Oberlandesgericht Nürnberg Beschluss, 14. März 2017 - 5 W 1043/16

bei uns veröffentlicht am14.03.2017
vorgehend
Landgericht Nürnberg-Fürth, 4 OH 6490/15, 07.03.2016

Gericht

Oberlandesgericht Nürnberg

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beweisbeschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 07.03.2016 in der Fassung des Nichtabhilfebeschlusses vom 18.05.2016 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1) Ist es bei der Antragstellerin nach der streitgegenständlichen medizinischen Behandlung anlässlich der Operation am 16.10.2012 und 18.10.2013 zu einer Gesundheitsschädigung gekommen, insbesondere bezüglich der unter Punkt G. II. der Antragsschrift geschilderten Gesundheitsfolgen (v.a. eitrige Stellen, Druckschmerz, schlechtes OP-Ergebnis, Entzündungen, Vernarbungen, Deformationen, Psychische Beeinträchtigungen und Störungen) ?

2) Wurde durch bzw. im Hause der Antragsgegnerin bei der gegenständlichen medizinischen Behandlung bzw. stationären Pflege anlässlich der Operation am 16.10.2012 der Patientin in nicht vertretbarer Weise vom fachärztlichen Standard abgewichen ?

a) es wurde fehlerhaft die falsche Sorte von Fäden verwendet;

b) es wurden zeitnahe Befundungen und Kontrollen unterlassen.

3) Wurden wesentliche medizinische Befunde nicht eingeholt, wurden Befunderhebungsfehler und/oder bestehende medizinische Befunde falsch gedeutet (Diagnosefehler), insbesondere wurde eine zeitnahe mammographische und radiologische Untersuchung unterlassen ?

4) Hätte sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit (>50%) ein so deutlicher und gravierender medizinischer Befund ergeben, dass sich (1) dessen Verkennung als fundamental oder (2) die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde und ist dieser Fehler generell geeignet, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen?

5) Hat die Behandlerseite (Antragsgegnerin) gegen bewährte medizinische Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt des entsprechenden Fachs schlechterdings nicht unterlaufen darf ? Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der grobe Fehler auch aus einer Gesamtwürdigung des medizinischen Managements ergeben kann, wenn einzelne Fehler selbst noch nicht als grob fehlerhaft zu werten sind (sog. grober Behandlungsfehler).

6) Welche allgemeinen Risiken bestehen für den Patienten bei der konkret vorliegenden medizinischen Behandlung ?

7) Wie hoch war das Misserfolgsrisiko bei der konkret vorliegenden medizinischen Behandlung, wie hoch die Erfolgsaussichten ?

8) Beschreibt die schriftliche Aufklärung, wie sie sich dokumentiert bei den medizinischen Behandlungsunterlagen befindet, die konkrete streitgegenständliche Behandlung hinsichtlich (1) ihrer Chancen und Risiken sowie (2) bezüglich echter Behandlungsalternativen aus medizinischer Sicht zutreffend und erschöpfend ?

9) Ist die konkrete medizinische Behandlung (aus objektiver Sicht eines verständigen Patienten) im Ergebnis (ganz oder teilweise) als „unbrauchbar“ einzustufen ?

10) Stellen die unter obiger Beweisfrage mit der Ziffer 1 gefragten Gesundheitsbeeinträchtigungen die kausale Folge eines Verstoßes gegen die Regeln der ärztlichen bzw. medizinischen Kunst dar ?

11) Ist mit einer sicheren Besserung des Zustandes zu rechnen oder ist es auch möglich bzw. denkbar, dass keine Besserung, womöglich auch eine kausale Verschlechterung des Zustandes, eintreten kann ? Im einzelnen:

a) Liegt bei der Antragstellerin eine irreversible Schädigung vor ?

b) Kann die Schädigung durch eine oder mehrere Nachbehandlungsmaßnahmen beseitigt oder gemildert werden ?

c) Wie wahrscheinlich ist es, dass sich durch solche Nachbehandlungen die Schäden beseitigen lassen ?

d) Wie hoch beläuft sich hierfür der erforderliche Geldaufwand für die Antragstellerin ?

II. Mit der Erstattung des Gutachtens wird beauftragt: Dr. I.

Die Festsetzung eines Auslagenvorschusses und der Frist zur Einzahlung des Auslagenvorschusses wird dem Landgericht übertragen.

III. Den Antragsgegnern wird aufgegeben, die vollständige Behandlungs- und Pflegedokumentation und das gesamte Bildmaterial im Original inklusive allen Behandlungsverträgen und -abrechnungen in Kopie zwecks Begutachtung vorzulegen.

IV. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Eine Beschwerdegebühr ist nicht zu erheben.

Gründe

Zum Sachverhalt wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Die zulässige Beschwerde hat überwiegend Erfolg.

Gemäß § 485 Abs. 2 ZPO kann die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragt werden, wenn ein rechtliches Interesse daran besteht, dass der Zustand einer Person oder Sache, die Ursache eines Personenschadens bzw. der Aufwand für die Beseitigung eines Personenschadens festgestellt wird. Ein rechtliches Interesse ist anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Dies gilt auch in Arzthaftungssachen. Anträge auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens können nur abgelehnt werden, wenn sie ein nicht in § 485 Abs. 2 ZPO genanntes Beweisthema betreffen, sie einer schriftlichen Begutachtung durch Sachverständige nicht zugänglich sind, weil etwa Anknüpfungstatsachen fehlen oder wenn ausnahmsweise das rechtliche Interesse an der gewünschten Feststellung fehlt. Im Streitfall sind die genannten Voraussetzungen erfüllt. Die gewünschten Feststellungen sind geeignet, die Entscheidung beider Parteien über die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens zu beeinflussen, sei es, weil die Antragstellerin bei negativem Ergebnis auf die Erhebung der Klage verzichtet, sei es, weil die Antragsgegner ihre Ersatzpflicht einsehen.

Im Hinblick auf das Ziel der Prozessvermeidung erscheinen auch die Fragen nach einer Abweichung vom medizinischen Standard und nach dem Grad der Vorwerfbarkeit vermeintlicher Behandlungsfehler zulässig. Zwar handelt es sich bei der vom Tatrichter vorzunehmenden Bewertung einer medizinischen Behandlung als (grob) fehlerhaft um eine juristische Beurteilung, die aber einer tragfähigen Grundlage in den Ausführungen eines medizinischen Sachverständigen bedarf. Werden die für den geltend gemachten Gesundheitsschaden maßgeblichen Gründe festgestellt, ist nicht auszuschließen, dass auch erkannt wird, ob und in welcher Schwere ein Behandlungsfehler gegeben ist. Diese Feststellung wirkt sich maßgeblich auf den Ausgang eines Haftungsprozesses aus und vermag daher die Entscheidung zur Klageerhebung zu beeinflussen (BGH Beschl vom 29.04.2013, VI ZB 12/13). Dies gilt auch für die Fragen bezüglich der allgemeinen Risiken der streitgegenständlichen medizinischen Behandlung, weil dies Auswirkungen auf die Verpflichtung zur Behandlungsaufklärung haben kann.

Nicht zulässig erscheinen allerdings die Beweisfragen 2 a) und 2 d), weil es sich hierbei um Beweistatsachen handelt, die der Beurteilung durch einen Sachverständigen nicht zugänglich sind. Für die Beweisfrage 6) fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil der einzuhaltende medizinische Standard bzw. dessen Nichteinhaltung schon Gegenstand der Beweisfragen 2) bis 5) sind.

Der Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens steht nicht entgegen, dass dem Sachverständigen wegen fehlender Behandlungsunterlagen - jedenfalls teilweise - die Anknüpfungstatsachen fehlen. Den gegenwärtigen Zustand der Antragstellerin (Beweisfrage 1), die allgemeinen Risiken der unstreitig erfolgten Behandlung (Beweisfragen 7 bis 10) und die Frage nach der Aussicht auf Besserung (Frage 12) dürfte er auch ohne Behandlungsunterlagen beurteilen können.

Soweit die Kenntnis der Behandlungsunterlagen für die Begutachtung erforderlich erscheint, ist gemäß § 142 ZPO deren Vorlage durch die Antragsgegnerin anzuordnen. Die Frage der Anwendbarkeit des § 142 ZPO im selbständigen Beweisverfahren ist umstritten (verneinend unter anderem: Herget in Zöller ZPO, 31. Aufl., Rdnr. 5 vor § 485; Reichold in Thomas Putzo, 36. Aufl., Rdnr. 1 zu § 492; offengelassen: KG NJW 2014, 85; bejahend: OLG Düsseldorf Baurecht 2014, 1182; Huber in Musielak/Voit ZPO, 13. Aufl., Rdnr. 1 zu § 492; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann ZPO, 61. Aufl., Rdnr. 3 zu § 142).

Der Senat hält jedenfalls in Arzthaftungssachen die Anordnung der Vorlage der Behandlungsunterlagen zur Vorbereitung der Begutachtung durch einen medizinischen Sachverständigen für zulässig und geboten. Nur wenn dem Sachverständigen auch die Behandlungsunterlagen zur Verfügung stehen, kann ernsthaft damit gerechnet werden, dass das Ergebnis der Begutachtung die Entscheidung der Parteien über die Durchführung eines Hauptverfahrens beeinflussen kann. Die Behandlungsunterlagen sind notwendiger Bestandteil der zu beurteilenden Behandlung (§ 630 f BGB) und die Antragsgegnerin trifft sogar die zivilrechtliche Pflicht, der Antragstellerin Einsicht in diese Unterlagen zu gewähren (§ 630 g BGB). Die von der Gegenansicht geäußerten Bedenken, der Streit über die Zulässigkeit der Urkundenvorlage dürfe nicht im selbständigen Beweisverfahren ausgetragen werden, greifen deshalb nicht. In Arzthaftungssachen hat das Gericht sein Anordnungsermessen hinsichtlich der Vorlage von Behandlungsunterlagen regelmäßig dahingehend auszuüben, dass die Vorlage angeordnet wird. Im selbständigen Beweisverfahren, das neben der Verfahrensvermeidung auch der Beschleunigung dient, kann nichts anderes gelten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat ein Patient dieses Einsichtsrecht. Es ist ihm daher im Regelfall nicht zuzumuten, mit dem Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens zu warten, bis ihm die Behandlungsunterlagen durch den Arzt oder das Klinikum ausgehändigt werden.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.

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Referenzen - Gesetze

Oberlandesgericht Nürnberg Beschluss, 14. März 2017 - 5 W 1043/16 zitiert 4 §§.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 142 Anordnung der Urkundenvorlegung


(1) Das Gericht kann anordnen, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Das Gericht kann hierfür eine Frist setzen sowie anordnen,

Zivilprozessordnung - ZPO | § 485 Zulässigkeit


(1) Während oder außerhalb eines Streitverfahrens kann auf Antrag einer Partei die Einnahme des Augenscheins, die Vernehmung von Zeugen oder die Begutachtung durch einen Sachverständigen angeordnet werden, wenn der Gegner zustimmt oder zu besorgen is

Referenzen

(1) Während oder außerhalb eines Streitverfahrens kann auf Antrag einer Partei die Einnahme des Augenscheins, die Vernehmung von Zeugen oder die Begutachtung durch einen Sachverständigen angeordnet werden, wenn der Gegner zustimmt oder zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird.

(2) Ist ein Rechtsstreit noch nicht anhängig, kann eine Partei die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen, wenn sie ein rechtliches Interesse daran hat, dass

1.
der Zustand einer Person oder der Zustand oder Wert einer Sache,
2.
die Ursache eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels,
3.
der Aufwand für die Beseitigung eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels
festgestellt wird. Ein rechtliches Interesse ist anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann.

(3) Soweit eine Begutachtung bereits gerichtlich angeordnet worden ist, findet eine neue Begutachtung nur statt, wenn die Voraussetzungen des § 412 erfüllt sind.

(1) Das Gericht kann anordnen, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Das Gericht kann hierfür eine Frist setzen sowie anordnen, dass die vorgelegten Unterlagen während einer von ihm zu bestimmenden Zeit auf der Geschäftsstelle verbleiben.

(2) Dritte sind zur Vorlegung nicht verpflichtet, soweit ihnen diese nicht zumutbar ist oder sie zur Zeugnisverweigerung gemäß den §§ 383 bis 385 berechtigt sind. Die §§ 386 bis 390 gelten entsprechend.

(3) Das Gericht kann anordnen, dass von in fremder Sprache abgefassten Urkunden eine Übersetzung beigebracht wird, die ein Übersetzer angefertigt hat, der für Sprachübertragungen der betreffenden Art in einem Land nach den landesrechtlichen Vorschriften ermächtigt oder öffentlich bestellt wurde oder einem solchen Übersetzer jeweils gleichgestellt ist. Eine solche Übersetzung gilt als richtig und vollständig, wenn dies von dem Übersetzer bescheinigt wird. Die Bescheinigung soll auf die Übersetzung gesetzt werden, Ort und Tag der Übersetzung sowie die Stellung des Übersetzers angeben und von ihm unterschrieben werden. Der Beweis der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Übersetzung ist zulässig. Die Anordnung nach Satz 1 kann nicht gegenüber dem Dritten ergehen.