Sozialgericht München Urteil, 13. Okt. 2015 - S 52 SO 98/14

bei uns veröffentlicht am13.10.2015

Gericht

Sozialgericht München

Tenor

I.

Die Bescheide des Beklagten vom 07.11.2012 und vom 14.12.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Regierung von Oberbayern vom 16.01.2014 werden teilweise aufgehoben.

II.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 01.08.2012 bis 31.07.2014 Leistungen der Eingliederungshilfe nach Maßgabe der Hilfebedarfsgruppe V zu gewähren.

III.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe von vollstationären Leistungen der Eingliederungshilfe.

Der im Jahre 1965 geborene Kläger ist schwerstmehrfachbehindert. Er leidet seit seiner Geburt an einer spastischen Lähmung aller Gliedmaßen (Tetraspastik), verbunden mit einer mittelgradigen Intelligenzminderung. Daneben besteht bei ihm eine organische psychische Störung mit Verhaltensstörungen, die (auch) medikamentös behandelt wird; in-soweit wird auf Blatt 60, 117 der medizinischen Akte des Beklagten Bezug genommen.

Der Kläger wird seit 1997 im D.-D.-Haus, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung der Beigeladenen, (voll-) stationär betreut. Er wurde ursprünglich, zuletzt mit Bescheid vom 06.10.2010 (für die Zeit bis zum 31.07.2012), vom Beklagten der Hilfebedarfsgruppe (HBG) V nach dem H.M.B.-W.-Verfahren (Version 2/2000) zugeordnet.

Mit Bescheid vom 07.11.2012 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 01.08.2012 bis zum 31.07.2014 Leistungen der Sozialhilfe als „erweiterte Hilfe“, u. a. Leis-tungen der Eingliederungshilfe nach der HBG IV. Dagegen wandte sich die Mutter des Klägers in dessen Namen mit am 26.11.2012 beim Beklagten eingegangenem Schreiben (siehe Blatt 463 Behördenakte des Beklagten). Mit Bescheid vom 14.12.2012 entschied der Beklagte nochmals ausdrücklich, dass der Kläger ab dem 01.08.2012 (nur noch) An-spruch auf Leistungen nach Maßgabe der HBG IV habe und lehnte eine Zuordnung zur HBG V ab. Auch hiergegen erhob der Kläger mit am 15.01.2013 beim Beklagten eingegangenem Schreiben Widerspruch.

Mit Bescheid vom 16.01.2014 wies die Regierung von Oberbayern den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.12.2012 (v. a. unter Bezugnahme auf die Feststellungen des Sozialpädagogischen Fachdienstes des Beklagten) zurück.

Dagegen richtet sich die am 17.02.2014 beim Sozialgericht München (SG) eingegangene Klage, zu deren Begründung der Kläger umfangreich vorgetragen und seinen Hilfebedarf nach dem H.M.B.-W.-Verfahren mit 166 Punkten beziffert hat; hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 24ff (51) der Behördenakte des Beklagten verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die Bescheide des Beklagten vom 07.11.2012 und vom 14.12.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Regierung von Oberbayern vom 16.01.2014 teilweise aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 01.08.2012 bis 31.07.2014 Leistungen der Eingliederungshilfe nach Maßgabe der Hilfebedarfsgruppe V zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das SG hat den Diplom-Pädagogen Dr. E. zum Sachverständigen ernannt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 02.04.2015 einen Punktwert von 151 nach dem H.M.B.-W.-Verfahren ermittelt; dieser entspreche „einem hohen Hilfebedarf, HBG Stufe 4“. Das Ergebnis der Begutachtung im Einzelnen ist Blatt 104ff der Gerichtsakte zu entnehmen.

Dem Gericht lagen die Behördenakten des Beklagten bei seiner Entscheidung vor.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Zulässigkeit der vom Kläger erhobenen (kombinierten) Anfechtungs- und Leistungsklage gem. §§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) steht insbesondere nicht entgegen, dass die Zuordnung zu einer HBG „an sich“ das sog. „Leistungsverschaffungsverhältnis“ zwischen dem (Träger der) Einrichtung und dem Sozialhilfeträger (also hier: zwischen der Beigeladenen und dem Beklagten) betrifft und nicht das (Grund-) Verhältnis zwischen dem Kläger und dem Beklagten (siehe zum sog. „sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis“ Bundessozialgericht, Urteil vom 28.10.2008, B 8 SO 22/07 R in: juris). Denn mit den angefochtenen Bescheiden vom 07.11.2012 und vom 14.12.2012 hat der Beklagte eine ausdrückliche Entscheidung über die Zuordnung des Klägers zu einer HBG, bezogen auf den dort genannten Leistungszeitraum (01.08.2012 bis 31.07.2014) getroffen. Diese Zuordnung hatte (aus der Perspektive eines verständigen Leistungsempfängers, dem sog. „Empfängerhorizont“) erkennbar die Funktion, Art und Umfang des Hilfebedarfs des Klägers und somit den Umfang der bewilligten Leistungen der Eingliederungshilfe zu konkretisieren und festzulegen. Daran muss sich der Beklagte festhalten lassen, wenn auch nicht zu leugnen ist, dass auf diese Weise eine gewisse Verwischung der Grenzen zwischen den beiden oben genannten Rechtsbeziehungen innerhalb des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses eintreten kann. In Anbetracht der Tatsache, dass die Bestimmung des Leistungsumfangs in Fällen wie dem vorliegenden aufgrund der Vielgestaltigkeit der geleisteten Hilfen generell schwierig ist, erscheint es als zumindest gut vertretbar, in Ermangelung einer besseren Methode „bis auf weiteres“ (auch) auf die Einteilung der HBG nach dem sog. „Metzler-Verfahren“ zurückzugreifen.

Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die Klage auch nicht deshalb unzulässig, weil der Kläger im sog. „Erfüllungsverhältnis“ keiner (zivilrechtlichen) Forderung der Beigeladenen auf eine (höhere) Vergütung (nach Maßgabe der HBG V) ausgesetzt sei. Denn zwischen dem Kläger und der Beigeladenen gilt, mangels einer abweichenden Vereinbarung, nach wie vor der mit Wirkung ab dem 03.01.2011 abgeschlossene Wohn- und Betreuungsvertrag ohne Datum (siehe Blatt 53ff Gerichtsakte), nach dessen § 3 Nr. 3 in Verbindung mit der Anlage 1 (weiterhin) die HBG V maßgeblich ist. Dem Kläger kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, diese Forderung stehe nur „auf dem Papier“. Richtig ist zwar, einerseits, dass der zivilrechtliche Anspruch gegen den Leistungsberechtigten für die Einrichtung zumeist (faktisch) wertlos ist. Der Einrichtung geht es vielmehr um die Kostenübernahme durch den Sozialhilfeträger. Sie ist es, die von der Klage des Leistungsberechtigten gegen den Sozialhilfeträger in wirtschaftlicher Hinsicht profitiert. Im Grunde „kämpft“ der Leistungsberechtigte in Fällen wie dem vorliegenden „für die Einrichtung“, in der er untergebracht ist, aber auch darum, dass diese (finanziell) in die Lage versetzt wird, ihn seinem Hilfebedarf entsprechend zu versorgen. Zu beachten ist aber auch, andererseits, dass § 7 Abs. 2 Satz 3 und § 15 Abs. 2 des in diesen Fällen regelmäßig - so auch hier - geltenden Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG) nicht nur hinsichtlich der von der Einrichtung zu erbringenden Leistungen, sondern auch bezüglich der dafür zu entrichtende Vergütung eine Bindung an den Inhalt der Vereinbarungen nach den §§ 75ff SGB XII vorsehen. Dazu gehören auch die HBG, die einen Berechnungsfaktor für die Höhe der Maßnahmepauschale darstellen. Zieht jedoch der Sozialhilfeträger die HBG dazu heran, um damit den Umfang des Eingliederungshilfebedarfs zu umschreiben, und ficht der Leistungsempfänger diese Entscheidung an, so steht damit - aufgrund der Koppelung des (zivilrechtlichen) Vergütungsanspruchs der Einrichtung (unter anderem) an die HBG - mittelbar auch die Höhe des zivilrechtlichen Anspruchs der Einrichtung gegen den Leistungsempfänger im Streit. Denn diese darf ja gem. § 7 Abs. 2 Satz 3 WBVG nicht von der „aufgrund des Zehnten Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch festgelegte(n) Höhe des Entgelts“ abweichen; vielmehr gilt diese „als vereinbart und an-gemessen“. Entscheidet also der Sozialhilfeträger im Rahmen des sog. „Grundverhältnisses“ durch rechtsbehelfsfähigen Verwaltungsakt über die Leistungshöhe, indem er Leistungen nach Maßgabe einer bestimmten HBG gewährt, so richtet sich (auch) der (endgültige) Entgeltanspruch der Einrichtung gegen den Leistungsempfänger nach der durch be-standskräftigen Bescheid (oder durch rechtskräftiges Urteil) festgestellten „Zuordnung“ zu einer HBG. Auf diese Weise wird durch das WBVG, das ja letztlich ein „Verbraucherschutzgesetz“ ist, seinem Zweck entsprechend sichergestellt, dass der Leistungsanspruch nach dem SGB XII und der (zivilrechtliche) Entgeltanspruch der Einrichtung grundsätzlich nicht voneinander abweichen können.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hatte für den hier maßgeblichen Zeitraum (01.08.2012 bis 31.07.2014) gem. §§ 53 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, 54 Abs. 1, 55 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch in Verbindung mit §§ 55ff Neuntes Buch Sozialgesetzbuch Anspruch auf höhere Leistungen der Eingliederungshilfe, nach Maßgabe der HBG V.

Zwar hat der Sachverständige Dipl.-Päd. E. in seinem Gutachten vom 02.04.2015 festgestellt, dass der Hilfebedarf des Klägers nach dem sog. H.M.B.-W.-Verfahren (Version 2/2000) nach Metzler mit 151 Punkten zu bewerten sei und somit ein „hoher Hilfebedarf“ vorliege, welcher aber (noch) eine Zuordnung zur HBG IV bedinge. Dem kann jedoch nicht in vollem Umfang gefolgt werden.

Das Gericht ist unter Würdigung aller Ermittlungsergebnisse zu der Überzeugung gelangt, dass der (Gesamt-) Hilfebedarf mit mindestens 157 Punkten zu bewerten ist, was der HBG V entspricht, da, abweichend von der Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen, bei dem Item 27 - entsprechend der Einschätzung des Fachdienstes des Beklagten(!) - von einem Punktwert von 6 (anstatt „null“) auszugehen ist. Der Sachverständige hat seine Einschätzung zu diesem Item („emotionale und psychische Entwicklung; Bewältigung paranoider oder affektiver Symptomatik“) damit begründet, dass keine entsprechende psychiatrische Diagnose gestellt worden sei (siehe dazu die Hinweise zum Verständnis des Fragebogens zum „Hilfebedarf“ (H.M.B.-W./Version 2/2000) der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen, Seite 7 = Blatt 43ff, 49 Gerichtsakte). Dabei hat er aber übersehen, dass beim Kläger eine hirnorganische Störung mit mittelgradiger Intelligenzminderung und Verhaltensstörung festgestellt wurde und der Kläger auch regelmäßig eine entsprechende Medikation erhält (siehe Blatt 117 der medizinischen Akte des Beklagten). Da die Einschätzungen des Sachverständigen zu den übrigen Items schlüssig und nach-vollziehbar sind, ist der Klage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz - WBVG | § 7 Leistungspflichten


(1) Der Unternehmer ist verpflichtet, dem Verbraucher den Wohnraum in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und während der vereinbarten Vertragsdauer in diesem Zustand zu erhalten sowie die vertraglich vereinbarten Pfle

Referenzen

(1) Der Unternehmer ist verpflichtet, dem Verbraucher den Wohnraum in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und während der vereinbarten Vertragsdauer in diesem Zustand zu erhalten sowie die vertraglich vereinbarten Pflege- oder Betreuungsleistungen nach dem allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen.

(2) Der Verbraucher hat das vereinbarte Entgelt zu zahlen, soweit dieses insgesamt und nach seinen Bestandteilen im Verhältnis zu den Leistungen angemessen ist. In Verträgen mit Verbrauchern, die Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch in Anspruch nehmen, gilt die aufgrund der Bestimmungen des Siebten und Achten Kapitels des Elften Buches Sozialgesetzbuch festgelegte Höhe des Entgelts als vereinbart und angemessen. In Verträgen mit Verbrauchern, denen Hilfe in Einrichtungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch gewährt wird, gilt die aufgrund des Zehnten Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch festgelegte Höhe des Entgelts als vereinbart und angemessen. In Verträgen mit Verbrauchern, die Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch in Anspruch nehmen, gilt die aufgrund der Bestimmungen des Teils 2 Kapitel 8 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch festgelegte Höhe des Entgelts für diese Leistungen als vereinbart und angemessen.

(3) Der Unternehmer hat das Entgelt sowie die Entgeltbestandteile für die Verbraucher nach einheitlichen Grundsätzen zu bemessen. Eine Differenzierung ist zulässig, soweit eine öffentliche Förderung von betriebsnotwendigen Investitionsaufwendungen nur für einen Teil der Einrichtung erfolgt ist. Sie ist auch insofern zulässig, als Vergütungsvereinbarungen nach dem Zehnten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch über Investitionsbeträge oder gesondert berechenbare Investitionskosten getroffen worden sind.

(4) Werden Leistungen unmittelbar zu Lasten eines Sozialleistungsträgers erbracht, ist der Unternehmer verpflichtet, den Verbraucher unverzüglich schriftlich unter Mitteilung des Kostenanteils hierauf hinzuweisen.

(5) Soweit der Verbraucher länger als drei Tage abwesend ist, muss sich der Unternehmer den Wert der dadurch ersparten Aufwendungen auf seinen Entgeltanspruch anrechnen lassen. Im Vertrag kann eine Pauschalierung des Anrechnungsbetrags vereinbart werden. In Verträgen mit Verbrauchern, die Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch in Anspruch nehmen, ergibt sich die Höhe des Anrechnungsbetrags aus den in § 87a Absatz 1 Satz 7 des Elften Buches Sozialgesetzbuch genannten Vereinbarungen.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.