3 gelten entsprechend.

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
1. „Neu“ im Sinne der Rechtsprechung zu § 66b StGB sind nur
solche Tatsachen, die nach der letzten Möglichkeit, Sicherungsverwahrung
anzuordnen, erkennbar wurden (Vorrang
des Erkenntnisverfahrens).
2. Auch für die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB ist Voraussetzung
die Feststellung eines „Hanges“ im Sinne von
3. Die Strafvollstreckungskammer kann entsprechend § 462a
Abs. 1 Satz 3 StPO die Entscheidung über Weisungen im
Rahmen von Führungsaufsicht der nach § 74f GVG zuständigen
Strafkammer für die Dauer des Verfahrens nach § 275a
StPO übertragen.
BGH, Beschluss vom 22. Februar 2006 – 5 StR 585/05
LG Cottbus –

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 22. Februar 2006
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Februar 2006

beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 11. August 2005 wird nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e Das Landgericht hat die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nachträglich gemäß § 66b Abs. 2 StGB angeordnet. Grundlage war eine Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren durch das Bezirksgericht Cottbus vom 29. Juli 1993 u. a. wegen Vergewaltigung (Einsatzstrafe sieben Jahre Freiheitsstrafe). Die Revision des Verurteilten hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.


Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Im Alter von 14 und 15 Jahren missbrauchte der Verurteilte zwischen August 1980 und August 1981 in zehn Fällen seine zwei Jahre jüngere Schwester. Im September 1983 vergewaltigte er ein 17 Jahre altes Mädchen, das er zuvor in einer Diskothek kennen gelernt hatte. Deshalb und wegen mehrerer mittäterschaftlich begangener Einbruchsdiebstähle verurteilte ihn das Kreisgericht Cottbus-Stadt am 7. März 1984 zu einer Freiheitsstrafe von
einem Jahr und drei Monaten. Diese verbüßte er bis zur vorzeitigen Entlassung am 21. Februar 1985 unter Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung.
Im April 1985 versuchte der nunmehr 18jährige Verurteilte, eine 45 Jahre alte Schrankenwärterin zu vergewaltigen. Wegen dieser Straftat wurde er am 23. Juli 1985 durch das Kreisgericht Cottbus-Stadt zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt; diese und die widerrufene Restfreiheitsstrafe aus der Vorverurteilung verbüßte er bis zum September 1987 vollständig. Wegen zweier Diebstahlstaten wurde er am 3. Juni 1988 durch das Kreisgericht Greifswald zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung durch Amnestie am 23. Dezember 1989 beendet wurde.
Im April 1992 vergewaltigte der Verurteilte ein ihm zuvor unbekanntes zwölf Jahre altes Mädchen. Wegen dieser und einer weiteren Tat (Gefangenenmeuterei ) wurde er am 29. Juli 1993 durch das Bezirksgericht Cottbus zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt; für die Sexualstraftat wurde die Einsatzstrafe von sieben Jahren Freiheitsstrafe verhängt (Anlassverurteilung).
Während des Strafvollzuges, der ab Ende 1993 in der JVA HamburgFuhlsbüttel erfolgte, missbrauchte der nunmehr 28jährige Verurteilte am 25. Mai 1995 einen 42 Jahre alten, ihm körperlich deutlich unterlegenen Mitgefangenen. Wegen dieser Tat wurde er am 2. Oktober 1996 durch das Landgericht Hamburg zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wurde in diesem Verfahren nicht verhängt, obgleich die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB nach damaligem Recht vorlagen.
Im November 1997 bedrängte der Verurteilte einen 26 Jahre alten Mitgefangenen sexuell. Wegen dieser Handlungen erließ das Amtsgericht Hamburg einen Strafbefehl wegen Beleidigung. Im Juli 1999 ohrfeigte der
Verurteilte einen Mitgefangenen, zu dem er sexuelle Kontakte unterhielt. Deswegen wurde er für zwei Monate auf eine geschlossene Station verlegt.
Von 1995 an beantragte der Verurteilte mehrfach erfolglos seine Aufnahme in sozial-therapeutische Anstalten bzw. sozial-therapeutische Stationen. Zu einer Aufnahme kam es nicht, weil der Verurteilte entweder als dafür nicht geeignet beurteilt wurde oder zu den behandelnden Psychologen kein Vertrauen fassen konnte. Zuletzt sollte er Ende 2003 in die sozialtherapeutische Abteilung der JVA verlegt werden. Zu einer Aufnahme kam es nicht, weil der Verurteilte seine zuvor gegebene Zustimmung zu einer Hormonbehandlung zurückzog.
In den Jahren 2001 und 2004 diagnostizierten zwei Gutachter bei dem Verurteilten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F 60.2); sie stellten fest, dass der Verurteilte weiterhin gefährlich sei. Vor der Anlassverurteilung war ein anderer psychiatrischer Sachverständiger zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Verurteilten keine Anzeichen für das Vorliegen einer pathologisch relevanten Persönlichkeitsstörung vorlägen. Seit Sommer 2002 unterhält der Verurteilte eine Beziehung zu einer Frau, die er während ihrer Ausbildung zur Juristin in der JVA kennen gelernt hatte. Beide wollen heiraten und eine Familie gründen.
Der Verurteilte verbüßte die Freiheitsstrafen aus den letzten beiden Urteilen vollständig bis zum 12. Dezember 2004, zuletzt den Rest der Gesamtfreiheitsstrafe aus der Anlassverurteilung. Seit dem 13. Dezember 2004 befindet er sich nach § 275a Abs. 5 StPO in einstweiliger Unterbringung.
Auf nicht näher begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft Cottbus vom 22. Oktober 2004 hat das Landgericht gegen den Verurteilten die Hauptverhandlung durchgeführt und in dem angefochtenen Urteil gemäß § 66b Abs. 2 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. In dem Verfahren wurden zwei neue psychiatrische Gut-
achten eingeholt, die beide zum Ergebnis kommen, dass der Verurteilte an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung leide und aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur das Risiko einer Wiederholung gleich gelagerter erheblicher Straftaten sehr hoch sei.
Als „neue“ Tatsachen im Sinne der Rechtsprechung zu § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB hat das Landgericht Folgendes gewertet: die vom Landgericht Hamburg mit vier Jahren Freiheitsstrafe geahndete Sexualstraftat gegen einen Mitgefangenen; die erst während des Strafvollzuges gestellte Diagnose einer Persönlichkeitsstörung; die mit Geldstrafe durch Strafbefehl sanktionierte sexuelle Beleidigung gegenüber einem anderen Mitgefangenen; die erwähnte Tätlichkeit gegen einen weiteren Mitgefangenen; einen Brief teils sexuellen, teils die Anstaltsbediensteten beleidigenden Inhalts an einen Mitarbeiter der Gefangenenhilfe, mit dem der Verurteilte über einige Zeit homosexuelle Kontakte pflegte.

II.


Das angefochtene Urteil hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Es fehlt (im vorliegenden Übergangsfall) nicht an der Verfahrensvoraussetzung eines begründeten Antrags der Staatsanwaltschaft. Ein zulässiger Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt allerdings dessen Begründung unter Darlegung der neu erkennbar gewordenen Tatsachen voraus (BGH, Urteil vom 25. November 2005 – 2 StR 272/05, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen, StV 2006, 67, 69; vgl. auch BGH, Beschluss vom 3. November 2005 – 3 StR 345/05). Indes ist den Staatsanwaltschaften aufgrund der insoweit nicht vorhersehbaren Rechtsentwicklung, die auf Mängeln der Gesetzesfassung beruht, bis zur Veröffentlichung der vorgenannten Ent-
scheidung des 2. Strafsenats eine Übergangsfrist zur Stellung formgerechter Anträge zuzubilligen (BGH StV 2006, 67, 69).
In diesem Zusammenhang sieht der Senat Anlass für den Hinweis, dass derartige Anträge der Staatsanwaltschaft möglichst so frühzeitig zu stellen sind, dass eine Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung noch während der regulären Vollzugszeit ergehen kann. Ob an die Nichteinhaltung der Soll-Vorschrift in § 275a Abs. 1 Satz 3 StPO, wonach der Antrag spätestens sechs Monate vor dem voraussichtlichen Vollzugsende zu stellen ist, jedenfalls in Fällen, in denen eine Fristwahrung nicht durch erst kurzfristig bekannt gewordene maßgebliche neue Erkenntnisse gehindert war, negative prozessuale Konsequenzen zu knüpfen sind, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden; vorliegend handelt es sich ersichtlich um einen Übergangsfall, weil der Antrag nur wenige Monate nach Inkrafttreten der Neuregelung gestellt wurde.
2. Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung kann keinen Bestand haben, weil das Landgericht – ersichtlich den Vorgaben des OLG Brandenburg folgend (vgl. NStZ 2005, 272) – die Straftat aus dem Jahr 1995 unzutreffend als bedeutende „neue Tatsache“ angesehen hat; auch die bloße Änderung der psychiatrischen Diagnose durfte als solche nicht ohne weiteres herangezogen werden.

a) Einer nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB steht allerdings nicht bereits grundsätzlich entgegen, dass die Verhängung von Sicherungsverwahrung bei Aburteilung der Anlasstat nach Art. 1a EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrags vom 31. August 1990 (i. V. mit dem Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990, BGBl II 885, 889, 955) nicht möglich war (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – 4 StR 485/05 m.w.N.). Die damals gültigen Beschränkungen für die Verhängung von Sicherungsverwahrung bei Anlasstaten im Beitrittsgebiet durch Art. 1a Abs. 1 EGStGB a. F. gelten nicht mehr;
es besteht auch keine einschränkende Übergangsregelung für Altfälle mehr (vgl. auch BGH, Urteil vom 1. Juli 2005 – 2 StR 9/05, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen, NStZ 2005, 684, 685). Mit dieser Änderung sollten im Lichte der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 5. und 10. Februar 2004 (BVerfGE 109, 133 und 190) für verzichtbar gehaltene zeitliche Beschränkungen beseitigt werden (Gesetzesbegründung BTDrucks. 15/2887 S. 20). Ob diese Frage bei § 66b Abs. 1 StGB infolge der Verweisung auf „die übrigen Voraussetzungen des § 66“ etwa anders zu bewerten wäre, braucht der Senat nicht zu entscheiden (vgl. auch BGH, Urteil vom 11. Mai 2005 – 1 StR 37/05, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen, NStZ 2005, 561; BGH StV 2006, 67, 70; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – 4 StR 485/05).
Der Gesetzgeber hat mit § 66b Abs. 2 StGB bewusst die Möglichkeit geschaffen, nachträglich Sicherungsverwahrung auch in solchen Fällen zu verhängen, in denen dies bei Aburteilung der Anlasstat nicht möglich gewesen wäre (vgl. Gesetzesbegründung aaO S. 13). Durchgreifende verfassungs - oder konventionsrechtliche Bedenken gegen diese Vorschrift hat der Senat – nach Maßgabe der nachfolgenden Ausführungen – nicht (vgl. BGH StV 2006, 67, 70 m.w.N.; Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 66b Rdn. 5 f.):
Die Vorschrift des § 66b StGB ermöglicht die nachträgliche Anordnung der schwersten Unrechtsfolge, die zum Strafrecht im weiteren Sinne gehört (vgl. BVerfGE 109, 190, 211 ff.): der zeitlich unbefristeten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Eine derart schwerwiegende nachträgliche Anordnung von Freiheitsentziehung geht mit einer massiven Einschränkung von Vertrauensschutz einher, da sich der Verurteilte, anders als in allen Regelfällen , nicht auf ein gesichertes Ende des Freiheitsentzugs auf der Grundlage seiner rechtskräftigen Verurteilung verlassen kann. Dieser gewichtige Eingriff in Freiheitsgrundrecht und Vertrauensschutz ist auch nach Abwägung mit den Anliegen einer effektiven Gefahrenabwehr zugunsten der Bürger, die vor drohenden Verletzungen gewichtiger Rechtsgüter durch gefährliche Wieder-
holungstäter geschützt werden sollen, nur dann verfassungsrechtlich hinnehmbar , wenn die Anwendung so restriktiv gehandhabt wird, wie dies der Gesetzgeber ausdrücklich wollte, die Anordnung sich also auf seltene Einzelfälle extrem gefährlicher Täterpersönlichkeiten beschränkt (Gesetzesbegründung aaO S. 10, 12 f.; vgl. auch BVerfGE 109, 190, 236; BGH NStZ 2005, 561, 562; StV 2006, 67, 71; BGH, Beschluss vom 9. November 2005 – 4 StR 483/05, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen, StV 2006, 66). An diesem gesetzgeberischen Anliegen, das aus verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt, hat sich die Auslegung und Anwendung von § 66b StGB vorrangig zu orientieren.
aa) Als „neue Tatsachen“ im Sinne der Rechtsprechung zu § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB kommen deshalb nur solche in Betracht, die aus Sicht des Gerichts schon für sich gesehen von besonderem prognoserelevanten Gewicht sind (BGH StV 2006, 67, 71) und in symptomatischem Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (vgl. BGH StV 2006, 66, 67). Besondere Vorsicht ist bei der Bewertung von Vollzugsverhalten geboten, weil die besonderen Bedingungen langjähriger Unterbringung in geschlossenem Freiheitsentzug für Rückschlüsse auf die allgemeine Gefährlichkeit nur bedingt geeignet erscheinen (vgl. BGH StV 2006, 67, 71; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – 4 StR 485/05).
bb) Beachtlich sind nach dem Wortlaut von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB nur solche Tatsachen, die vor Ende des Vollzugs „erkennbar“ geworden sind. Umstände, die schon für den früheren Tatrichter erkennbar waren, die er aber nicht erkannt hat, scheiden als neue Tatsachen aus (BGH NStZ 2005, 561, 562 m. Anm. Ullenbruch; BGH NStZ 2005, 684, 686). In diesem Sinne „erkennbar“ sind auch solche Umstände, die ein Tatrichter nach Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO für die Frage der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel hätte aufklären müssen (BGH StV 2006, 66).
Die bloße neue (abweichende) Bewertung von bereits bei der Anlassverurteilung bekannten oder erkennbaren Tatsachen – insbesondere eine abweichende psychiatrische Diagnose auf bekannter Tatsachengrundlage – stellt keine „neue“ Tatsache dar (vgl. BGH NStZ 2005, 684, 686; BGH StV 2006, 66, 67; BGH, Urteile vom 19. Januar 2006 – 4 StR 222/05 sowie 393/05; Tröndle/Fischer aaO § 66b Rdn. 14). Rechtsfehler, die durch mangelnde Aufklärung oder infolge Nichtberücksichtigung bereits bekannter oder erkennbarer Tatsachen entstanden sind, dürfen nicht durch die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung korrigiert werden (BGH NStZ 2005, 561, 562; 684, 686; StV 2006, 66, 67).
cc) Entscheidender Zeitpunkt für die Frage der Neuheit derartiger Tatsachen ist nicht stets die letzte Tatsachenentscheidung bei der Anlassverurteilung (vgl. BGH NStZ 2005, 684, 686; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – 4 StR 485/05), sondern bei weiteren Verurteilungen die letzte Tatsachenverhandlung , in der eine Entscheidung über die primäre Anordnung von Sicherungsverwahrung hätte erfolgen können (vgl. OLG Frankfurt NStZRR 2005, 106 m. Anm. Eisenberg StV 2005, 345; a. A. OLG Brandenburg NStZ 2005, 272, 275; Veh NStZ 2005, 307, 309 ff.). „Neu“ im Sinne der Rechtsprechung zu § 66b Abs. 2 StGB können damit nur solche Tatsachen sein, die nach der letzten Möglichkeit, Sicherungsverwahrung anzuordnen, erkennbar wurden. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Der Grundsatz, dass das Verfahren nach § 66b StGB nicht der Korrektur rechtsfehlerhafter früherer Entscheidungen dient, die von der Staatsanwaltschaft nicht beanstandet wurden (BGH NStZ 2005, 561, 562; StV 2006, 67, 71), gilt nicht nur für die Anlassverurteilung, sondern auch für die Aburteilung späterer Straftaten, namentlich während des Strafvollzugs begangener. Lagen hier die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung vor und ist sie, aus welchem Grund auch immer, unterblieben , muss auch insoweit gelten, dass dieses Versäumnis nicht durch die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung behoben werden kann. Ist
nämlich in einem konkreten Strafverfahren von der Anordnung von Sicherungsverwahrung abgesehen worden, obwohl dies grundsätzlich möglich gewesen wäre, ist durch die Rechtskraft der Entscheidung über die Rechtsfolgen ein individueller Vertrauenstatbestand gesetzt worden. Ein derart im Einzelfall begründetes berechtigtes Vertrauen auf die Bestandskraft eines rechtskräftigen Urteils mit seinen freiheitsbeschränkenden Folgen, damit auch auf die Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung darf nicht dadurch enttäuscht werden, dass eine solche Entscheidung trotz hiernach unveränderter Tatsachengrundlage nachträglich korrigiert wird.
Die Möglichkeiten primärer Verhängung von Sicherungsverwahrung gemäß §§ 66, 66a StGB müssen gegenüber der Möglichkeit nachträglicher Anordnung strikt vorrangig bleiben (vgl. Tröndle/Fischer aaO Rdn. 19 m.w.N.), die gleichsam als Wiederaufnahme zum Nachteil des Verurteilten ausgestaltete nachträgliche Sicherungsverwahrung (vgl. Ullenbruch in MünchKomm-StGB § 66b Rdn. 41; Zschieschack/Rau JR 2006, 8, 12) darf stets nur subsidiär eingreifen. Eine zur primären Verhängung von Sicherungsverwahrung geeignete Tat kann deshalb grundsätzlich nicht als „neue Tatsache“ gelten. Dies muss auch dem Abschluss eines Verfahrens nach § 275a StPO i.V.m. § 66b StGB anlässlich einer Straftat im Vollzug entgegenstehen , solange nicht geklärt ist, ob die Tat durch Anklage und Hauptverhandlung zur Anordnung von Sicherungsverwahrung führt („Vorrang des Erkenntnisverfahrens“ ). Solche Verfahrensweise entspricht den Vorstellungen des Gesetzgebers; danach ist für die Relevanz neuer Tatsachen im Sinne des § 66b StGB entscheidend, ob sie für die Anordnung von Sicherungsverwahrung „erst zu diesem späten Zeitpunkt berücksichtigt werden konnten“ (Gesetzesbegründung aaO S. 12).
Der wesentliche Gesichtspunkt der Subsidiarität des besonderen Verfahrens nach § 66b StGB, § 275a StPO und der daraus herzuleitende strikte Vorrang des Erkenntnisverfahrens rechtfertigt den – auf den ersten Blick als Wertungswiderspruch imponierenden (vgl. Tröndle/Fischer aaO
§ 66b Rdn. 19) – Umstand, dass die nachträgliche Anordnung nach § 66b StGB aufgrund ihrerseits sicherungsverwahrungsbegründender neuer Straftaten ausscheidet, hingegen wegen weniger gewichtiger Straftaten in Betracht kommt. Da die schwerer wiegenden neuen Straftaten des Verurteilten bei hinreichender Gefährlichkeitsprognose im Sinne von § 66b StGB auch in einem neuen Erkenntnisverfahren fraglos zur Anordnung von Sicherungsverwahrung führen müssten (vgl. auch Streng StV 2006, 92, 97), liegt in Wahrheit materiell gar kein Wertungswiderspruch vor. Formell wird das besondere Verfahren nach § 66b StGB, § 275a StPO sachgerecht auf Ausnahmefälle beschränkt, in denen die zum Schutz der Allgemeinheit unerlässliche Anordnung der Sicherungsverwahrung im ordentlichen Verfahren nicht durchsetzbar ist.
dd) Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung muss zudem die Feststellung eines Hanges zu erheblichen Straftaten sein. Dies gilt nicht nur für § 66b Abs. 1 StGB (BGH NStZ 2005, 561, 563), sondern muss auch für § 66b Abs. 2 StGB gelten (vgl. Tröndle/Fischer aaO § 66b Rdn. 20; Zschieschack/Rau JR 2006, 8, 13; zu den anders lautenden Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren: Gesetzesbegründung aaO S. 13). Es wäre unplausibel, wenn sich die Anordnungsvoraussetzungen von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB in diesem Punkt unterschieden (Tröndle/Fischer aaO). Zudem sollte ein derart schwerwiegender unbefristeter Freiheitseingriff wie die Sicherungsverwahrung lediglich bei solchen Straftätern in Betracht kommen, die eine intensive Neigung zu ganz erheblichen rechtswidrigen Taten aufweisen.
Nur eine Auslegung, wonach stets bei der Anordnung von Sicherungsverwahrung ein „Hang zu erheblichen Straftaten“ im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderlich ist, vermeidet auch Widersprüche zur Regelung in § 67d Abs. 3 StGB, die auch in Fällen nachträglicher Anordnung von Sicherungsverwahrung gilt (vgl. Gesetzesbegründung aaO S. 14). Danach wird die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn
Jahren für erledigt erklärt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte „infolge seines Hanges“ erhebliche Straftaten begehen wird (vgl. auch § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO). Die Gesetzesformulierung legt nahe, dass bei dem Untergebrachten jedenfalls einmal ein Hang in diesem Sinne festgestellt worden ist (vgl. § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB und § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO: „seines Hanges“; § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB: „eines Hanges“). Zudem können die materiellen Voraussetzungen der Erledigung inhaltlich nicht in einem entscheidenden Punkt von den Voraussetzungen der Maßregelanordnung abweichen (vgl. Streng StV 2006, 92, 96).
Dass insbesondere bei von § 66b Abs. 2 StGB auch erfassten Ersttätern eine schmalere Beurteilungsgrundlage gegeben sein kann als bei Mehrfachtätern im Sinne von § 66b Abs. 1 StGB (vgl. hierzu etwa Ullenbruch in MünchKomm-StGB § 66b Rdn. 123), steht dem nicht entgegen (zutreffend Tröndle/Fischer aaO § 66b Rdn. 20). Zu erwägen wäre, ob in derartigen Fällen , in denen für die erforderliche Feststellung einer intensiven Neigung des Verurteilten zur Begehung besonders gewichtiger Straftaten vorrangig auf eine von ihm begangene besonders schwere Tat abzustellen sein wird, auf das von der Rechtsprechung für den Hang geforderte Kriterium eines „eingeschliffenen Verhaltensmusters“ zu verzichten ist (vgl. hierzu auch Tröndle /Fischer aaO § 66 Rdn. 18 ff.).

b) Nach diesen Kriterien kann die Begründung des Landgerichts für die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keinen Bestand haben:
aa) Eine Berücksichtigung der Sexualstraftat im Justizvollzug 1995 als „neue Tatsache“ scheidet aus. Denn in dem Verfahren vor dem Landgericht Hamburg im Jahr 1996 lagen – anders als im Verfahren vor dem Bezirksgericht Cottbus – die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB vor. Weshalb in diesem Verfahren nicht Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten angeordnet wurde, ist aus dem angefochtenen
Urteil nicht ersichtlich, aber letztlich auch unerheblich. Es geht jedenfalls nicht an, ein etwaiges Versäumnis im vorangegangenen Strafverfahren durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu beheben.
bb) Nicht als „neue Tatsache“ kann auch eine bloße Änderung der psychiatrischen Diagnose gelten. Nach den Urteilsgründen liegt nahe, dass der Diagnose der Persönlichkeitsstörung des Verurteilten nur eine Änderung der Bewertung bereits erkannter und erkennbarer Tatsachen zugrunde lag; dies reicht für die Anwendung von § 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB nicht aus (vgl. BGH StV 2006, 66, 67; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – 4 StR 485/05 – und Urteile vom 19. Januar 2006 – 4 StR 222/05 sowie 393/05). Dass die jetzt verwertete psychiatrische Beurteilung etwa doch maßgeblich auf für den früheren Tatrichter nicht erkennbaren neuen Umständen beruhte (vgl. BGH StV 2006, 66, 67), wird in dem angegriffenen Urteil nicht belegt.
3. Der Senat sieht davon ab, in der Sache selbst zu erkennen. Als „neue Tatsachen“ verbleiben neben dem sonstigen Vollzugsverhalten (hierbei insbesondere der Weigerung, sich der vorgeschlagenen Hormonbehandlung als Voraussetzung weiterer Therapiemöglichkeiten zu unterziehen, UA S. 29 f.) zwei Übergriffe auf Mitgefangene, von denen einer zu strafrechtlicher Verurteilung mittels Strafbefehl geführt hat, und ein derb-anzüglicher Brief. Nach den Gesetzesmaterialien können derartige Umstände berücksichtigungsfähig sein (vgl. Gesetzesbegründung aaO S. 12). Grundsätzlich kann auch die (hier mittelbare) Verweigerung einer Therapie zu den in § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB genannten neuen Tatsachen gehören, die erst nach der Verurteilung und vor Ende des Vollzuges erkennbar werden und auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit nach seiner Entlassung hinweisen, wenn auch ein solcher Umstand für sich allein kaum einmal ausreichen wird, nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen (vgl. BGH NStZ 2005, 561, 562; Gesetzesbegrün-
dung aaO S. 13; BVerfGE 109, 190, 241). Eine Berücksichtigung der genannten Umstände, die vor dem Hintergrund der Sexualstraftaten des Verurteilten für die bei § 66b StGB vorzunehmende Prognose – stärker als es regelmäßig für im Vollzug nicht unübliche gewaltsame Auseinandersetzungen gilt – gewisses Gewicht erlangen können, erscheint dem Senat nicht sicher ausgeschlossen; zudem ist das Landgericht bislang nicht der Frage nachgegangen , ob die Änderung der psychiatrischen Beurteilung etwa doch auf früher nicht erkennbaren neuen Umständen beruht (vgl. BGH StV 2006, 66, 67).

III.


Für die einstweilige Unterbringung des Verurteilten gilt Folgendes:
1. In Anbetracht der deutlichen Beschränkung der Beurteilungsgrundlage durch die Senatsentscheidung wird der neue Tatrichter alsbald erneut über die vorläufigen Unterbringungsverhältnisse zu entscheiden haben (vgl. § 275a Abs. 5 Satz 4 StPO i.V.m. § 126a Abs. 3 Satz 1 StPO).
Allerdings ist tunlichst zu verhindern, dass für gefährlich gehaltene Straftäter nach langjähriger Haft ohne jede Vorbereitung, d. h. womöglich ohne Unterkunft und ohne rechtzeitige Benachrichtigung des etwa vorhandenen sozialen Umfeldes, sehenden Auges in einer Art und Weise aus dem Vollzug entlassen werden, die das Rückfallrisiko ganz beträchtlich steigern kann. Dies bedingt, dass in jedem Fall, in dem ein Verfahren nach § 275a StPO bei bestehendem Unterbringungsbefehl über das Strafende hinaus andauert , im Strafvollzug vorbereitende organisatorische Maßnahmen zu treffen sind, die für den Fall einer Anordnung der Entlassung sofort greifen. Auch mit Rücksicht auf dieses gravierende Organisationsproblem werden Staatsanwaltschaft und Gericht sich besonders intensiv darum zu bemühen haben, dass Verfahren nach § 66b StGB, § 275a StPO tunlichst vor Erreichen des Strafendes zum Abschluss gebracht werden.
Darüber hinaus ist dem genannten Anliegen ferner – unter Einbindung der hierfür zuständigen Strafvollstreckungskammer – durch verstärkte Ausschöpfung der im Rahmen von Führungsaufsicht (§§ 68 ff. StGB) möglichen Leitung des Verurteilten zu begegnen (vgl. auch BVerfGE 109, 190, 248 [abweichende Meinung]). Der Senat verkennt dabei nicht die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der derzeitigen Führungsaufsichtsregelung. Schon aus Verhältnismäßigkeitsgründen erscheint ein Ausbau der Führungsaufsicht (vgl. dazu Peglau JR 2006, 14, 17) zu einer effektiven Rückfallvorsorge durch engmaschige Anleitung des Verurteilten als milderes Mittel gegenüber einer etwa vermehrten nachträglichen Verhängung zeitlich unbefristeter Sicherungsverwahrung angezeigt. Ob der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit weitere Auswirkungen auf das Verfahren der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung hat, etwa statt dessen die Anordnung einer weniger schwerwiegenden Maßregel bei gleicher Erfolgsaussicht ermöglicht (vgl. § 67a Abs. 2 StGB; hierzu auch Gesetzesbegründung aaO S. 14), braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.
2. Aus Sicht des Senats sollte das nach § 74f GVG zuständige Gericht im Rahmen seines Verfahrens – insbesondere bei Aufhebung eines Unterbringungsbefehls nach § 275a Abs. 5 StPO, so namentlich im Zusammenhang mit der Ablehnung des staatsanwaltlichen Antrags durch Urteil – auch Entscheidungen über Weisungen im Rahmen der nach Entlassung aus dem Strafvollzug in aller Regel kraft Gesetzes (§ 68f StGB) eintretenden Führungsaufsicht treffen können.

a) Das nach § 74f GVG zuständige Gericht ist in diesem speziellen Fall sachnäher als die Strafvollstreckungskammer. In dem Verfahren über die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung nach § 275a StPO i.V.m. § 66b StGB wird die Frage einer fortwirkenden Gefährlichkeit des Verurteilten im Falle der Haftentlassung mit sachverständiger Hilfe (§ 275a Abs. 4 StPO) besonders eingehend untersucht. Dieses in öffentlicher Hauptverhandlung
unter Mitwirkung eines Verteidigers durchgeführte prognostische Verfahren ist demjenigen der Strafvollstreckungskammer nach § 453 i.V.m. § 463 Abs. 2 StPO in vielerlei Hinsicht überlegen. Insbesondere können in diesem Verfahren – etwa unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten – auch Möglichkeiten einer zunächst engmaschigen Führung des Verurteilten nach Haftentlassung erörtert werden.

b) Zuständig für sämtliche Entscheidungen im Rahmen der gemäß § 68f StGB kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht ist – und bleibt bis zu deren Beendigung – die Strafvollstreckungskammer (vgl. § 463 Abs. 6 i.V.m. § 462a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StPO). Allerdings hat diese die Möglichkeit einer Abgabe einzelner Entscheidungen an das Gericht des ersten Rechtszugs (§ 462a Abs. 1 Satz 3 StPO). Nach bisherigem Rechtsverständnis ist die Abgabemöglichkeit allerdings auf die in § 458 Abs. 1 StPO bezeichneten Fragen beschränkt, die in unmittelbar sachlichem Zusammenhang mit dem erstinstanzlichen Urteil stehen (vgl. BGHSt 26, 352).

c) Der Senat entnimmt den Regelungen in § 462a Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 StPO das Anliegen des Gesetzgebers, in Fällen nachträglicher Entscheidungen eine Übertragungsmöglichkeit auf das sachnächste Gericht zu schaffen. Das Verfahren der nachträglichen Verhängung von Sicherungsverwahrung ist sachlich eng mit der Anlassverurteilung verknüpft, andererseits , wie ausgeführt, zugleich mit der nach Vollverbüßung eintretenden Führungsaufsicht. Im Gesetzgebungsverfahren hat der Gesetzgeber – soweit ersichtlich – die nahe liegende Möglichkeit einer hiermit zusammenhängenden Kompetenzübertragung nicht gesehen. Diese planwidrige Regelungslücke ist durch entsprechende Anwendung von § 462a Abs. 1 Satz 3 StPO auf die im Rahmen der Führungsaufsicht nach den §§ 68a bis 68d StGB zu treffenden Entscheidungen auszufüllen. „Gericht des ersten Rechtszugs“ ist entsprechend § 462a Abs. 6 Alt. 2 StPO das nach § 74f GVG zuständige Gericht , weil das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in der Sache am ehesten mit einem Wiederauf-
nahmeverfahren (zuungunsten des Verurteilten) zu vergleichen ist (Ullenbruch in MünchKomm-StGB § 66b Rdn. 41).

d) Durch entsprechende Weisungen an den Verurteilten (§ 68b StGB), gegebenenfalls auch durch Anweisungen an den zuständigen Bewährungshelfer oder die Führungsaufsichtsstelle (§ 68a Abs. 5 StGB) sollte das mit einer sofortigen Entlassung nach langjähriger Haft verbundene erhöhte Rückfallrisiko soweit wie möglich minimiert werden. Wurden von der Strafvollstreckungskammer bereits Entscheidungen nach §§ 68a ff. StGB getroffen , kann das für die Aufhebung des Unterbringungsbefehls zuständige Gericht nach Übertragung der Entscheidungsbefugnis gemäß § 68d StGB prüfen , ob insoweit Änderungen angezeigt sind.

e) Sinnvollerweise wird die Staatsanwaltschaft zugleich mit der Antragstellung gemäß § 275a Abs. 1 StPO bei der Strafvollstreckungskam-mer entsprechend § 462a Abs. 1 Satz 3 StPO eine Übertragung der im Rahmen der Führungsaufsicht möglichen Entscheidungen nach §§ 68a, 68b, 68d StGB für die Dauer des Verfahrens nach § 275a StPO an das nach § 74f GVG zuständige Gericht anregen. Weil das übertragende Gericht die Abgabe nach § 462a Abs. 1 Satz 3 StPO stets rückgängig machen kann, wenn es
dies für zweckmäßig hält (vgl. Fischer in KK, 5. Aufl. § 462a Rdn. 29), erscheint auch eine entsprechende anfängliche Begrenzung möglich.
Harms Häger Basdorf Gerhardt Raum

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
Zur Ermessensausübung bei Anwendung der §§ 66b Abs. 1
Satz 2, 66 Abs. 2 StGB nach der Entscheidung EGMR
EuGRZ 2010, 25.
BGH, Beschluss vom 21. Juli 2010 – 5 StR 60/10
LG Frankfurt (Oder) –
alt: 5 StR 21/09

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 21. Juli 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Juli 2010 beschlossen:
1. Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 12. November 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben. Der Antrag auf nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wird zurückgewiesen.
2. Der Unterbringungsbefehl des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. August 2008 wird aufgehoben. Der Verurteilte ist in dieser Sache unverzüglich auf freien Fuß zu setzen.
3. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Rechtsmittelkosten und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
4. Die Entscheidung über die Entschädigung des Verurteilten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
G r ü n d e
1
Landgericht Das Frankfurt (Oder) hat mit Urteil vom 12. November 2009 gegen den Beschwerdeführer (erneut) die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.


2
wiederholt, Der unter anderem wegen Sexualdelikten unterschiedlicher Art und Schwere auch gegen Kinder (vgl. Senatsbeschluss vom 25. März 2009 – 5 StR 21/09 – Tz. 6 bis 11, insoweit in BGHR StGB § 66b Abs. 1 Satz 2 Voraussetzungen 2 nicht abgedruckt) vorbestrafte Verurteilte war durch Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 7. April 1997 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in acht Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 17 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt worden. Die Einzelstrafen für die Vergewaltigungsfälle betrugen jeweils vier Jahre und sechs Monate. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer in den Jahren 1992 und 1993 in Brandenburg wiederholt sexuelle Handlungen an seiner acht bzw. neun Jahre alten Stieftochter vorgenommen hatte. In 20 Fällen vollzog er – zumeist unter Mitwirkung seiner Ehefrau, die das Kind festhielt – den vaginalen Geschlechtsverkehr an dem Mädchen. Den in den ersten acht Fällen von der Geschädigten noch geleisteten Widerstand überwand er mit Gewalt.
3
Urteil Das wurde am 6. Januar 1998 hinsichtlich des Schuld- und Strafausspruchs rechtskräftig, hinsichtlich der Frage der Anordnung einer Maßregel – zunächst war der Verurteilte im psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden, nach insoweit erfolgter Aufhebung durch den Bundesgerichtshof wurde eine Maßregel nicht erneut angeordnet – trat Rechtskraft am 8. Juli 1998 ein.
4
Die Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verbüßte der Verurteilte vollständig. Seit dem 15. August 2008 befindet er sich aufgrund Beschlusses des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. August 2008 im Vollzug der einstweiligen Unterbringung gemäß § 275a Abs. 5 StPO.
5
Mit Urteil vom 2. Oktober 2008 hatte das Landgericht Frankfurt (Oder) auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 18. April 2008 gegen den Verurteilten gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dieses Urteil hat der Senat durch Beschluss vom 25. März 2009 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Grund für die Aufhebung war, dass – bei rechtsfehlerfreier Bejahung der formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB – die Darlegungen des Landgerichts den gebotenen Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose nicht gerecht wurden.
6
Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht nunmehr erneut die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

II.


7
Die Revision des Verurteilten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung.
8
1. Das Landgericht hat die sachlichen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB – im Ansatz rechtsfehlerfrei – bejaht. Nach dieser am 18. April 2007 in Kraft getretenen Bestimmung kann die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auch dann nachträglich angeordnet werden, wenn die vom Verurteilten ausgehende Gefahr bereits im Zeitpunkt der Verurteilung erkennbar war, die Sicherungsverwahrung aber aus rechtlichen Gründen nicht verhängt werden konnte. Gegen den Verurteilten konnte aus rechtlichen Gründen bei der Verurteilung am 7. April 1997 nicht auf Sicherungsverwahrung erkannt werden. Die Vorschrift des § 66 StGB war damals auf – wie hier – im Beitrittsgebiet begangene Taten nicht anwendbar (Art. 1a Abs. 1 EGStGB a.F., eingefügt durch Anlage 1 Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1a des Einigungsvertrages, BGBl II 1990 S. 954).
9
2. § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB ist grundsätzlich auf Taten anwendbar, die vor seinem Inkrafttreten – mithin vor dem 18. April 2007 – begangen worden sind, und ausschließlich auf Straftaten, bei deren Aburteilung die Verhängung von Sicherungsverwahrung aus Rechtsgründen ausgeschlossen war. Die Sicherungsverwahrung rechnet zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 Nr. 3 StGB), für die nach § 2 Abs. 6 StGB das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht maßgebend ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 MRK. Letzterer kann im Geltungsbereich von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht als abweichende gesetzliche Bestimmung gemäß § 2 Abs. 6 StGB angesehen werden.
10
a) Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde als völkerrechtlicher Vertrag durch den Bundesgesetzgeber in das deutsche Recht transformiert. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung kommt den Regelungen der Konvention der Rang einfachen Bundesrechts zu. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist bei der Interpretation des nationalen Rechts im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 317). Dabei sind die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen, weil sie den aktuellen Entwicklungsstand der Konvention widerspiegeln (BVerfG aaO S. 319).
11
b) Nach dem Urteil der Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Fünfte Sektion) in der Rechtsache M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04) vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25) ist die Sicherungsverwahrung – ungeachtet ihrer Einordnung im deutschen Recht als Maßregel der Besserung und Sicherung – im Sinne der MRK als Strafe zu qualifizieren, für die das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 MRK gilt (Rdn. 124 bis 133). Der Europäische Gerichts- hof für Menschenrechte hat dies unter anderem damit begründet, dass die Sicherungsverwahrung wie eine Freiheitsstrafe mit Freiheitsentziehung verbunden sei und es in der Bundesrepublik Deutschland keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem der Sicherungsverwahrung gebe (Rdn. 127 bis 130). Er hat daher im entschiedenen Fall die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Schadensersatz an den Beschwerdeführer verurteilt, da die Anwendung des § 67d StGB in der Fassung vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160), in welchem die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung für Erstverwahrte von zehn Jahren in § 67d Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. teilweise aufgehoben worden war, auf Altfälle gegen Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK verstoße (Rdn. 135 ff.). Diese Entscheidung ist endgültig, nachdem der Antrag der Bundesregierung auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer am 10. Mai 2010 abgelehnt worden ist (Art. 43 Abs. 2, Art. 44 Abs. 2 lit. c MRK).
12
c) Unmittelbar betroffen von der genannten Entscheidung ist nur die rückwirkende Geltung von § 67d StGB. Allerdings stellt die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB in ihren rechtlichen Voraussetzungen allein auf Straftaten ab, die bereits vor dem Inkrafttreten der Norm begangen wurden. Die durch den Gerichtshof gegen die Anordnung der Rückwirkung angeführten Argumente sind auf die § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zugrundeliegenden Fallkonstellationen übertragbar (vgl. auch Kinzig NStZ 2010, 233, 239; Müller StV 2010, 207, 211 f.; Eisenberg NJW 2010, 1507, 1509; Laue JR 2010, 198, 202 f.; Peglau jurisPR-StrafR 1/2010 Anm. 2). Es muss davon ausgegangen werden, dass der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 MRK auch insoweit annehmen würde.
13
d) Beanstandet eine Entscheidung des Gerichtshofs über den entschiedenen Einzelfall hinaus strukturelle Mängel des nationalen Rechts, so gebietet die Verpflichtung der innerstaatlichen Beachtung der MRK – ungeachtet deren nach Art. 46 MRK auf den Einzelfall beschränkten Bindungswir- kung – eine konventionskonforme Ausgestaltung des nationalen Rechts (Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. MRK Verfahren Rdn. 77b). Auch ohne eine dem § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind, gehört zur Bindung an Gesetz und Recht, dass Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Ausformung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG aaO S. 323). Die Rangzuweisung der Europäischen Menschenrechtskonvention als einfaches Bundesrecht führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben (BVerfG aaO). Solange Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft sie die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Anderes gilt allerdings dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verletzen würde (BVerfG aaO S. 329); die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte dort, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers hinreichend deutlich erkennbar wird (Giegerich in Grote/Marauhn [Hrsg.], EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz 2006 Kap. 2 Rdn. 20).
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e) Nach diesen Grundsätzen kann in den Fällen des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 7 Abs. 1 MRK nicht als abweichende gesetzliche Bestimmung nach § 2 Abs. 6 StGB angesehen werden. Eine Interpretation in diesem Sinne würde zur unmittelbaren Kollision der betroffenen Vorschriften führen und im Ergebnis auf eine vollständige Verwerfung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB hinauslaufen. Anders als bei den übrigen Regelungen des § 66b StGB würde § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB jeglicher Anwendungsbereich genommen, wenn auf die Geltung der Norm im Zeitpunkt der Begehung der Anlasstat abgestellt werden müsste.
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Einer Anwendung des Art. 7 Abs. 1 MRK als abweichende Regelung nach § 2 Abs. 6 StGB stehen der Gesetzeswortlaut des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB sowie der eindeutige Wille des Gesetzgebers entgegen. Die Vorschrift wurde als „Altfallregelung“ geschaffen. Ausdrücklich sollte gewährleistet werden , „dass bei der Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung als neu auch solche Tatsachen berücksichtigt werden können, die das Tatgericht aus rechtlichen Gründen bei seiner Entscheidung nicht verwerten durfte“ (BTDrucks. 16/4740 S. 23). In die Prüfung sollen Tatsachen einbezogen werden, „die im Zeitpunkt der Verurteilung bereits erkennbar oder sogar bekannt waren“ (BTDrucks. aaO). Beispielhaft verweisen die Gesetzesmaterialen auf die vorliegende Fallgestaltung, in der aufgrund der damals gültigen Fassung des Art. 1a EGStGB bei Aburteilung im Beitrittsgebiet begangener Anlasstaten Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden konnte (BTDrucks. aaO S. 22). Raum für eine Anwendung des Art. 7 Abs. 1 MRK ist in diesem Rahmen nicht eröffnet, weil § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB ausdrücklich und ausschließlich für Altfälle gilt.
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f) Entscheidungen anderer Senate des Bundesgerichtshofs stehen der Rechtsauffassung des Senats nicht entgegen. Die Frage, ob § 2 Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 MRK einer Anwendung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB widerstreitet, ist – soweit ersichtlich – vom Bundesgerichtshof noch nicht entschieden worden. Der 4. Strafsenat hat in seinem Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09 – zur Frage der Anwendung von § 66b Abs. 3 StGB auf Altfälle Stellung genommen. Soweit er die Auffassung vertreten hat, dass § 2 Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 MRK der Anwendung des § 66b Abs. 3 StGB in Altfällen zuwiderlaufe, handelt es sich nicht um einen Fall von Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 GVG. Im Gegensatz zur Regelung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB verbleibt für § 66b Abs. 3 StGB bei der vom 4. Strafsenat vertretenen Auffassung ein Anwendungsbereich in den Fällen, in denen die Anlassverurteilung nach Inkrafttreten der Norm erfolgte ; die Norm erschöpft sich nicht in einer Geltung für Altfälle. Der Senat muss deshalb nicht entscheiden, ob er sich in Bezug auf § 66b Abs. 3 StGB der Rechtsauffassung des 4. Strafsenats anschließen würde.
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3. Angesichts der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hält indes die Ermessensausübung des Landgerichts revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht Stand. In allen Fällen des § 66b StGB trifft das Tatgericht eine Ermessensentscheidung, im Rahmen derer der Vertrauensschutz des Verurteilten sowie sein Freiheitsrecht gegen das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit abzuwägen sind. Bei der Anwendung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB haben die Strafgerichte darüber hinaus im Blick zu behalten , dass der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit es gebieten kann, über die gesetzlichen Beschränkungen des Anwendungsbereichs der Norm hinaus auf die mit erheblichen Eingriffen in die Freiheitsrechte des Betroffenen verbundene nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zu verzichten, wenn eine Gesamtabwägung im Einzelfall ein Überwiegen der Freiheitsrechte gegenüber den Allgemeininteressen ergibt (BVerfG – Kammer – NJW 2009, 980, 982).
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a) Nach den dargestellten Grundsätzen sind in die Ermessensausübung auch die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Ausformung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzubeziehen. In die Abwägung muss die vom Gerichtshof geforderte konventionsgemäße Gewichtung einfließen (Gollwitzer aaO Rdn. 77a), um eine konforme Anwendung der in Frage stehenden Norm zu gewährleisten. Die Ausführungen des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit mit Art. 7 Abs. 1 MRK streiten in diesem Rahmen unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gewichtig zugunsten des Verurteilten.
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b) Gleiches gilt für die Erwägungen des Gerichtshofs zu der ebenfalls angenommenen Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 MRK, mithin des Freiheitsrechts des Verurteilten. Diesbezüglich hält der Gerichtshof in der genannten Entscheidung die Freiheitsentziehung über die ursprünglich für die Sicherungsverwahrung geltende Zehnjahresfrist hinaus für nicht nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a MRK gerechtfertigt. Ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers und seinem fortdauernden Freiheitsentzug liege nicht vor. Eine Rechtfertigung der Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c MRK komme ebenfalls nicht in Betracht , da die Gefahr weiterer schwerer Straftaten nicht konkret und spezifisch genug sei.
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Diese vom Gerichtshof für § 67d StGB aufgezeigten Bedenken sind ebenfalls auf die Regelung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zu übertragen. Danach beruht die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht auf einer „Verurteilung" im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a MRK. Denn diese setzt die Schuldfeststellung wegen einer Straftat und die Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme voraus (EuGRZ aaO Rdn. 87, 95). Die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung enthält indes keine Schuldfeststellung. Auf die Anlassverurteilung kann hier nicht abgestellt werden, weil – unter Zugrundelegung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertretenen Grundsätze (aaO Rdn. 100) – ein hinreichender kausaler Zusammenhang zwischen ihr und der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht besteht. Die Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahr 1997 bedeutete, dass er nach spätestens zwölf Jahren aus der Haft zu entlassen sein würde, und zwar unabhängig von einer bei der Entlassung bestehenden Gefährlichkeit. Ohne die nachträgliche Einführung des § 66b StGB hätte er nicht in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden können; seine Unterbringung wurde nur durch die nachfolgende Gesetzesänderung im Jahre 2007 möglich und geschah aufgrund eines neuen gerichtlichen Erkenntnisses.
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4. Vor diesem Hintergrund ist bei konventionskonformer Ermessensausübung von einem grundsätzlichen Überwiegen des Freiheitsrechtes und des Vertrauensschutzes des Beschwerdeführers auszugehen.
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a) Ungeachtet der Frage, ob § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB insgesamt mit dem im Lichte der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegenden (vgl. dazu BVerfGE 74, 102, 128 m.w.N.; BVerfG – Kammer – EuGRZ 2004, 317, 318) Vertrauensgrundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG) vereinbar ist (vgl. dazu auch BGH NJW 2010, 1539, 1542 f.), kann die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage dieser Vorschrift allenfalls bei höchstgefährlichen Verurteilten in Betracht kommen, bei denen sich die Gefahrenprognose aus konkreten Umständen in der Person oder ihrem Verhalten ableiten lässt. Nur dann erscheint denkbar, dass nach der aus der Entscheidung des Gerichtshofs (EuGRZ 2010, 25) folgenden Rechtsauffassung der Eingriff in das Freiheitsrecht des Verurteilten unter Berücksichtigung seines auf höchster Stufe schutzwürdigen Vertrauens in die Unabänderbarkeit der in der Anlassverurteilung verhängten Rechtsfolge einerseits und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits im Rahmen einer zu seinen Lasten getroffenen Abwägungsentscheidung gerechtfertigt ist.
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b) Ein derart schwerwiegendes, sich in konkreten Anhaltspunkten manifestierendes Gefährdungspotential belegen die Feststellungen des Landgerichts nicht.
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Sachverständig beraten ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt , dass der 67 Jahre alte und aufgrund eines Schlaganfalls im Jahr 2001 in seiner Beweglichkeit eingeschränkte Verurteilte wegen eines Hanges zur Begehung erheblicher Sexualstraftaten gefährlich ist. Beim Verurteilten handele es sich um eine dissoziale Persönlichkeit, deren Lebensweg auch mangels eines inneren Wertesystems von starker Egozentrik in der Wahrnehmung seiner persönlichen, insbesondere sexuellen Bedürfnisse geprägt sei. Die massive Verleugnung sowie die damit einhergehende mangelnde therapeutische Aufarbeitung der von ihm begangenen Straftaten verhinderten eine selbstkritische Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit sowie den Aufbau eines von Empathie getragenen Wertesystems. Da sich die Persönlich- keitsstruktur auch in der nunmehr seit über 13 Jahren andauernden Haftzeit trotz überwiegend guter Führung nicht geändert habe, bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Verurteilte im Falle seiner Entlassung aus der Haft auch künftig Sexualstraftaten – gegebenenfalls erneut unter der enthemmenden Wirkung von Alkohol – aus dem gesamten Spektrum der seit dem 20. Lebensjahr von ihm begangenen Taten begehen werde.
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Damit hat das Landgericht die fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten im Ergebnis aus der dissozialen Prägung seiner Persönlichkeit und seines Lebensweges abgeleitet, die sich in den von ihm begangenen Straftaten niedergeschlagen hat, verbunden mit dem Umstand, dass er nie zu einer therapeutischen Aufarbeitung seiner Straftaten bereit war. Hinreichend konkrete Hinweise auf die Begehung künftiger Straftaten von höchster Schwere hat das Landgericht demgegenüber nicht festgestellt. Diese sind indes auf der Grundlage der – nach dem angefochtenen Urteil ergangenen – Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte jedenfalls erforderlich , um die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB rechtfertigen zu können.
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c) Nachdem das Landgericht bereits nach der Zurückverweisung der Sache durch den Senat mit Beschluss vom 25. März 2009 ergänzende Feststellungen zum Beleg der Gefahrenprognose getroffen hat, schließt der Senat aus, dass noch weitergehende Feststellungen getroffen werden können, die eine auf hinreichend konkreten Anhaltspunkten basierende Gefahrenprognose in der Person des Verurteilten begründen. Er hat wegen der aus Rechtsgründen eingetretenen Ermessensreduzierung von einer Zurückverweisung der Sache abgesehen.
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5. Die Maßregelanordnung war demzufolge aufzuheben und der Antrag der Staatsanwaltschaft in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO zurückzuweisen. Der Verurteilte ist unverzüglich auf freien Fuß zu setzen.
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6. Die Entscheidung über die Entschädigung des Beschwerdeführers wegen der seit Ende der Strafhaft erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt wegen der größeren Sachnähe dem Landgericht vorbehalten.
Brause Sander Schneider König Bellay

Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat, so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1.
die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
2.
die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
Dies gilt auch, wenn im Anschluss an die Unterbringung nach § 63 noch eine daneben angeordnete Freiheitsstrafe ganz oder teilweise zu vollstrecken ist.