Verwaltungsgericht Berlin Urteil, 19. Mai 2022 - VG 33 K 552.18 A

published on 04/10/2024 14:30
Verwaltungsgericht Berlin Urteil, 19. Mai 2022 - VG 33 K 552.18 A
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Gericht

Richter

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Verwaltungsgericht Berlin 

Urteil vom 19. Mai 2022

Az.: VG 33 K 552.18 A


 

 

 

In der Verwaltungsstreitsache

 

der Frau S, geb. __.__.____, Berlin,

Verfahrensbevollmächtigte(r): Rechtsanwälte Streifler & Kollegen, Oranienburger Straße 69, 10117 Berlin,

Klägerin,

 

g e g e n

 

die Bundesrepublik Deutschland,

vertreten durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat, dieses vertreten durch

das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

- Außenstelle Berlin -,

Badensche Straße 23, 10715 Berlin,

Beklagte,

 

hat das Verwaltungsgericht Berlin, 33. Kammer, aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2022 durch die Richterin Egger als Einzelrichterin für Recht erkannt:

 

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. September 2018 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und sie als Asylberechtigte anzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

 

Tatbestand

Die Klägerin ist russische Staatsangehörige, Mitglied der Zeugen Jehovas und begehrt Asyl sowie internationalen Schutz. Sie reiste am 10. September 2018 mit einem deutschen Schengen-Visum auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 14. September 2018 einen Asylantrag.

Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 19. September 2018 gab die Klägerin im Wesentlichen an: Sie sei bereits seit ihrer frühen Kindheit Mitglied der Zeugen Jehovas. Auch ihre Eltern seien Zeugen Jehovas, weshalb sie mit dem Glauben aufgewachsen sei. Sie sei jedoch noch nicht getauft; sie sei eine sogenannte „ungetaufte Verkünderin“. Sie sei seit ihrer Kindheit mit ihren Eltern missionieren gegangen, dabei sei ihnen schon immer Misstrauen entgegengebracht worden. Auch sie selbst sei beispielsweise in der Schule unter Druck gesetzt und ausgegrenzt worden. Seit die Zeugen Jehovas  im Jahre 2017 als extremistische Gruppierung eingestuft wurden, sei die Lage für sie sehr schwierig geworden. Die Leute seien ihr sehr aggressiv gegenübergetreten und hätten schlecht über ihre Religion gesprochen. Auch seien ihre Königreichssäle geschlossen worden, weshalb sie sich heimlich bei anderen Mitgliedern der Zeugen Jehovas zu Hause hätten treffen müssen. Zudem habe eine Frau, die an der Rezeption ihres Wohnhauses in Moskau gearbeitet habe, ihrer Mutter berichtet, dass die Polizei bei ihr gewesen sei und sich nach der Familie der Klägerin erkundigt habe.

Die Polizeibeamten hätten wissen wollen, ob die Familie Gäste empfange, wann die Familie das Haus verlassen würde und an welchen Tagen Leute zu ihnen kommen würden. Sie habe große Angst wegen der heimlichen Versammlungen und weil sie trotz des Verbots noch missionieren gegangen sei, ins Gefängnis zu kommen.

Mit Bescheid vom 25. September 2018, der Klägerin am 26. Oktober 2018 per Postzustellungsurkunde zugestellt, lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung sowie auf subsidiären Schutz als einfach unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, forderte die Klägerin unter Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung sei nicht ersichtlich. Die Kriterien für eine erforderliche Verfolgungsdichte – zur Annahme einer Gruppenverfolgung der Angehörigen der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation – lägen nicht vor. Zusammenfassend sei eine systematische und individuelle Verfolgungshandlung gegenüber der Klägerin nicht ersichtlich.

Am 2. November 2018 hat die Klägerin Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben. Zu deren Begründung reichte sie eine Mitgliedsbescheinigung der Zeugen Jehovas vom 21. November 2018 ein und trug ergänzend vor, dass sie am 15. Juni 2019 als Zeugin Jehovas getauft worden sei.

 

Die Klägerin beantragt,

 

- die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. September 2018 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und sie als Asylberechtigte anzuerkennen,

- hilfsweise, ihr subsidiären Schutz zu gewähren,

- weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

 

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich, die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid.

 

Das Gericht hat den Beteiligten die der Entscheidung zugrunde gelegten Erkenntnismittel vorab mitgeteilt und die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angehört; wegen der Einzelheiten der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Ausländerbehörde verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

Über die Klage entscheidet die Berichterstatterin als Einzelrichterin, nachdem ihr die Kammer den Rechtsstreit durch Beschluss vom 22. März 2022 gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung übertragen hat. Das Gericht konnte in Abwesenheit der Beklagten verhandeln und entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 25. September 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (dazu unter I) sowie Anerkennung als Asylberechtigte (dazu unter II).

I.   Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Der Verfolgungsgrund der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten  im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Als Verfolgung gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffenen ist wie von einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte (§ 3a Abs. 1 AsylG).

Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann ausgehen von staatlichen, quasistaatlichen sowie nichtstaatlichen Akteuren, sofern staatliche oder quasistaatliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten (§ 3c und § 3d AsylG).

Begründet ist die Furcht vor Verfolgung, wenn der Ausländer Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer geschützter Rechtsgüter aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt ist. Hierfür besteht eine widerlegbare Vermutung, wenn er bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013 – BVerwG 10 C 23.12 – juris Rn. 32 m.w.N. und vom 27. April 2010 – BVerwG 10 C 5.09 – juris Rn. 23).

Die die Verfolgungsgefahr begründenden Umstände müssen zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) feststehen. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass der Asyl- bzw. Schutzsuchende sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen muss. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen Schutzanspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – BVerwG 9 B 405.89 – InfAuslR 1990, S. 38). Dies steht im Einklang mit den Grundsätzen in Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95/EU.

Gemessen hieran hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Sie befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas außerhalb ihres Herkunftslandes.

1. Nach der Rechtsprechung des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich die Einzelrichterin nach eigener Prüfung unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel anschließt, unterliegen Zeugen Jehovas, für die die öffentlich wahrnehmbare Glaubensausübung zentrales Element ihrer religiösen Identität ist, in der Russischen Föderation einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung wegen ihrer Religion (VGH München, Urteile vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 u.a. – Leitsatz). Dies entspricht der ganz überwiegenden Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. u.a. VG Stuttgart, Urteil vom 22. April 2021 – A 14 K 3523/20 – juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 25. Februar 2021 – A 11 K 3943/17 – juris, Rn. 40 ff.; VG Bremen, Urteil vom 28. August 2020 – 6 K 3654/17 – juris Rn. 23 ff.; VG Kassel, Urteil vom 29. Juli 2020 – 1 K 2836/18.KS.A – juris Rn. 33 ff.; VG Trier, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 K 5531/18.TR – juris Rn. 33 ff.; VG Ber-lin, Urteile vom 5. Juni 2019 – VG 33 K 771.17A – juris Rn. 23 ff. und vom 10. März 2022 – VG 39 K 293.19 A – S. 6 ff. des Entscheidungsabdrucks; VG Augsburg, Urteil vom 10. Mai 2019 – 2 K 19.30587 – juris Rn. 37 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 15. März 2019 – A 14 K 16637/17 – juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 17.Januar 2019 – A 4 K 6178/16 – juris Rn. 34; VG Münster, Gerichtsbescheid vom 22. Februar 2018 – 2 K 1079/17.A – juris Rn. 17 ff.; VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 17 A 2777/18 – juris Rn. 21 ff.).

Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt nicht nur bei gravierenden Eingriffen in die Freiheit des Betroffenen vor, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren (forum internum), sondern auch bei solchen in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (forum externum). Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen (VGH München, Urteil vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 – juris Rn. 24; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – BVerwG 10 C 23/12 – juris Rn. 24 ff.). Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die hierfür erforderliche Schwere aufweist, hängt von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab. Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter. Diese kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr. Relevanter subjektiver Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit ist der Umstand, dass die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit für den Ausländer zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich  selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (VGH München, Urteil vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 – juris Rn. 25 ff.; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – BVerwG 10 C 23/12 – juris Rn. 28 ff.). Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung angesehen werden, wenn der Asylbewerber – über die genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus – bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen (VGH München, Urteil vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 – juris Rn. 28; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – BVerwG 10 C 23/12 – juris Rn. 32).

2.   Die Situation der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation stellt sich nach den Erkenntnissen des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs wie folgt dar: Das Oberste Gericht der Russischen Föderation in Moskau hat die Zeugen Jehovas, denen in der Russischen Föderation rund 170.000 Personen angehören, mit Urteil vom 20. April 2017 als extremistische Gruppe eingestuft, ihnen sämtliche Aktivitäten auf russischem Territorium verboten und ihren Besitz beschlagnahmt. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände betroffen. Die Versammlungsgebäude (Königreichssäle) sind geschlossen und die Herstellung und Verteilung religiöser Druckwerke ist verboten. Die von den Zeugen Jehovas benutzte Neue-Welt-Übersetzung der Bibel und die Webseiten der Glaubensgemeinschaft werden von den russischen Behörden als extremistisch eingestuft und unterfallen daher ebenfalls dem Verbot. Die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft können für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden. Die russischen Behörden gehen gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor. Die Zahl der Betroffenen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, stieg laut der Nichtregierungsorganisation Memorial, die das Auswärtige Amt für glaubwürdig erachtet, bis Sommer 2020 auf 333. 23 Zeugen Jehovas seien in Untersuchungshaft, 19 befänden sich im Hausarrest und acht seien zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, in einem Fall im Juni 2020 zu sechs Jahren und sechs Monaten. Nach aktuellen Erkenntnissen der norwegischen Ausländerverwaltung sind seit dem Verbot vom April 2017 65 Zeugen Jehovas in ganz Russland verurteilt worden, weil sie eine Aktivität für eine extremistische Organisation ausgeführt oder geleitet hätten, wobei ca. 430 weitere mit einer Anklage gegen sich konfrontiert waren oder sind. Nach eigenen Angaben der Glaubensgemeinschaft befinden sich 53 Zeugen Jehovas in Untersuchungshaft bzw. sind sie zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, stehen 26 weitere unter Hausarrest und dürfen 215 ihren Wohnort nicht verlassen. Gegen mindestens 358 Zeugen Jehovas im Alter von 20 bis 91 Jahren werde zurzeit strafrechtlich ermittelt. Von 2017 bis Sommer 2021 sind rund 1.000 Hausdurchsuchungen durchgeführt worden. In den Jahren 2019 und 2020 haben die russischen Strafverfolgungsbehörden die Verfolgung   der Zeugen Jehovas in ganz Russland intensiviert. Allein wegen ihrer Taufe drohen den Angehörigen der Zeugen Jehovas zwar keine staatlichen Maßnahmen. Bei der Strafverfolgung wird allerdings nicht zwischen der privaten und öffentlichen Teilnahme an Aktivitäten einer öffentlichen oder religiösen Vereinigung unterschieden. Russische Gerichte subsumieren unter den Begriff der Teilnahme auch religiöse Aktivitäten, die im privaten Bereich stattfinden, wie etwa häusliche Gottesdienste, Beten oder Bibellesungen. Als Beweise für „kriminelles“ Verhalten in durchgeführten Strafverfahren genügen gewöhnliche Apekte des gemeinschaftlichen religiösen Lebens, einschließlich des Bibellesens bei einer Bibelstudiensitzung, der Teilnahme an einer Gottesdienstveranstaltung oder der Aufnahme von Menschen in der eigenen Wohnung für Bibellesungen oder Gottesdienste. Eine herausgehobene Funktion in der Glaubensgemeinschaft wie die eines Ältesten oder Dienstamtsgehilfen, aber auch die Verbindung zum Verwaltungszentrum in Sankt Petersburg oder die Gründung einer regionalen Gemeinde, sowie die sichtbare bzw. öffentliche Ausübung des Glaubens, z.B. das Missionieren oder die Bereitstellung der eigenen Wohnung für religiöse Zusammenkünfte, erhöhen das Risiko einer Strafverfolgung und härterer Strafen (VGH München, Urteil vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 – juris Rn. 33 unter Bezugnahme auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Russischen Föderation vom 2. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 8; norwegische Facheinheit der Ausländerverwaltung für Landinformationen [Landinfo], Themenbericht Russland: Jehovas Zeugen vom 18. Juni 2021, S. 10, 24; Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Trier vom 27.Januar 2020 und an den VGH München vom 6. April 2020; Amnesty International [AI], Auskunft vom 6.August 2021; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Russia: Jehovah´s Witnesses, April 2021, S. 7, 21; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Russland: Zeugen Jehovas, 2. Dezember 2020; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 10. Juni 2021, Russische Föderation,  S. 67).

Dies deckt sich mit den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen.

Das mit einer Schließung sämtlicher Versammlungsstätten und Einziehung des Besitzes der Religionsgemeinschaft sowie mit schweren strafrechtlichen Sanktionen und sonstigen polizeilichen und administrativen Repressionen verbundene Verbot der Zeugen Jehovas stellt sich in objektiver Hinsicht als schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne der dargelegten obergerichtlichen Rechtsprechung dar. Diese Verfolgungshandlung greift unmittelbar in die Religionsfreiheit ein, weil sie die Betroffenen zum Verzicht auf die Glaubensausübung zwingt. Die Möglichkeit öffentlicher Zusammenkünfte und sonstiger Glaubensmanifestationen ist weitgehend unterbunden worden. Das Betätigungsverbot wurde und wird durch Strafverfolgung und begleitende Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen, Untersuchungshaft sowie administrative Maßnahmen und die davon ausgehen- de Abschreckung zunehmend durchgesetzt, was sich auch in dem erheblichen Vertreibungsdruck widerspiegelt, den es entfaltet hat (VGH München, Urteil vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 – juris Rn. 38).

Gegen eine effektive Strafverfolgung spricht nicht, dass sich die Zahl derjenigen, die strafrechtlich verfolgt wurden, im Verhältnis zur Gesamtzahl der aktiven Glaubensangehörigen noch in überschaubaren Größen bewegt. Dass die strafrechtliche Verfolgung sich in Fällen privater Religionsausübung auf eine (noch) überschaubare Anzahl von Personen beschränkt, dürfte daran liegen, dass sie unentdeckt geblieben ist und dass eine flächendeckende Überwachung einer ca. 170.000 Mitglieder starken Glaubensgemeinschaft und  der Nachweis der begangenen Straftat die Strafverfolgungsbehörden vor Kapazitätsprobleme stellt. Dagegen liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die russischen Behörden das gesetzliche Verbot der Glaubensgemeinschaft nicht oder nur halbherzig umsetzen (VGH München, Urteil vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 – juris Rn. 39 unter Ver- weis auf Landinfo, Themenbericht vom 18. Juni 2021, S. 17, 20 f.).

3.   Das Betätigungsverbot und die zu seiner Durchsetzung angedrohten Sanktionen treffen die Klägerin auch in subjektiver Hinsicht schwer. Die erkennende Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass die Klägerin aktive Zeugin Jehovas ist und ihren Glauben, dessen zentraler Bestandteil die gemeinschaftliche Glaubensausübung mit den Glaubensbrüdern und - schwestern sowie die Werbung für die Religion der Zeugen Jehovas ist, ihre religiöse Identität prägt und für sie unverzichtbar ist. Bereits in der Anhörung vor dem Bundesamt hat die Klägerin glaubensspezifische Fragen detailliert und nachvollziehbar beantwortet,  so dass auch die Beklagte keine Zweifel daran hatte, dass sie Zeugin Jehovas ist. Das Gericht ist auch zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin ihren Glauben in der Russischen Föderation früher aktiv öffentlich ausgeübt hat und sich nach Schließung der Königreichssäle und dem Verbot sämtlicher Aktivitäten heimlich in kleineren Gruppen an verschiedenen Orten getroffen hat, um Versammlungen abzuhalten. So gab die Klägerin schon bei der Anhörung beim Bundesamt an, dass sie das Missionieren nicht als Pflicht, also etwas Erzwungenes, empfinde, sondern, dass sie dies aus eigener Überzeugung praktiziere. Sie wolle mit anderen Leuten über Gott sprechen und ihnen helfen ihn kennenzulernen. Vor der Einstufung der Zeugen Jehovas als extremistisch hätte sie auch an einer Art Schule Seminare zum Predigen besucht. Dort habe sie mit anderen Mitgliedern der Zeugen Jehovas geübt, wie man beispielsweise ein Erstgespräch mit einer Person führt, der man den eigenen Glauben näherbringen möchte. Danach sei es sehr schwierig geworden, sich zusammenzufinden. Die Klägerin hat auch in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass sie sich nach 2017 heimlich mit ihren Brüdern und Schwestern getroffen habe. Diese Treffen hätten bei verschiedenen Mitgliedern, auch bei der Klägerin und ihren Eltern zu Hause, stattgefunden und seien so erfolgt, dass sie für die Polizei unauffällig waren und die Brüder und Schwestern nicht erwischt wurden. In der mündlichen Verhandlung schilderte die Klägerin ebenfalls anschaulich, wie sie sich im Sommer 2019 in Berlin habe taufen lassen und ihren Glauben auch unter den herrschenden Pandemiebedingungen praktiziere. Hier habe sie die Möglichkeit, sich mit anderen Zeugen Jehovas zu treffen und zu missionieren. Wegen der Pandemie würden sie zwar gerade nicht von Haus zu Haus gehen, schrieben aber Briefe, um so die Distanz zu wahren. Sie würden auch online über die Plattform Zoom zusammenkommen. Die Versammlungen könnten nunmehr aber auch wieder vor Ort, in den Königreichssälen, stattfinden. Sie besuche die Königreichssäle in der N_____ Straße in Berlin-Neukölln. Aus dem glaubhaften Vortrag der Klägerin ergibt sich auch zweifelsfrei, dass insbesondere die gemeinschaftliche Glaubensausübung ihre religiöse Identität prägt. Sie schilderte anschaulich, dass sie sich – zusätzlich  zu den Versammlungen in den Königreichssälen, dem gemeinsamen Briefe schreiben   und dem Missionieren von Tür zu Tür – mit einer anderen Glaubensschwester treffe, um gemeinsam die Bibel zu studieren. Der Verzicht auf diese (gemeinschaftliche) Glaubensbetätigung, die für die Klägerin obligatorisch ist, ist ihr nicht zuzumuten.

4.   Die Verfolgung knüpft im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG an die Religion der Klägerin an und geht von einem Akteur, nämlich vom Staat aus (§ 3c Nr. 1 AsylG). Eine inländische Fluchtalternative i.S.v. § 3e AsylG steht der Klägerin nicht zur Verfügung, da die Zeugen Jehovas nach der aktuellen Erkenntnislage auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation verfolgt werden.

II.   Im Anwendungsbereich des Art. 16a GG hat das Bundesverfassungsgericht den asylrechtlichen Schutz auf das religiöse Existenzminimum beschränkt (BVerfG, Beschluss vom 1.Juli 1987 – 2 BvR 478/86, 2 BvR 92 BvR 962/86 – juris Rn. 34; BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 – BVerwG 1 C 9.03 – juris Rn. 12 ff.; Gärditz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand Juli 2021, Art. 16a Rn. 217; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 16a GG Rn. 30). Hiernach erreicht eine religiöse oder religiös motivierte Verfolgung die asylerhebliche Schwelle, wenn die Religionsfreiheit Eingriffen und Beeinträchtigungen von einer die Menschenwürde verletzenden Schwere und Intensität ausgesetzt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987, a.a.O., Rn. 33). Dies ist der Fall, wenn die dem Herkunftsstaat zurechenbaren Maßnahmen auf die physische Vernichtung der Angehörigen einer religiösen Gruppe, vergleichbar schwere Sanktionen (z.B. Austreibung, Vorenthaltung elementarer Lebensgrundlagen) oder die Beraubung der religiösen Identität gerichtet sind, indem den Glaubensangehörigen z.B. unter Androhung von Strafen an  Leib, Leben oder persönlicher Freiheit eine Verleugnung oder Preisgabe tragender Inhalte ihrer Glaubensüberzeugung zugemutet wird oder sie daran gehindert werden, ihren Glauben, so wie sie ihn verstehen, im privaten Bereich und unter sich zu bekennen. Die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa der häusliche Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen Glauben und zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und der Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf, gehören unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde wie nach internationalem Standard zu dem elementaren Bereich, den der Mensch als „religiöses Existenzminimum“ zu seinem Leben- und Bestehekönnen als sittliche Person benötigt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987, a.a.O., Rn. 34 m.w.N.). Eingriffe in diese religiösen Betätigungsformen können nur gerechtfertigt sein, wenn etwa die besondere Art und Weise des Bekenntnisses oder der Glaubensbekundung in erheblich friedenstörender Weise in die Lebenssphäre anderer Bürger hinübergreift oder mit dem Grundbestand des ordre public nicht vereinbar ist (z.B. Witwenverbrennungen oder Kindesopfer). Weitergehende Verbote oder sonst eingreifende Maßnahmen würden die Grenze zur politischen Verfolgung grundsätzlich überschreiten; das gilt jedenfalls dann, wenn sie mit Strafsanktionen für Leib, Leben oder die persönliche Freiheit verbunden sind (BVerfG, a.a.O.). Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit (forum externum), darunter auch die Missionierung, gehören nicht zum religiösen Existenz- minimum (VGH München, Urteil vom 9. November 2021 – 11 B 19.33187 – juris Rn. 29 m.w.N.).

Nach diesen Maßgaben vermitteln die gegen die Glaubensausübung der Zeugen Jehovas gerichteten Maßnahmen der russischen Behörden der auf dem Luftweg eingereisten (vgl. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG) Klägerin auch einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16a Abs. 1 GG. Denn sie zielen auf die Beraubung der religiösen Identität ab, da sie im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die Zeugen Jehovas daran hindern, ihren Glauben nach eigenem Verständnis auch im privaten Bereich und unter sich zu bekennen, insbesondere durch strafrechtliche Verfolgung der Gläubigen wegen privater religiöser Treffen, der Abhaltung häuslicher Gottesdienste, des Redens über den eigenen Glauben sowie des religiösen Bekenntnisses im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich. Wie dargelegt, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin in ihrem Heimatland durch die Art und Weise, wie sie ihren Glauben praktiziert, von derartigen repressiven staatlichen Maßnahmen betroffen sein wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

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