BGH: Richter aufgrund Referendariatsstation im LKW-Kartell-Prozess befangen
Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Sept. 2021 - KZB 16/21
Bundesgerichtshof
Beschluss vom 21.11.2021
1. Es stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar, die mit der Anhörungsrüge geltend gemacht werden kann, wenn das Gericht eine unrichtige Endentscheidung trifft, weil es eine tatsächlich nicht abgegebene prozessuale Erklärung der betroffenen Partei (hier: Rücknahme der Rechtsbeschwerde) unterstellt.
2. Es kann die Besorgnis der Befangenheit begründen, wenn ein Richter, der zur Entscheidung über Schadensersatzklagen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot (hier: LKW-Kartell) berufen ist, zuvor im Rahmen seiner Referendarausbildung oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einer Rechtsanwaltskanzlei tätig war, die von einer an dem Kartell beteiligten Prozesspartei mit der Führung des Rechtsstreits sowie weiterer dazu in Sachzusammenhang stehender Rechtsstreitigkeiten betraut ist, und in diesem Zusammenhang an der Erarbeitung von Schriftsätzen in parallel gelagerten Gerichtsverfahren mitgewirkt hat und bei der außergerichtlichen Beratung in die Klärung übergeordneter Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Verteidigung gegen derartige zivilrechtliche Ansprüche eingebunden war.
Tenor
Auf die Anhörungsrüge der Beklagten zu 3 wird der Beschluss des Senats vom 12. Juli 2021 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte zu 1 wird, nachdem sie die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 4. März 2021 zurückgenommen hat, dieses Rechtsmittels für verlustig erklärt. Von den im Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahren entstandenen Kosten hat die Beklagte zu 1 ihre eigenen außergerichtlichen Kosten sowie die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Kläger jeweils zur Hälfte zu tragen.
Es wird festgestellt, dass die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 3 in der Hauptsache erledigt ist.
Der Wert des Gegenstands des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 2.124.801,68 €.
Gründe
I. Die Kläger nehmen die beklagten LKW-Hersteller auf Ersatz kartellbedingten Schadens im Zusammenhang mit dem Erwerb von Lastkraftwagen in Anspruch. Sie stützen ihre Klage auf die in einem Beschluss der Europäischen Kommission vom 19. Juli 2016 getroffenen Feststellungen, wonach die Beklagten und mindestens zwei weitere LKW-Hersteller durch Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen für mittelschwere und schwere Lastkraftwagen sowie über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien für diese Fahrzeuge nach den Abgasnormen EURO 3 bis EURO 6 gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 EWR-Abkommen verstoßen haben (LKW-Kartell).
Mit dienstlicher Erklärung vom 14. Mai 2020 hat der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts und der zuständigen Kammer mit dem Rechtsstreit betraute Richter K. mitgeteilt, er sei während der Anwaltsstation seiner Referendarzeit sowie von März 2019 bis August 2019 promotionsbegleitend als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der von den Beklagten zu 2 und 4 im Streitfall mit der Prozessführung sowie darüber hinaus mit der anwaltlichen Vertretung in zahlreichen mit dem Streitfall in Sachzusammenhang stehenden Rechtsstreitigkeiten betrauten Rechtsanwaltskanzlei tätig gewesen. Während dieser Zeit habe er unter anderem unter Anleitung eines Rechtsanwalts an Schriftsätzen in parallel gelagerten Gerichtsverfahren gearbeitet, welche gegen die Beklagten zu 2 und 4 geltend gemachte Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem im Beschluss der Europäischen Kommission vom 19. Juli 2016 beschriebenen LKW-Kartell betrafen; am vorliegenden Rechtsstreit sei er nicht beteiligt gewesen. Darüber hinaus hat ein Prozessbevollmächtigter der Beklagten zu 2 und 4 anwaltlich versichert, der abgelehnte Richter habe an der Erarbeitung von Schriftsätzen im Zusammenhang mit der Verteidigung u.a. der Beklagten zu 2 und 4 gegen zivilrechtliche Ansprüche an insgesamt sechs parallel gelagerten Verfahren vor verschiedenen Landgerichten und vor einem Oberlandesgericht mitgewirkt und sei im Rahmen der Beratung dieser Unternehmen in die Klärung übergeordneter Rechtsthemen im Zusammenhang mit der Verteidigung gegen derartige zivilrechtliche Ansprüche eingebunden gewesen. Auf diese Erklärungen hin haben die Beklagten zu 1 und 3 beantragt, Richter K. wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Das Landgericht hat die Befangenheitsanträge zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde der Beklagten zu 1 und 3 ist erfolglos geblieben. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde haben die Beklagten zu 1 und 3 ihr Begehren weiterverfolgt.
Nach Hinweis des Senats, dass der abgelehnte Richter K. ausweislich des Geschäftsverteilungsplans des Landgerichts der mit dem Rechtsstreit befassten Kammer seit dem 1. April 2021 nicht mehr angehöre, hat die Beklagte zu 1 mit Schriftsatz vom 7. Juli 2021 ihre Rechtsbeschwerde zurückgenommen. Daraufhin hat der Senat mit Beschluss vom 12. Juli 2021 die Beklagten zu 1 und 3 des Rechtsmittels für verlustig erklärt und ihnen die Kosten der Rechtsbeschwerde auferlegt.
Die Beklagte zu 3 hat mit Schriftsatz vom 19. Juli 2021 die Rechtsbeschwerde für erledigt erklärt und mit weiterem Schriftsatz vom 20. Juli 2021 gegen den ihr an diesem Tag zugestellten Senatsbeschluss vom 12. Juli 2021 Anhörungsrüge erhoben und die Fortsetzung ihres Rechtsbeschwerdeverfahrens zum Zwecke der Feststellung seiner Erledigung beantragt.
II. Die Anhörungsrüge der Beklagten zu 3 hat Erfolg. Sie führt in Bezug auf diese Partei zur Fortführung des Rechtsbeschwerdeverfahrens in der Lage, in der es sich vor Erlass des Senatsbeschlusses vom 12. Juli 2021 befunden hat (vgl. Vollkommer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 321a Rn. 18).
1. Die form- und fristgerecht eingelegte sowie hinreichend begründete Anhörungsrüge ist statthaft. Der in entsprechender Anwendung von § 516 Abs. 3 ZPO ergangene Senatsbeschluss vom 12. Juli 2021 stellt eine rügefähige Entscheidung im Sinne des § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 ZPO dar, da es sich bei ihm um eine instanzbeendende Endentscheidung handelt, gegen die ein ordentliches Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf nicht gegeben ist. Dass die Entscheidung in einem Zwischenverfahren ergangen ist, hindert diese Einordnung nicht. Denn mit der Anhörungsrüge können alle Entscheidungen angefochten werden, die abschließend und verbindlich über den betreffenden Gegenstand befinden (vgl. BVerfG, NJW 2009, 833 Rn. 10; BeckOK ZPO/Bacher, 41. Ed., § 321a Rn. 4; Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 321a Rn. 13).
2. Die Anhörungsrüge ist auch begründet. Der Anspruch der Beklagten zu 3 auf rechtliches Gehör ist durch die angefochtene Entscheidung in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden. Der Senat hat - aufgrund eines Versehens - im Beschluss vom 12. Juli 2021 ausgesprochen, (auch) die Beklagte zu 3 habe ihre Rechtsbeschwerde zurückgenommen, obwohl sie eine solche prozessuale Erklärung tatsächlich nicht abgegeben hatte. Er hat auf dieser unzutreffenden Grundlage ausgesprochen, dass die Beklagte zu 3 dieses Rechtsmittels für verlustig erklärt werde und die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen habe. Dies stellt schon deshalb - auch - eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten zu 3 auf rechtliches Gehör dar, da diese angesichts des Fehlens einer Rücknahmeerklärung zu den im Senatsbeschluss vom 12. Juli 2021 ausgesprochenen Rechtsfolgen hätte angehört werden müssen.
III. Auf die Erledigungserklärung der Beklagten zu 3 ist festzustellen, dass deren Rechtsbeschwerde in der Hauptsache erledigt ist.
1. Der in der - einseitig gebliebenen - Erledigungserklärung zu erblickende Antrag der Beklagten zu 3 auf Feststellung der Erledigung der Rechtsbeschwerde (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - I ZB 24/17, juris Rn. 6) ist zulässig.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine auf ein Rechtsmittel bezogene einseitige Erledigungserklärung jedenfalls dann zulässig, wenn hierfür ein besonderes Bedürfnis besteht, weil nur auf diese Weise eine angemessene Kostenentscheidung zu erzielen ist, soweit - was hier der Fall ist - das erledigende Ereignis als solches außer Streit steht (BGH, Beschlüsse vom 5. Juli 2005 - VII ZB 10/05, juris Rn. 5, vom 20. Januar 2009 - VIII ZB 47/08, NJW-RR 2009, 855 Rn. 4, und vom 27. Februar 2020 - III ZB 61/19, MDR 2020, 625 Rn. 9). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Denn nach Ausscheiden des abgelehnten Richters K. aus der für den Rechtsstreit zuständigen Zivilkammer des Landgerichts ist für die Beklagte zu 3 das Rechtsschutzbedürfnis für den Befangenheitsantrag entfallen und damit das Ablehnungsgesuch unzulässig geworden (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Februar 2011 - II ZB 2/10, WM 2011, 667 Rn. 10). Die Rechtsbeschwerde wäre daher mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zu verwerfen gewesen, während die Beklagte zu 3 bei einem Erfolg der Rechtsbeschwerde keine Kosten hätte tragen müssen, weil in diesem Fall keine Kostenentscheidung zu treffen gewesen wäre. Dies beruht auf dem Umstand, dass die Kosten eines erfolgreichen (Rechts-)Beschwerdeverfahrens betreffend eine Richterablehnung einen Teil der Kosten des Rechtsstreits darstellen, die die in der Sache unterliegende Partei nach §§ 91 ff. ZPO zu tragen hat, weil - was das Landgericht im Streitfall übersehen hat - die Ausgangsentscheidung als Teil der Hauptsache keine Kostenentscheidung enthalten darf (vgl. nur BGH, MDR 2020, 625 Rn. 9 mwN).
b) Das erledigende Ereignis - das Ausscheiden des abgelehnten Richters K. aus der 6. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main - ist mit Ablauf des 31. März 2021 und damit nach Anhängigkeit der Rechtsbeschwerde am 30. März 2021 eingetreten.
2. Der Antrag auf Feststellung der Erledigung ist auch begründet. Die zulässige Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 3 war im Zeitpunkt des Ausscheidens des abgelehnten Richters K. begründet, da das Beschwerdegericht ihr Ablehnungsgesuch gegen den Richter K. rechtsfehlerhaft als nicht begründet angesehen hat.
a) Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, von der Unvoreingenommenheit eines Richters sei im Grundsatz auch dann auszugehen, wenn er mit der Materie des Rechtsstreits bereits befasst gewesen sei. Dies gelte auch in den Fällen der sogenannten atypischen Vorbefassung, die aus einem anderen beruflichen Kontext resultiere. Ausnahmen von diesem Grundsatz seien gesetzlich abschließend geregelt; die in Betracht kommenden Ausschlussgründe nach § 41 Nr. 4 und 6 ZPO lägen im Streitfall nicht vor. Auch wenn die Besorgnis der Befangenheit eines Richters bei einer atypischen Vorbefassung näherliege als bei einer neutralen richterlichen Vorbefassung, bestehe sie aus Sicht einer vernünftigen Prozesspartei nur bei Hinzutreten weiterer Umstände. Solche seien vorliegend nicht gegeben. Der abgelehnte Richter habe als Referendar und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu 2 und 4 nur unterstützende Tätigkeit entfaltet und sei für diese Unternehmen nicht nach außen in Erscheinung getreten. Zudem sei es angesichts der Größe der Rechtsanwaltssozietät unwahrscheinlich, dass er neutralitätsgefährdende persönliche Beziehungen zu den verantwortlichen Personen aufgebaut habe.
b) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach dem vom Beschwerdegericht festgestellten Sachverhalt war die Befangenheit von Richter K. zu besorgen.
aa) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet gemäß § 42 Abs. 2 ZPO die Ablehnung eines Richters statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt vielmehr der "böse Schein", das heißt der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität (BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - III ZB 57/20, MDR 2021, 831 Rn. 7 mwN; BVerfG, NJW 2012, 3228, juris Rn. 13). Diese Voraussetzung liegt vor, wenn ein Prozessbeteiligter bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter eine Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2011 - V ZR 8/10, NJW-RR 2012, 61 Rn. 5, vom 13. Januar 2016 - VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022 Rn. 9, vom 20. November 2017 - IX ZR 80/15, juris Rn. 3, und vom 25. März 2021 - III ZB 57/20, MDR 2021, 831 Rn. 7 mwN). Solche Zweifel können sich sowohl aus dem Verhalten des Richters innerhalb oder außerhalb des konkreten Rechtsstreits als auch - was hier in Rede steht - aus einer besonderen Beziehung des Richters zum Gegenstand des Rechtsstreits ergeben (vgl. MünchKommZPO/Stackmann, 6. Aufl., § 42 Rn. 20).
bb) Nach diesen Maßstäben lag im Streitfall ein Ablehnungsgrund vor.
(1) Zutreffend ist das Beschwerdegericht allerdings davon ausgegangen, dass eine prozessrechtlich typische Vorbefassung mit der Materie, also die nach dem Gesetz geregelte Befassung desselben Richters mit demselben Sachverhalt in einem früheren Verfahren - beispielsweise im Prozesskostenhilfeverfahren, in einem vorangegangenen Eilverfahren oder im Urkundenprozess - ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht ausreicht, um die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Dies findet seinen Grund darin, dass insbesondere § 41 Nr. 6 ZPO, der den Ausschluss des Richters in Sachen regelt, in denen er in einem früheren Rechtszug oder im schiedsrichterlichen Verfahren an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, insoweit abschließend und einer ausweitenden Auslegung nicht zugänglich ist und das geltende Verfahrensrecht im Übrigen von dem Gedanken geprägt wird, dass der Richter die Sache auch dann unvoreingenommen beurteilen kann, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet hat (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2012 - II ZR 280/11, NJW-RR 2012, 1341 Rn. 3 f. mwN; Bendtsen in Saenger, ZPO, 9. Aufl., § 42 Rn. 16).
(2) Zu Unrecht hat das Berufungsgericht jedoch angenommen, auch die im Streitfall gegebene atypische Vorbefassung des Richters mit dem Streitstoff in einer nicht-richterlichen Funktion vermöge nicht die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.
(a) Unter welchen Voraussetzungen in Fällen einer atypischen Vorbefassung eines Richters in einer nicht-richterlichen Funktion ein Ablehnungsgrund anzunehmen ist, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht für sämtliche Fallkonstellationen einheitlich bewertet. So wird teilweise angenommen, dass im Regelfall auch ohne Hinzutreten besonderer Umstände die Besorgnis der Befangenheit begründet ist, wenn die Vorbefassung in einer anderen Funktion, beispielsweise als Staatsanwalt, Rechtsanwalt oder Verwaltungsbeamter, dasselbe Verfahren und damit denselben Streitgegenstand betrifft (vgl. MünchKommZPO/Stackmann, 6. Aufl., § 42 Rn. 23 mwN; Vollkommer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 42 Rn. 17; vgl. OLG Köln, Beschluss vom 1. Juli 2009 - 4 W 3/09, juris Rn. 5 f.). Betrifft die Vorbefassung des Richters in einer nicht-richterlichen Funktion hingegen nicht denselben Streitgegenstand, sondern lediglich eine der Parteien des Rechtsstreits oder einen verwandten Streitstoff, ist nach ganz überwiegender Ansicht auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Dabei wird regelmäßig neben der Vorbefassung das Hinzutreten weiterer objektiver Umstände verlangt, die nach der Bewertung einer vernünftigen Partei Anlass geben, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2014 - IX ZB 65/13, WM 2015, 788 Rn. 12 und vom 2. November 2016 - AnwZ (Brfg) 61/15, NJW-RR 2017, 187 Rn. 11 f.; OLG München, Beschluss vom 6. April 2009 - 1 W 1068/09, juris Rn. 8; OLG Oldenburg, Beschluss vom 26. Januar 2015 - 10 W 21/14, juris Rn. 11 - beide Entscheidungen zur Vorbefassung als Staatsanwalt; Bendtsen in Saenger, ZPO, 9. Aufl., § 42 Rn. 16; BeckOK ZPO/Vossler, 41. Ed., § 42 Rn. 16a; Vollkommer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 42 Rn. 15 ff.; Gerken in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl., § 42 Rn. 28).
(b) Die Frage bedarf keiner abschließenden Klärung. Im Streitfall sind unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Verfahrensgegenstandes jedenfalls Umstände zu bejahen, die auch aus Sicht einer vernünftigen und besonnenen Prozesspartei Zweifel an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters wecken.
(aa) Die Vorbefassung des Richters K. betraf zwar nicht die von den Klägerinnen geltend gemachten Schadensersatzansprüche und somit formal nicht den Streitgegenstand des vorliegenden beim Landgericht anhängigen Rechtsstreits. Allerdings sehen sich die Beklagten zu 2 und 4, wie gerichtsbekannt ist, einer Vielzahl von im Wesentlichen gleichgelagerten Schadensersatzklagen ausgesetzt, die sich insbesondere hinsichtlich ihres haftungsbegründenden Verhaltens - der Teilnahme an dem im Beschluss der Europäischen Kommission vom 19. Juli 2016 beschriebenen und bindend festgestellten LKW-Kartell - vollständig decken und daher mit dem Sachverhalt des beim Landgericht anhängigen Klageverfahrens in den Kernpunkten übereinstimmen. In diesem Komplex hat der abgelehnte Richter K. - vor seinem Eintritt in den Justizdienst - in mehreren parallel gelagerten Klageverfahren an von den Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu 2 und 4 für diese verfassten Schriftsätzen mitgewirkt, welche der Abwehr von Schadensersatzansprüchen anderer durch das LKW-Kartell (vermeintlich) Geschädigter dienten, und war darüber hinaus in die Klärung übergeordneter Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Rechtsverteidigung gegen derartige zivilrechtliche Ansprüche eingebunden. Aufgrund dieser Beteiligung ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass der Richter Kenntnis von Grundlagen der strategischen Planungen für die Rechtsverteidigung der Beklagten zu 2 und 4 gegen Schadensersatzklagen wegen des von der Europäischen Kommission festgestellten Kartellverstoßes erlangt hat. Ferner erscheint es naheliegend, dass er Sachverhaltsdetails erfahren hat, die Bedeutung auch für den vorliegenden Streitgegenstand haben können, ohne dass sie in den Rechtsstreit eingeführt worden wären. Dies gibt aus Sicht einer objektiven und verständigen Prozesspartei Anlass, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation BAG, MDR 2013, 605 Rn. 20).
(bb) Die Annahme, dass die Tätigkeit des abgelehnten Richters bei den Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu 2 und 4 aus Sicht einer vernünftigen Prozesspartei Anlass bietet, an dessen Unvoreingenommenheit zu zweifeln, ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil Richter K. nicht als Prozessbevollmächtigter der Beklagten zu 2 und 4 tätig geworden ist, sondern nur als - bei der anwaltlichen Beratung und Prozessvertretung assistierender - Rechtsreferendar und wissenschaftlicher Mitarbeiter. Zwar ist die Tätigkeit eines Rechtsreferendars einer anwaltlichen Beratung und Vertretung nicht ohne Weiteres gleichzustellen. Denn im Vordergrund stehen jedenfalls während der Anwaltsstation in der Referendarzeit grundsätzlich die Ausbildung und die Vorbereitung des Referendars auf das zweite juristische Staatsexamen (§ 5b Abs. 2 Nr. 4 DRiG). Hier ging die Beteiligung des abgelehnten Richters aber, wie ausgeführt, über die nach den Vorgaben der jeweiligen Ausbildungsordnung gebotene Tätigkeit deutlich hinaus. Im Vordergrund stand eine rechtliche Aufarbeitung des auch im Streitfall maßgeblichen Sachverhaltskomplexes mit dem Ziel, den Beklagten zu 2 und 4 eine möglichst schlagkräftige Rechtsverteidigung zu ermöglichen. Die Position des abgelehnten Richters im Rahmen seiner Vorbefassung war somit der eines bevollmächtigten Rechtsanwaltes jedenfalls angenähert.
(cc) Der vorstehenden Würdigung steht auch nicht entgegen, dass der Bundesgerichtshof in einem Fall, in dem ein anwaltlicher Beisitzer im Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs angesichts seiner dienstlichen Beziehung zur dort beklagten Rechtsanwaltskammer als deren früherer Schatzmeister und damit zugleich deren früheres Mitglied des Präsidiums abgelehnt worden war, einen Ablehnungsgrund verneint hat. Die Entscheidung, dass auch angesichts dieser früheren Tätigkeit und Funktion des abgelehnten Richters bei der Gegenpartei objektiv kein Anlass bestehe, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung dieses Richters zu zweifeln, hat der Bundesgerichtshof maßgeblich damit begründet, dass diese Tätigkeit mehr als zehn Jahre zurücklag und keinen Bezug zum Gegenstand des Rechtsstreits - den Entzug der Anwaltszulassung - hatte (vgl. BGH, NJW-RR 2017, 187 Rn. 14 ff.). Im Streitfall ist demgegenüber eine - weitgehende - Sachverhaltsidentität anzunehmen; zudem lag die Tätigkeit des abgelehnten Richters für die Beklagten zu 2 und 4 im Rahmen seiner Mitarbeit bei deren Prozessbevollmächtigten nur weniger als ein Jahr zurück.
IV. Mit der Feststellung der Erledigung des Rechtsmittels sind die im Beschluss des Landgerichts und in der Beschwerdeentscheidung enthaltenen Kostenentscheidungen gegenstandslos. Eine Kostenentscheidung im Verhältnis zwischen den Klägern und der Beklagten zu 3 ist aus den oben genannten Gründen (vgl. Rn. 10) nicht veranlasst.
Meier-Beck
Kirchhoff
Tolkmitt
Picker
Rombach
Der Bundesgerichtshof entschied, dass der beisitzende Richter am Landgericht Frankfurt hinsichtlich einer Entscheidung über Schadensersatzklagen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot (hier: LKW-Kartell) befangen ist. Der Richter arbeitete als Referendar in einer Großkanzlei, in der er an der Erarbeitung von Schriftsätzen in einem Verfahren, in dem auch LKW-Kartellverstöße streitgegenständlich waren, betraut wurde.
Streifler&Kollegen - Dirk Streifler - Rechtsanwälte Berlin
Verfahren: LKW-Kartellverstöße
Die Europäische Kommission vom 19. Juli 2016 stellte fest, dass die LKW-Hersteller MAN, Daimler, Volvo/Renault, DAF und Iveco/Fiat durch Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen für mittelschwere und schwere Lastkraftwagen sowie über Zeitplan und Weitergabe der Kosten für die Einführung vom Emmissionstechnologien für diese Fahrzeuge, gegen das Kartellrecht verstoßen haben. Die in diesen Zusammenhang geführten Verfahren werden vor dem Landgericht Frankfurt verhandelt. Der Richter am LG Frankfurt führte gleich zu Beginn des Verfahrens aus, dass ca ein Jahr zuvor als Referendar und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Großkanzlei „Hengeler Mueller“ mit Tätigkeiten in Zusammenhang mit dem LKW-Kartell befasst war. Zwei der am Verfahren beteiligten LKW-Hersteller haben daraufhin einen Antrag wegen Befangenheit des Richters gestellt.
Ablehnung der Befangenheitsanträge durch LG Frankfurt und OLG Frankfurt am Main
Sowohl das Landgericht Frankfurt (2-6 O 414/18) als auch das Oberlandgericht Frankfurt (11 W 10/21) lehnten die Befangenheitsanträge ab. Die Gerichte führen zur Begründung aus, dass der beklagte Richter während seiner Zeit als Referendar bei Hengeler Mueller nur unterstützende Arbeit geleistet habe und nicht nach außen in Erscheinung getreten sei. Zudem ist nach Ansicht der Gerichte, die Wahrscheinlichkeit, dass der Referendar neutralitätsgefährdende persönliche Beziehungen aufgebaut habe, gering.
BGH: Begründete Zweifel an Unvoreingenommenheit
Anderer Ansicht ist der BGH. Dieser betont, dass für die Annahme einer tatsächlichen Befangenheit oder Voreingenommenheit „der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität“ ausreichend ist (BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - III ZB 57/20, MDR 2021, 831 Rn. 7).Der BHG führt weiter aus, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, „wenn ein Prozessbeteiligter bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter eine Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann“ (vgl. BGH, Beschl. v. 12.10.2011 – VII ZR 36/14). Vorliegend begründe die besondere Beziehung des Richters zum Gegenstand des Rechtsstreits, die Zweifel an dessen Unvoreingenommenheit.
Während seiner Zeit als Referendar und wissenschaftlicher Mitarbeiter, hat der abgelehnte Richter an Schriftsätzen mitgewirkt, die der Abwehr von Schadensersatzansprüchen der Personen dienen, die durch das LKW-Kartell vermeintlich geschädigt worden sind.
Der BGH stellt fest, dass das Verfahren, in dem der Richter abgelehnt wurde, zwar nicht denselben Streitgegenstand wie das Verfahren an dem der Richter während seiner Zeit als Referendar gearbeitet hat, betrifft. Jedoch decken sich beide Verfahren insofern, als dass es sich um gleichgelagerte Schadensersatzklagen handelt, die auch hinsichtlich des haftungsbegründenden Verhaltens übereinstimmen. Deshalb sei es nach Ansicht des BGH´s nicht ausgeschlossen, dass der abgelehnte Richter während seiner Tätigkeit bei Hungeler Mueller, Wissen hinsichtlich der strategischen Planung der Rechtsverteidigung der Beklagten sowie hinsichtlich bedeutender Informationen, die nicht in den Rechtsstreit eingebracht worden sind, erlangt hat. Der BGH berücksichtigt bei seiner Entscheidung, insbesondere auch, dass die Arbeit des abgelehntes Richters als Referendar weniger als ein Jahr zurückliegt.
Relevanz
Besonders relevant ist der Beschluss des BGH´s für Juristen, die in einer Großkanzlei tätig sind und planen in die Justiz zu wechseln sowie für alle, die einen solchen Wechsel bereits vollzogen haben. Interessenkonflikte können sich außerdem für Projektjuristen ergeben. Projektjuristen werden immer beliebter. Sie arbeiten ausschließlich für einen ausgesuchten Fall beziehungsweise für eine entsprechende Zeit und werden insbesondere im Kartellrecht bevorzugt eingestellt.
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BUNDESGERICHTSHOF
Herstellers zu sichten. Liegen jedoch Hinweise darauf vor, dass ein Medizinprodukt die Anforderungen der Richtlinie 93/42/EWG in der durch die Verordnung Nr. 1882/2003 geänderten Fassung möglicherweise nicht erfüllt, muss die benannte Stelle alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um ihren Verpflichtungen aus Art. 16 Abs. 6 dieser Richtlinie und den Abschnitten 3.2., 3.3., 4.1. bis 4.3. und 5.1. des Anhangs II der Richtlinie nachzukommen (im Anschluss an EuGH, NJW 2017, 1161). BGH, Urteil vom 22. Juni 2017 - VII ZR 36/14 - OLG Zweibrücken LG Frankenthal
Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2017 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Eick, die Richter Dr. Kartzke und Prof. Dr. Jurgeleit und die Richterinnen Graßnack und Sacher
für Recht erkannt:
Von Rechts wegen
Tatbestand:
- 1
- Die Klägerin ließ sich am 1. Dezember 2008 in Deutschland Silikonbrustimplantate einsetzen, die von einem in Frankreich ansässigen Unternehmen, das zwischenzeitlich in Insolvenz gefallen ist, hergestellt worden waren. 2010 stellte die zuständige französische Behörde fest, dass bei der Herstellung der Brustimplantate entgegen dem Qualitätsstandard minderwertiges Industriesilikon verwendet wurde. Auf ärztlichen Ratschlag ließ sich die Klägerin daraufhin 2012 ihre Implantate entfernen. Sie begehrt deshalb von der Beklagten ein Schmerzensgeld nicht unter 40.000 € und die Feststellung der Ersatzpflicht für künftig entstehende materielle Schäden.
- 2
- Die Silikonbrustimplantate sind Medizinprodukte, die nach Art. 1 der Richtlinie 2003/12/EG der Kommission vom 3. Februar 2003 zur Neuklassifizierung von Brustimplantaten im Rahmen der Richtlinie 93/42/EWG (ABl. 2003 L 28 S. 43 f.) als Medizinprodukte der Klasse III eingestuft werden. Medizinprodukte der Klasse III dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Medizinproduktegesetz nur in den Verkehr gebracht werden, wenn unter anderem ein Konformitätsbewertungsverfahren nach § 37 Abs. 1 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 (vormals § 6 Abs. 1 Nr. 1) MedizinprodukteVerordnung (MPV) in Verbindung mit Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG durchgeführt worden ist. Bestandteil dieses Konformitätsbewertungsverfahrens ist das Qualitätssicherungssystem, die Prüfung der Produktauslegung und die Überwachung (Nr. 3 bis 5 Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG). Die förmliche Überprüfung (Audit) des Qualitätssicherungssystems, die Prüfung der Produktauslegung und die Überwachung werden von einer sogenannten benannten Stelle durchgeführt, die der Hersteller zu beauftragen hat.
- 3
- Der in Frankreich ansässige Hersteller beauftragte die Beklagte als benannte Stelle mit den genannten Aufgaben. Die Vertragsparteien vereinbarten die Geltung deutschen Rechts.
- 4
- Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Beklagte ihren Pflichten als benannter Stelle nicht hinreichend nachgekommen sei. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Beklagte bei dem Hersteller vor dem 1. Dezember 2008 jeweils angekündigte Besichtigungen im November 1998, Januar 2000, November 2000, Februar 2001, Dezember 2001, November 2003, November 2004 und März 2006 durchführte. Die Beklagte nahm keine regelmäßige Einsicht in die Geschäftsunterlagen und ordnete keine Produktprüfung an. Die Klägerin trägt vor, durch eine Einsicht in Lieferscheine und Rechnungen hätte die Beklagte erkennen können, dass nicht das genehmigte Silikon verarbeitet worden sei.
- 5
- Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
- 6
- Mit Beschluss vom 9. April 2015 hat der Senat dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a) in Verbindung mit Anhang II Nummer 3.3., 4.3., 5.3., 5.4. der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. 1993, L 169, Seite 1 ff.) vorgelegt (NJW 2015, 2737): Ist es Zweck und Intention der Richtlinie, dass die mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragte benannte Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III zum Schutz aller potentiellen Patienten tätig wird und deshalb bei schuldhafter Pflichtverletzung den betroffenen Patienten unmittelbar und uneingeschränkt haften kann? Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG, dass der mit dem Audit des Qualitätssicherungssystems , der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Produktprüfungspflicht obliegt? Ergibt sich aus den genannten Nummern des Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG, dass der mit dem Audit des Qualitäts- sicherungssystems, der Prüfung der Produktauslegung und der Überwachung beauftragten benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III eine generelle oder zumindest anlassbezogene Pflicht obliegt, Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten und/oder unangemeldete Inspektionen durchzuführen?
- 7
- Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 16. Februar 2017 (C-219/15 S. 14 f.) die Fragen wie folgt beantwortet (NJW 2017, 1161): 1. Die Bestimmungen des Anhangs II der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 geänderten Fassung in Verbindung mit ihrem Art. 11 Abs. 1 und 10 sowie Art. 16 Abs. 6 sind dahin auszulegen, dass der benannten Stelle keine generelle Pflicht obliegt, unangemeldete Inspektionen durchzuführen, Produkte zu prüfen und/oder Geschäftsunterlagen des Herstellers zu sichten. Liegen jedoch Hinweise darauf vor, dass ein Medizinprodukt die Anforderungen der Richtlinie 93/42 in der durch die Verordnung Nr. 1882/2003 geänderten Fassung möglicherweise nicht erfüllt, muss die benannte Stelle alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um ihren Verpflichtungen aus Art. 16 Abs. 6 dieser Richtlinie und den Abschnitten 3.2., 3.3., 4.1. bis 4.3. und 5.1. des Anhangs II der Richtlinie nachzukommen.
Stelle im Rahmen des Verfahrens der EG-Konformitätserklärung zum Schutz der Endempfänger der Medizinprodukte tätig wird. Die Voraussetzungen, unter denen eine von einer benannten Stelle begangene schuldhafte Verletzung der ihr im Rahmen dieses Verfahrens gemäß dieser Richtlinie obliegenden Pflichten ihre Haftung gegenüber den Endempfängern begründen kann, unterliegen vorbehaltlich der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dem nationalen Recht.
Entscheidungsgründe:
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- Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.
I.
- 9
- Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
- 10
- Die Beklagte und das Herstellerunternehmen hätten einen rein privatrechtlich zu beurteilenden Vertrag geschlossen. In diesen sei die Klägerin nicht eingebunden gewesen. Die Beklagte hafte nicht unter dem Gesichtspunkt der Pflichtverletzung eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Sinn und Zweck der Tätigkeit als benannter Stelle im Auftrag des Herstellers sei nicht der Schutz Dritter. Die Zertifizierungstätigkeit diene nur dazu, die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten zu schaffen. Ein rechtsgeschäftlicher Wille des Herstellers und der benannten Stelle, Dritte in den Schutzbereich ihres Vertrages einzubeziehen, bestehe deshalb nicht. Eine solche Einbeziehung würde zudem zu einer uferlosen Ausweitung der Haftung der benannten Stelle führen. Schließlich sei nicht erkennbar, woraus sich ein berechtigtes Interesse des Herstellerunternehmens an der Einbeziehung der Klägerin in den Schutzbereich des Vertrages ergebe.
- 11
- Die Beklagte hafte zudem nicht nach deutschem Deliktsrecht. Der Beklagten könne nach Sachlage allenfalls der Vorwurf gemacht werden, das Herstellerunternehmen nicht ausreichend überwacht zu haben. Für die Beklagte habe sich aber keine Pflicht zum Handeln im Interesse der Patientinnen ergeben, da die benannte Stelle nicht zum Schutz der Patienten tätig werde. Zudem sei kein Verschulden feststellbar. Der Vorwurf, die Beklagte habe Überwachungspflichten verletzt, sei unberechtigt. Die Beklagte habe regelmäßig angekündigte Besichtigungen durchgeführt. Das reiche aus, soweit kein Verdacht für eine nicht ordnungsgemäße Produktion gegeben sei. Vor Dezember 2011 hätten sich entsprechende Verdachtsmomente für die Beklagte nicht ergeben.
II.
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- Das hält der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand.
- 13
- 1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Zertifizierungs- und Prüfauftrag des Herstellers an die Beklagte zwischen den Vertragsparteien ein privatrechtliches Schuldverhältnis begründet (BPatGE 52, 136, 139, juris Rn. 12; Rehmann/Wagner, MPG, 2. Aufl., Einführung Rn. 31 und § 15 Rn. 1; Bergmann/Pauge/Steinmeyer/Webel, Gesamtes Medizinrecht, 2. Aufl., § 6 MPG Rn. 2).
- 14
- 2. Das Schuldverhältnis der Parteien beurteilt sich insgesamt nach deutschem materiellem Recht.
- 15
- a) Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche aus unerlaubter Handlung beurteilen sich nach deutschem Recht. Dies folgt aus Art. 40 EGBGB.
- 16
- Die Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-VO; ABl. 2007 L 199 S. 40) ist im Streitfall intertemporal noch nicht anwendbar, da das schadensbegründende Ereignis vor dem 11. Januar 2009 eingetreten ist (vgl. Art. 31, 32 Rom II-VO).
- 17
- Nach der Art. 40 Abs. 1 EGBGB vorgehenden Sonderanknüpfung des Art. 40 Abs. 2 EGBGB ist deutsches Recht als Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts von Klägerin und Beklagter zur Zeit des Haftungsereignisses anwendbar. Die Anwendbarkeit deutschen Rechts ergäbe sich im Übrigen auch aus Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB. Eine wesentlich engere Verbindung zu einem ausländischen Recht im Sinne des Art. 41 EGBGB, die dessen Anwendbarkeit zur Folge hätte, besteht im Streitfall nicht.
- 18
- b) Vertragliche Ansprüche, die aus dem zwischen der Beklagten und dem Hersteller geschlossenen Vertrag über das Konformitätsbewertungsverfahren resultieren, beurteilen sich kraft ausdrücklicher Rechtswahl nach deutschem Recht. Dies folgt aus Art. 27 Abs. 1 EGBGB.
- 19
- Die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO, ABl. 2008 L 177 S. 6, berichtigt ABl. 2009 L 309 S. 87) ist im Streitfall intertemporal nicht anwendbar, da sie gemäß Art. 28 nur auf Verträge angewandt wird, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen worden sind. Auf Verträge, die - wie der hier einschlägige Vertrag - davor geschlossen wurden, sind weiterhin die Bestimmungen der Art. 27 bis 34 EGBGB anzuwenden.
- 20
- c) Da deutsches Recht sowohl auf Ansprüche aus unerlaubter Handlung als auch auf vertragliche Ansprüche aus dem genannten Vertrag anwendbar ist, bedarf es im Streitfall keiner Entscheidung, ob die Einbeziehung von Dritten in den Schutzbereich eines Vertrags sich internationalprivatrechtlich nach dem Vertragsstatut beurteilt (vgl. MünchKommBGB/Spellenberg, 4. Aufl., Art. 32 EGBGB Rn. 24 m.w.N.) oder ob insoweit das Deliktsstatut (vgl. Dutta, IPRax 2009, 293, 297) maßgebend ist.
- 21
- 3. Der revisionsrechtlichen Nachprüfung hält die Annahme des Berufungsgerichts stand, dass die Beklagte keine Pflichten nach Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG verletzt hat und deswegen eine Haftung der Beklagten aus einem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter oder aus § 823 BGB ausscheidet.
- 22
- a) Der benannten Stelle sind nach Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG folgende Pflichten zugewiesen:
- 23
- aa) Vor dem Inverkehrbringen des Medizinprodukts ist die benannte Stelle in die Bewertung des von dem Hersteller einzureichenden Qualitätssicherungssystems eingebunden (Nr. 3.3. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG). Sie hat eine förmliche Überprüfung des Qualitätssicherungssystems (Audit) durchzuführen. Zusätzlich hat der Hersteller eine Produktauslegungsdoku- mentation vorzulegen, die die benannte Stelle nach Nr. 4.3. der Richtlinie 93/42/EWG zu prüfen hat.
- 24
- bb) Nach dem Inverkehrbringen des Medizinprodukts hat nach Nr. 5.1. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG eine Überwachung des Qualitätssicherungssystems zu erfolgen. Die Pflichten der benannten Stelle im Rahmen der Überwachung sind in Nr. 5.3. und 5.4. Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG geregelt. Danach führt die benannte Stelle regelmäßig die erforderlichen Inspektionen und Bewertungen durch, um sich davon zu überzeugen, dass der Hersteller das genehmigte Qualitätssicherungssystem anwendet.
- 25
- Darüber hinaus kann die benannte Stelle unangemeldete Besichtigungen beim Hersteller durchführen und erforderlichenfalls Prüfungen zur Kontrolle des ordnungsgemäßen Funktionierens des Qualitätssicherungssystems durchführen oder durchführen lassen. Diese Pflicht, die eine Produktprüfung und die Sichtung der Geschäftsunterlagen des Herstellers umfassen kann, besteht aber nicht generell, sondern nur, wenn Hinweise vorliegen, dass das Medizinprodukt den Anforderungen der Richtlinie 93/42/EWG in der durch die Verordnung Nr. 1882/2003 geänderten Fassung nicht genügt (EuGH, NJW 2017, 1161).
- 26
- b) Die vor dem Inverkehrbringen der Silikonbrustimplantate bestehenden Pflichten hat die Beklagte nach dem Vortrag der Klägerin nicht verletzt.
- 27
- c) Die Beklagte hat die nach dem Inverkehrbringen der Silikonbrustimplantate bestehenden Pflichten ebenfalls nicht verletzt.
- 28
- aa) Die Beklagte hat das Qualitätssicherungssystem unstreitig durch regelmäßige - angekündigte - Inspektionen und Bewertungen überwacht und sich davon überzeugt, dass der Hersteller das Qualitätssicherungssystem anwendet. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hatte der französische Hersteller ein System der Vertuschung geschaffen, um die französischen Behörden und die Beklagte darüber zu täuschen, dass sie Industriesilikon zur Befüllung der Implantate verwendete. Vor den regelmäßigen Inspektionen stellte der französische Hersteller den Herstellungsprozess jeweils um und legte den Kontrolleuren der Beklagten nur eine Dokumentation über die Verwendung des genehmigten Silikons vor.
- 29
- bb) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte die Beklagte vor Dezember 2008 keinen Anlass, unangemeldete Inspektionen durchzuführen , Brustimplantate zu prüfen oder die Geschäftsunterlagen des französischen Herstellers zu prüfen.
- 30
- (1) Die in einem Artikel des "Handelsblatts" vom 12. Juli 2013 genannte Warnung der US-amerikanischen Aufsichtsbehörde aus dem Jahr 2001, die sich auf mit Kochsalzlösung gefüllte Brustimplantate und nicht auf Silikonbrustimplantate bezog, ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts - auf der Grundlage des unstreitigen Parteivortrags - der Beklagten erst im Jahr 2011 bekannt geworden. Soweit die Revision mit Schriftsatz vom 2. Juni 2017 unter Bezugnahme auf eine Zeugenaussage in dem in Frankreich geführten Strafverfahren vorträgt, die US-amerikanische Aufsichtsbehörde habe ihre Warnung auf ihrer Internetseite im Jahr 2001 veröffentlicht, wo sie für die Beklagte ohne weiteres einsehbar gewesen sei, ist das neuer Tatsachenvortrag, der in der Revisionsinstanz nicht zu berücksichtigen ist (§ 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
- 31
- (2) Der in dem oben genannten Presseartikel weiter erwähnte Bericht britischer Aufsichtsbehörden aus Dezember 2000 hatte nach den Fest- stellungen des Berufungsgerichts - auf der Grundlage des unstreitigen Parteivorbringens - die wissenschaftliche Frage nach alternativen Füllmaterialien (hier: Sojaöl) zum Gegenstand. Die Zuverlässigkeit des französischen Herstellers war nicht Gegenstand des Berichts.
- 32
- Die insoweit - außerhalb der Revisionsbegründungsfrist - erhobene Verfahrensrüge der Revision hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet (§ 564 ZPO).
- 33
- (3) Soweit die Revision mit Schriftsatz vom 2. Juni 2017 unter Bezugnahme auf einen Bericht der französischen Aufsichtsbehörde vom 1. Dezember 2012 (S. 34, 36 ff., 83 ff.) vorträgt, es habe aufgrund der Einrichtung eines besonderen Meldeblatts für die Brustimplantate ab 2002 festgestanden, dass der französische Hersteller einer besonderen Überwachung bedurft hätte, handelt es sich ebenfalls um neuen Vortrag, der in der Revisionsinstanz nicht zu berücksichtigen ist. Zwar hat die Klägerin den genannten Bericht in der Tatsacheninstanz zur Akte gereicht, jedoch ohne diesen inhaltlich auszuwerten. Damit hat die Klägerin ihrer Darlegungslast nicht genügt.
- 34
- (4) Soweit die Revision meint, dass bereits die potentielle hohe Gefährlichkeit von Silikonbrustimplantaten als Medizinprodukte der höchsten Risikoklasse, insbesondere die leichte Austauschbarkeit des Silikons und die Unauffälligkeit eines solchen Austauschs, objektiver Anhaltspunkt für mögliche Herstellerverfehlungen sei, teilt der Senat das nicht. Es handelt sich allein um ein abstraktes Gefährdungspotential, das nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union selbst bei Medizinprodukten der höchsten Risikoklasse nicht ausreicht, um die benannte Stelle als verpflichtet anzusehen, besondere Überwachungsmaßnahmen einzuleiten.
- 35
- (5) Soweit die Revision meint, der Klägerin müsse durch Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht Gelegenheit gegeben werden, ergänzend vorzutragen, weil die Instanzgerichte die Frage einer umfassenderen Überwachungspflicht nicht für erheblich erachtet haben, ist das unzutreffend. Die Instanzgerichte haben sich nicht nur mit der Frage auseinandergesetzt , ob zugunsten der Klägerin eine Anspruchsgrundlage besteht, sondern eingehend erörtert, warum die Beklagte keinen Anlass hatte, vor Dezember 2008 eine unangemeldete Inspektion durchzuführen, in diesem Zusammenhang die Geschäftsunterlagen des französischen Herstellers zu sichten und eine Produktprüfung vorzunehmen.
- 36
- 4. Da eine Haftung der Beklagten mangels Pflichtverletzung ausscheidet, kann dahin gestellt bleiben, ob zugunsten der Klägerin grundsätzlich das Rechtsinstitut des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter oder § 823 BGB Anwendung findet (zum Diskussionsstand siehe Rehmann, StoffR 2017, 96; Oeben, MPR 2017, 42; Degen, VersR 2017, 462; Rott, NJW 2017, 1146; Unger, EuZW 2017, 299; Graf, MPR 2016, 43; Spickhoff, LMK 2017, 389314).
- 37
- Der Senat weist darauf hin, dass nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16. Februar 2017 aus der Richtlinie 93/42/EWG selbst sich keine zivilrechtliche Haftung der benannten Stelle ergibt (NJW 2017, 1161 Rn. 56). Das schließt allerdings die Anwendung anderer Regelungen der vertraglichen oder außervertraglichen Haftung nach deutschem Recht nicht aus, sofern diese auf anderen Grundlagen - etwa Verschulden - beruhen (NJW 2017, 1161 Rn. 58 f.).
III.
- 38
- Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Vorinstanzen:
LG Frankenthal, Entscheidung vom 14.03.2013 - 6 O 304/12 -
OLG Zweibrücken, Entscheidung vom 30.01.2014 - 4 U 66/13 -