EUGH T-105/16

ECLI:ECLI:EU:T:2018:51
bei uns veröffentlicht am01.02.2018

Gericht

Europäischer Gerichtshof

URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)

1. Februar 2018 ( *1 )

„Unionsmarke – Nichtigkeitsverfahren – Unionsbildmarke Superior Quality Cigarettes FILTER CIGARETTES Raquel – Ältere internationale Bildmarke Marlboro – Relatives Eintragungshindernis – Bekanntheit – Erstmals vor der Beschwerdekammer vorgelegte Beweismittel – Ermessen der Beschwerdekammer – Art. 76 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 (jetzt Art. 95 Abs. 2 der Verordnung [EU] 2017/1001) – Regel 50 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2868/95“

In der Rechtssache T‑105/16

Philip Morris Brands Sàrl mit Sitz in Neuchâtel (Schweiz), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin L. Alonso Domingo,

Klägerin,

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch A. Folliard-Monguiral und M. Simandlova als Bevollmächtigte,

Beklagter,

andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO und Streithelferin vor dem Gericht:

Explosal Ltd mit Sitz in Larnaca (Zypern), Prozessbevollmächtigte: D. McFarland, Barrister,

betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Ersten Beschwerdekammer des EUIPO vom 4. Januar 2016 (Sache R 2775/2014‑1) zu einem Nichtigkeitsverfahren zwischen Philip Morris und Explosal

erlässt

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen sowie der Richter I. S. Forrester (Berichterstatter) und E. Perillo,

Kanzler: X. Lopez Bancalari, Verwaltungsrätin,

aufgrund der am 17. März 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

aufgrund der am 26. Mai 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung des EUIPO,

aufgrund der am 15. Juni 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung der Streithelferin,

auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2017

folgendes

Urteil

Vorgeschichte des Rechtsstreits

1

Am 1. Juli 2011 meldete die Streithelferin, die Explosal Ltd, nach der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke (ABl. 2009, L 78, S. 1) in geänderter Fassung (ersetzt durch die Verordnung [EU] 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke [ABl. 2017, L 154, S. 1]) beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) eine Unionsmarke an.

2

Dabei handelt es sich um folgendes Bildzeichen:

Image

3

Die Marke wurde für die Waren „Tabakbeutel; Tabak; Rauchtabak; Tabak, Zigarren und Zigaretten; Verarbeiteter Tabak“ in Klasse 34 des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung angemeldet.

4

Am 28. Mai 2013 wurde das oben in Rn. 2 abgebildete Bildzeichen als Unionsmarke eingetragen.

5

Am 15. Januar 2014 stellte die Klägerin, die Philip Morris Brands Sàrl, nach Art. 53 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt Art. 60 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung 2017/1001) in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung (jetzt Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung 2017/1001) und Art. 8 Abs. 5 dieser Verordnung (jetzt Art. 8 Abs. 5 der Verordnung 2017/1001) einen Antrag auf Nichtigerklärung der in Rede stehenden Marke.

6

Der Antrag auf Nichtigerklärung wurde auf 13 ältere Bildmarken gestützt.

7

Mit Entscheidung vom 8. September 2014 wies die Nichtigkeitsabteilung den Antrag auf Nichtigerklärung zurück. Aus Gründen der Verfahrensökonomie hatte sie hauptsächlich die angegriffene Marke und folgende unter der Nr. 1064851 eingetragene ältere internationale Marke (im Folgenden: ältere Marke) verglichen:

Image

8

Die Nichtigkeitsabteilung entschied, wegen der geringen Ähnlichkeit der betreffenden Marken bestehe keine Verwechslungsgefahr im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009. Außerdem habe die Klägerin hinsichtlich Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 keine Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke vorgelegt.

9

Am 29. Oktober 2014 legte die Klägerin gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung Beschwerde ein. Am 10. November 2014 beantragte sie außerdem die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da ihr während des Nichtigkeitsverfahrens keine Gelegenheit gegeben worden sei, Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke vorzulegen.

10

Am 5. Dezember 2014 wies die Nichtigkeitsabteilung den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück, da die Klägerin nicht die gebotene Sorgfalt habe walten lassen, um die Unterlagen zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung fristgerecht einzureichen. Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin keinen Rechtsbehelf ein.

11

Mit Entscheidung vom 4. Januar 2016 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Beschwerdekammer die Beschwerde gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung zurück.

12

Erstens verwarf die Beschwerdekammer das klägerische Vorbringen eines Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009. Die einander gegenüberstehenden Bildzeichen würden durch die Wortbestandteile „Marlboro“ und „raquel“ dominiert; die von der Klägerin als Dachform bezeichnete dunkle geometrische Form im oberen Teil der Zeichen sei eine „Dekoration“ und kein unterscheidungskräftiger Bestandteil. Trotz der Identität der betreffenden Waren seien die fraglichen Bildzeichen demnach unähnlich oder sehr schwach ähnlich und eine Verwechslungsgefahr somit ausgeschlossen.

13

Zweitens wies die Beschwerdekammer die erstmals bei ihr vorgelegten Beweise zu der hohen Unterscheidungskraft zurück, die durch Benutzung der älteren Marke, insbesondere des „dachförmigen“ Grafikbestandteils, erworben worden sei. Dabei berief sie sich auf Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt Art. 95 Abs. 2 der Verordnung 2017/1001), wonach ihr ein weites Ermessen bei der Entscheidung zustehe, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen oder nicht. Gemäß Regel 50 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2868/95 der Kommission vom 13. Dezember 1995 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1995, L 303, S. 1) sei die Prüfung der Beschwerde im Übrigen auf die in erster Instanz vorgebrachten Beweise beschränkt. Demnach sei die Zulässigkeit neuer Beweise davon abhängig gewesen, dass sie ergänzend seien, was sie im vorliegenden Fall nicht gewesen seien.

14

Die Beschwerdekammer untersuchte die Gründe, aus denen der Klägerin zufolge die Beweise nicht bei der Nichtigkeitsabteilung vorgelegt worden seien, insbesondere das Vorbringen der Klägerin, sie habe beabsichtigt, die Beweise nach Erhalt der Stellungnahme der Streithelferin vorzulegen. Da Letztere nicht fristgerecht geantwortet habe, sei der kontradiktorische Teil des Verfahrens beendet worden. Die Beschwerdekammer hielt diese Rechtfertigung aus folgenden Gründen für nicht überzeugend. Erstens sei Regel 37 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 2868/95 dahin auszulegen, dass sie von Nichtigkeitsantragstellern verlange, ihre Argumente und Beweise zum Zeitpunkt des Nichtigkeitsantrags vorzulegen. Zweitens erlaube Regel 40 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2868/95 (jetzt Art. 17 Abs. 2 der Delegierten Verordnung [EU] 2017/1430 der Kommission vom 18. Mai 2017 zur Ergänzung der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 2868/95 und (EG) Nr. 216/96 [ABl. 2017, L 205, S. 1]) der Nichtigkeitsabteilung, auch ohne Stellungnahme der Streithelferin auf der Grundlage der vorliegenden Beweismittel über den Nichtigkeitsantrag zu entscheiden. Da es drittens keine Frist für Nichtigkeitsanträge gebe, hätte die Klägerin genügend Zeit gehabt, um die aus ihrer Sicht für den Antrag erforderlichen Beweise zusammenzustellen.

15

Nach alledem beschloss die Beschwerdekammer, die von der Klägerin erstmals bei ihr vorgelegten Beweise nicht zu berücksichtigen.

16

Drittens verwarf die Beschwerdekammer das klägerische Vorbringen eines Verstoßes gegen Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009, da der Beweis der Bekanntheit der älteren Marke erstmals bei der Beschwerdekammer vorgelegt worden sei und daher nicht habe berücksichtigt werden können. Außerdem würden die Verkehrskreise, selbst wenn diese Bekanntheit bewiesen worden wäre, aufgrund des sehr geringen Ähnlichkeitsgrads der streitigen Marken keine Verknüpfung zwischen diesen herstellen.

Anträge der Parteien

17

Die Klägerin beantragt,

die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

die angegriffene Marke für nichtig zu erklären; hilfsweise, die Sache für eine tiefer gehende Prüfung im Licht der zur Bekanntheit und zur erhöhten Unterscheidungskraft der älteren Marke vorgelegten Beweise an die Beschwerdekammer zurückzuverweisen;

dem EUIPO und der Streithelferin die Kosten aufzuerlegen.

18

Das EUIPO beantragt,

die Klage abzuweisen;

der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

19

Die Streithelferin beantragt,

die Klage abzuweisen;

der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

Rechtliche Würdigung

20

Die Klage beruht auf drei Klagegründen: erstens Verstoß gegen Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009, zweitens Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 und Art. 76 Abs. 1 dieser Verordnung (jetzt Art. 95 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001) und drittens Verstoß gegen Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009.

21

Mit dem ersten Klagegrund rügt die Klägerin im Wesentlichen die Weigerung der Beschwerdekammer, die erstmals bei ihr vorgelegten Beweise für die Bekanntheit und die hohe Unterscheidungskraft der älteren Marke zu berücksichtigen. Dadurch verstoße die angefochtene Entscheidung gegen Art. 76 der Verordnung Nr. 207/2009.

22

Der zweite Klagegrund der Klägerin besteht aus zwei Teilen. Mit dem ersten Teil rügt die Klägerin Fehler der Beschwerdekammer bei der umfassenden Beurteilung der Verwechslungsgefahr zwischen der angegriffenen und der älteren Marke. Mit dem zweiten Teil beanstandet sie, die Beschwerdekammer habe unter Verstoß gegen Art. 76 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 die hohe Unterscheidungskraft der älteren Marke nicht berücksichtigt.

23

Mit dem dritten Klagegrund rügt die Klägerin im Kern, dass die Beschwerdekammer einen Beurteilungsfehler begangen habe, als sie entschieden habe, dass, selbst wenn der Beweis für die Bekanntheit der älteren Marke berücksichtigt worden wäre, der Ähnlichkeitsgrad zwischen den einander gegenüberstehenden Zeichen so schwach gewesen wäre, dass die Verbraucher keine Verknüpfung zwischen den Zeichen herstellen würden.

24

Für die Zwecke des vorliegenden Urteils prüft das Gericht zunächst den ersten Klagegrund und den zweiten Teil des zweiten Klagegrundes zusammen, da beide die Auslegung von Art. 76 der Verordnung Nr. 207/2009 betreffen.

25

Die Klägerin wirft dem EUIPO eine fehlerhafte Anwendung von Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 in Verbindung mit Regel 50 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2868/95 vor, da die Beschwerdekammer die Beweise für die Bekanntheit und die hohe Unterscheidungskraft der älteren Marke aus dem Grund zurückgewiesen habe, dass diese erstmals bei ihr vorgelegt worden seien.

26

Die Klägerin macht unter Berufung auf die englischsprachige Fassung der Verordnung Nr. 2868/95 geltend, Regel 50 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2868/95, die die Worte „zusätzliche“ und „ergänzende“ enthalte, stehe der Berücksichtigung neuer Beweise nicht entgegen, weswegen die Beschwerdekammer neue Tatsachen und Beweismittel – also solche, die erstmals bei ihr vorgelegt wurden – hätte berücksichtigen können. Die neuen, von der Klägerin bei der Beschwerdekammer vorgelegten Beweise seien offensichtlich relevant gewesen, und die andere Partei des Verfahrens – die Streithelferin – habe sie ohne Weiteres beanstanden können; auch gebe es einen deutlichen Widerspruch zwischen der angefochtenen Entscheidung und einer einige Monate vor der angefochtenen Entscheidung ergangenen älteren Entscheidung der Beschwerdekammer, in der es um die ältere Marke und ihren dachförmigen Grafikbestandteil gegangen sei.

27

Ohne in Frage zu stellen, dass es im Ermessen der Beschwerdekammer steht, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweise zu berücksichtigen, ist die Klägerin der Ansicht, dass dieses Ermessen nicht willkürlich ausgeübt werden könne, wenn solche neuen Gesichtspunkte für den Ausgang des Verfahrens eindeutig relevant sein könnten. Die Klägerin beruft sich hierzu auf das Urteil vom 13. März 2007, HABM/Kaul (C‑29/05 P, EU:C:2007:162), um ihren Standpunkt zu untermauern, dass es dem EUIPO nicht versagt sei, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweise zu berücksichtigen. Vielmehr sprächen die Rechtssicherheit und die ordnungsgemäße Verwaltung für deren Berücksichtigung.

28

Außerdem führt die Klägerin eine ältere Entscheidung der ersten Beschwerdekammer des EUIPO vom 27. Februar 2015 in der Sache R 1585/2013‑1 – eine Auseinandersetzung der Klägerin mit dem Inhaber der Unionsbildmarke SUPER ROLL (im Folgenden: Entscheidung „SUPER ROLL“) – an, in der festgestellt worden sei, die Marke Marlboro und ihr dachförmiger Grafikbestandteil hätten in der gesamten Europäischen Union bei den maßgeblichen Verkehrskreisen eine „große Bekanntheit“ erlangt.

29

Die Klägerin habe im Verfahren vor der Beschwerdekammer, zusammen mit den Beweisen für die Bekanntheit der älteren Marke, eine Abschrift der Entscheidung „SUPER ROLL“ vorgelegt. Die Beschwerdekammer habe sowohl die Beweise als auch den Inhalt der Entscheidung „SUPER ROLL“ zurückgewiesen, da sie, im Widerspruch zu dieser Entscheidung, der Ansicht gewesen sei, die dunkle geometrische Form werde als bloße „Dekoration“ wahrgenommen und von den Verbrauchern nicht im Gedächtnis behalten.

30

Daraus folge, dass die Beschwerdekammer gegen Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 verstoßen habe, da sie „allgemein bekannte Tatsachen“ – die Bekanntheit und die hohe Unterscheidungskraft des „dachförmigen“ Grafikbestandteils und des Produktdesigns der älteren Marke – nicht berücksichtigt habe. Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 könnten nicht dahin ausgelegt werden, dass das EUIPO verpflichtet sei, Entscheidungen auf der Grundlage offensichtlich unvollständiger oder „nicht der Wirklichkeit entsprechender“ Tatsachenannahmen zu erlassen, erst recht nicht, wenn sie älteren, im selben Kontext erlassenen Entscheidungen widersprächen.

31

Das EUIPO ist der Ansicht, Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 räume ihm ein Ermessen ein, um unter entsprechender Begründung seiner Entscheidung darüber zu befinden, ob es außerhalb der gesetzten Fristen vorgebrachte Informationen berücksichtigt oder nicht (Urteil vom 13. März 2007, HABM/Kaul, C‑29/05 P, EU:C:2007:162, Rn. 43). Die von der Klägerin erstmals bei der Beschwerdekammer vorgelegten Beweise seien jedoch keine zusätzlichen, sondern völlig neue Beweise gewesen, weshalb sie, weil außerhalb der ursprünglich gesetzten Frist vorgelegt, im Licht ständiger Rechtsprechung unzulässig seien (Urteile vom 26. September 2013, Centrotherm Systemtechnik/HABM, C‑610/11 P, EU:C:2013:593, Rn. 86 bis 88 und 117, und vom 21. November 2013, Recaro/HABM – Certino Mode [RECARO], T‑524/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:604, Rn. 62 bis 66).

32

Die Beschwerdekammer habe jedoch untersucht, ob besondere Umstände es rechtfertigten, die von der Klägerin verspätet vorgelegten Beweise zu berücksichtigen. Sie sei zu dem Ergebnis gekommen, dass dem nicht so sei, insbesondere weil es keine Frist für einen Nichtigkeitsantrag gegeben habe und die Klägerin es vorliegend bewusst unterlassen habe, die Beweise während des erstinstanzlichen Verfahrens vorzulegen.

33

Angesichts der Grundsätze der Waffengleichheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung sowie des Erfordernisses, den ordnungsgemäßen Ablauf und die Effizienz der Verfahren zu gewährleisten, habe die Beschwerdekammer richtig daran getan, nicht eine Partei gegenüber der anderen ungerechtfertigt zu begünstigen. Dass die Klägerin „blauäugig“ davon ausgegangen sei, die Beweise später noch vorlegen zu können, sei nicht als legitimer Grund, sondern vielmehr als fahrlässiges Verhalten zu werten.

34

Zur angeblich weltweiten Bekanntheit des „dachförmigen“ Bildbestandteils der älteren Marke über einen bloßen dekorativen Bestandteil hinaus habe die Klägerin keinen Beweis dafür vorgelegt, dass dieser Bestandteil als Herkunftshinweis erkannt würde. Es handele sich um eine rudimentäre geometrische Form, ein Fünfeck, bei dem drei der fünf Seiten von der Zigarettenschachtel gezeichnet würden. Nichts weise darauf hin, dass die Verbraucher diesem einfachen Bildbestandteil und nicht dem unterscheidungskräftigen Wortbestandteil „Marlboro“ mehr Beachtung schenken würden.

35

Was den Verweis der Klägerin auf die Entscheidung „SUPER ROLL“ angehe, in der die hohe Unterscheidungskraft der älteren Marke festgestellt worden sei, sei diese für die Beschwerdekammer nicht bindend, da diese Feststellung nur auf das jeweilige Verfahren beschränkt sei (Urteil vom 23. Oktober 2015, Calida/HABM – Quanzhou Green Garments [dadida], T‑597/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:804, Rn. 42 bis 48). Anderenfalls würden die Verteidigungsrechte der anderen Partei des Nichtigkeitsverfahrens verletzt und der Grundsatz der Rechtskraft zu Unrecht auf eine Verwaltungsentscheidung ausgedehnt.

36

Die Streithelferin beantragt, die Klage abzuweisen und beruft sich im Wesentlichen darauf, dass die Klagegründe und die von der Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung angeblich begangenen Rechtsfehler in der Klageschrift nicht genau benannt seien; diese beschränke sich auf Ausdrücke der Enttäuschung und des Unmuts und auf allgemeine Ermahnungen. Die angefochtene Entscheidung sei „solide“ und beruhe keinesfalls auf Rechts- oder Tatsachenfehlern. Die analytische Beurteilung der fraglichen Marken durch die Beschwerdekammer sei richtig, gut begründet und erfülle die Anforderungen von Art. 8 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009.

37

Eingangs gilt festzuhalten, dass nach Regel 50 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2868/95, die analog auf Nichtigkeitsverfahren anwendbar ist, die Beschwerdekammer die Prüfung der Beschwerde auf die bei der Widerspruchsabteilung vorgebrachten Tatsachen und Beweise beschränkt, sofern sie nicht der Ansicht ist, dass gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 zusätzliche oder ergänzende Sachverhalte und Beweismittel zu berücksichtigen sind. Nach dieser Bestimmung kann das EUIPO von den Parteien verspätet vorgebrachte Tatsachen oder Beweismittel unberücksichtigt lassen.

38

Die Verordnung Nr. 207/2009 sieht demnach ausdrücklich vor, dass die Beschwerdekammer bei der Prüfung einer Beschwerde gegen die Entscheidung einer Nichtigkeitsabteilung über das sich aus Regel 50 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2868/95 und Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 ergebende Ermessen verfügt, um zu entscheiden, ob die zusätzlichen oder ergänzenden Tatsachen und Beweise, die nicht innerhalb der von der Nichtigkeitsabteilung festgesetzten Frist vorgelegt wurden, zu berücksichtigen sind oder nicht (vgl. Urteile vom 3. Oktober 2013, Rintisch/HABM, C‑122/12 P, EU:C:2013:628, Rn. 33, und vom 24. Oktober 2014, Grau Ferrer/HABM – Rubio Ferrer [Bugui va], T‑543/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:911, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Insoweit hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass sich die französische Fassung von Regel 50 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2868/95 von der spanischen, der deutschen und der englischen Fassung in einem wesentlichen Punkt unterscheidet. Während nämlich nach den zuletzt genannten Fassungen die Beschwerdekammer nur „zusätzliche oder ergänzende“ Sachverhalte und Beweismittel berücksichtigen kann, werden diese in der französischen Fassung als „nouveaux ou supplémentaires“ („neue oder zusätzliche“) bezeichnet.

40

Ausgehend von der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung, zu der Regel 50 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2868/95 gehört, und insbesondere derer Rechtsgrundlage – Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 –, hat der Gerichtshof hinsichtlich des Nachweises der Benutzung einer Marke entschieden, dass das EUIPO, wenn innerhalb der von diesem festgesetzten Frist kein solcher Nachweis vorgelegt wird, den Widerspruch von Amts wegen zurückweisen muss. Wenn hingegen Beweismittel innerhalb der vom EUIPO gesetzten Frist vorgelegt worden sind, ist die Vorlage zusätzlicher Beweise weiterhin möglich (vgl. Urteil vom 21. Juli 2016, EUIPO/Grau Ferrer, C‑597/14 P, EU:C:2016:579, Rn. 24 bis 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Dieselbe Auslegung von Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 muss gelten, wenn es um den Nachweis der Existenz, der Gültigkeit und des Schutzumfangs der Marke geht, weil diese Vorschrift eine Regel enthält, die im System dieser Verordnung eine übergreifende Rolle spielt, da sie unabhängig von der Art des betreffenden Verfahrens anwendbar ist. Hieraus folgt, dass Regel 50 der Verordnung Nr. 2868/95 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sie das Ermessen der Beschwerdekammer auf neue Beweismittel erstreckt (Urteil vom 21. Juli 2016, EUIPO/Grau Ferrer, C‑597/14 P, EU:C:2016:579, Rn. 27), sondern nur auf sogenannte „ergänzende“ oder „zusätzliche“ Beweismittel, die zu den fristgerecht vorgelegten relevanten Beweismitteln hinzukommen (vgl. Urteil vom 11. Dezember 2014, CEDC International/HABM – Underberg [Form eines Grashalms in einer Flasche], T‑235/12, EU:T:2014:1058, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Es ist demnach zu ermitteln, ob es sich bei den erstmals bei der Beschwerdekammer vorgelegten Beweisen um „ergänzende“ oder „zusätzliche“ Beweismittel im Sinne der Regel 50 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2868/95 handelte.

43

Fest steht, dass die Klägerin kein Beweismittel für die Bekanntheit der älteren Marke gemäß Regel 37 Buchst. b Ziff. iv der Verordnung Nr. 2868/95, also zum Zeitpunkt der Stellung des Nichtigkeitsantrags, und überdies auch zu keinem anderen Zeitpunkt während des Verfahrens vor der Nichtigkeitsabteilung vorgelegt hat, obwohl sie in einem dem Nichtigkeitsantrag beigelegten Schreiben vom 15. Januar 2014 angekündigt hatte, sie werde den Beweis für die Bekanntheit der älteren Marke mit den entsprechenden Argumenten „zum gegebenen Zeitpunkt“ vorlegen.

44

Es ist unbestritten, dass diese Ankündigung bis zum Abschluss des Verfahrens durch die Nichtigkeitsabteilung mehr als sechs Monate später, am 21. Juli 2014, nicht in die Tat umgesetzt wurde.

45

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, es sei Sache der Nichtigkeitsabteilung gewesen, sie dazu aufzufordern, ihre Unterlagen zu vervollständigen, insbesondere die Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke beizubringen. Der Gesetzgeber hat indes eine grundlegende Unterscheidung getroffen zwischen den Voraussetzungen, denen der Nichtigkeitsantrag genügen muss, damit er zulässig ist, und den Anforderungen an Vorlage der den Antrag stützenden Tatsachen, Beweismittel, Erklärungen und Unterlagen, die zur sachlichen Prüfung des Antrags gehören. Die Pflicht der Nichtigkeitsabteilung, der betroffenen Partei zu ermöglichen, Mängel in ihrem Nichtigkeitsantrag zu beseitigen, wenn diese ansonsten zur Unzulässigkeit des Antrags führen würden, betrifft nur die vom Gesetzgeber in Regel 38 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2868/95 (jetzt Art. 146 Abs. 7 der Verordnung 2017/1001) und in Regel 39 Abs. 3 dieser Verordnung (jetzt Art. 15 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2017/1430) vorgesehenen Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Nichtigkeitsantrags; eine entsprechende Pflicht besteht nicht in Bezug auf die Voraussetzungen für die Begründetheit des Nichtigkeitsantrags (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Juni 2002, Chef Revival USA/HABM – Massagué Marín [Chef], T‑232/00, EU:T:2002:157, Rn. 54, und in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 17. Juni 2008, El Corte Inglés/HABM – Abril Sánchez und Ricote Saugar [BoomerangTV], T‑420/03, EU:T:2008:203, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Entgegen dem Argument der Klägerin war die Nichtigkeitsabteilung durch keine Bestimmung der Verordnung Nr. 2868/95 verpflichtet, sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass ihr Nichtigkeitsantrag nicht durch Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke untermauert war.

47

Da das Vorbringen im Begleitschreiben zum Nichtigkeitsantrag vom 15. Januar 2014, die ältere Marke sei bekannt, nur eine nicht durch konkrete Beweise untermauerte Behauptung war, können die bei der Beschwerdekammer vorgebrachten Beweise unter diesen Umständen nicht als „ergänzende“ oder „zusätzliche“ Beweise gewertet werden, die zu von der Klägerin bereits vorgelegten Beweisen hinzukommen.

48

Unter diesen Voraussetzungen durfte die Beschwerdekammer sie nach Regel 50 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2868/95 und Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 an sich nicht berücksichtigen.

49

Jedoch ist noch das Argument der Klägerin zu prüfen, wonach im Kern eine Nichtberücksichtigung der Entscheidung „SUPER ROLL“ gegen Erwägungen der ordnungsgemäßen Verwaltung verstieße.

50

Aus der Akte geht hervor, dass es in der Entscheidung „SUPER ROLL“ um das von der Klägerin auf der Grundlage ihrer Unionsmarke Nr. 4179801 eingeleitete Widerspruchsverfahren gegen die Eintragung der Unionsbildmarke SUPER ROLL ging.

51

Den Tatsachenfeststellungen der Beschwerdekammer in der Entscheidung „SUPER ROLL“ zufolge „ist Marlboro wohlbekannt und ihre geläufige Verpackung mit dem dreieckigen Bestandteil besitzt eine starke Unterscheidungskraft“; weiterhin „haben die Marke Marlboro und der dachförmige Grafikbestandteil selbst (der Teil der Marlboro-Marke ist) in ganz Europa bei den maßgeblichen Verkehrskreisen eine große Bekanntheit erworben“.

52

Als die Klägerin sich vor der Beschwerdekammer auf die Relevanz der Entscheidung „SUPER ROLL“ berief, wurde ihr Argument in Rn. 51 der angefochtenen Entscheidung mit der Begründung zurückgewiesen, die ältere Entscheidung betreffe eine andere Situation und eine andere jüngere Unionsmarke und die Beweise für die Bekanntheit der älteren Marken seien der Widerspruchsabteilung vollständig vorgelegt worden.

53

Entgegen dieser Bewertung macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, das Vorhandensein der Entscheidung „SUPER ROLL“ hätte ausreichen müssen, damit die Beschwerdekammer die Bekanntheit der älteren Marke als eine „allgemein bekannte Tatsachen“ anerkenne und keine Entscheidung erlasse, die ihren im selben Kontext bereits getroffenen Feststellungen widerspreche.

54

Dieses Argument ist abzulehnen, da die Klägerin im Kern eine automatische Anerkennung der Bekanntheit der älteren Marke allein auf Grundlage der früheren Entscheidungspraxis des EUIPO erreichen will.

55

Nach ständiger Rechtsprechung sind die nach der Verordnung Nr. 207/2009 zu treffenden Entscheidungen der Beschwerdekammern nämlich gebundene Entscheidungen und keine Ermessensentscheidungen. Die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidungen ist daher allein auf der Grundlage dieser Verordnung in ihrer Auslegung durch den Unionsrichter und nicht auf der Grundlage einer vorherigen Entscheidungspraxis zu beurteilen (vgl. Beschluss vom 14. April 2016, KS Sports/EUIPO, C‑480/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:266, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass die Anerkennung einer möglichen Bekanntheit der älteren Marke durch die Beschwerdekammer nicht von der Anerkennung dieser Bekanntheit im Rahmen eines anderen Verfahrens abhängt, in dem es um andere rechtliche und tatsächliche Gegebenheiten ging (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Oktober 2015, dadida, T‑597/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:804, Rn. 43).

56

Es obliegt somit der Partei, die sich auf die Bekanntheit ihrer älteren Marke beruft, in dem durch jedes Verfahren, in dem sie Partei ist, festgelegten Rahmen auf der Grundlage der von ihr als geeignet angesehenen Tatsachen nachzuweisen, dass die Marke diese Bekanntheit erlangt hat. Diesen Beweis kann sie nicht einfach durch Hinweis auf die im Rahmen eines anderen Verwaltungsverfahrens erfolgte Anerkennung dieser Bekanntheit erbringen, auch dann nicht, wenn es sich um dieselbe Marke handelt (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Oktober 2015, dadida, T‑597/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:804, Rn. 45).

57

Wenn sich die Klägerin lediglich auf eine frühere Entscheidung der Beschwerdekammer zu berufen brauchte, um die Bekanntheit der älteren Marke nachzuweisen, würde dies zum einen die Verteidigungsrechte der Streithelferin verletzen – die nicht in der Lage wäre, die Tatsachen, auf die sich die Beschwerdekammer gestützt hat, zu prüfen, zu bewerten und zu bestreiten – und zum anderen den Grundsatz der res iudicata unzulässig auf eine Verwaltungsentscheidung ausdehnen, die andere Parteien betraf als die des aktuellen Verfahrens, und damit unter offensichtlichem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit die Rechtmäßigkeitsprüfung einer Verwaltungsentscheidung durch ein Gericht verhindern (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Oktober 2015, dadida, T‑597/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:804, Rn. 46).

58

Daraus folgt, dass entgegen dem klägerischen Vorbringen das EUIPO nicht automatisch die Bekanntheit der älteren Marke allein auf der Grundlage von Feststellungen anerkennen musste, die im Rahmen eines anderen Verfahrens, das zu einer anderen Entscheidung – hier der Entscheidung „SUPER ROLL“ – führte, getroffen wurden.

59

Die Rüge der Klägerin, die Bekanntheit der älteren Marke hätte gemäß Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 von Amts wegen anerkannt werden müssen, ist ebenfalls zurückzuweisen. Aus dieser Vorschrift folgt nämlich, dass die Verpflichtung des EUIPO, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, auf die relevanten Tatsachen beschränkt ist, die im Eintragungsverfahren dieser Marke bei der Prüfung der Unionsmarkenanmeldung durch die Prüfer und, auf Beschwerde, durch die Beschwerdekammern, zur Feststellung eines absoluten Eintragungshindernisses führen könnte. Im Rahmen eines Verfahrens wie dem hier vorliegenden obliegt es hingegen dem Inhaber der älteren Marke, die Existenz, die Gültigkeit und den Schutzumfang dieser Marke zu beweisen (vgl. zum Widerspruchsverfahren Urteil vom 28. September 2016, Pinto Eliseu Baptista Lopes Canhoto/EUIPO – University College London [CITRUS SATURDAY], T‑400/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:569, Rn. 38).

60

Aus alledem folgt, dass der Nachweis der Bekanntheit einer älteren Marke nicht auf der Grundlage von Vermutungen erbracht werden kann, sondern auf konkreten und objektiven Gesichtspunkten beruhen muss.

61

Die von der Klägerin erstmals bei der Beschwerdekammer vorgelegten Beweismittel hatten aber genau dies zum Ziel. Der Klägerin zufolge sprechen Erwägungen der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Verwaltung dafür, die verspätet vorgelegten Beweise zuzulassen.

62

Das EUIPO ist verpflichtet, seine Befugnisse im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, wie dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung, auszuüben (Urteil vom 10. März 2011, Agencja Wydawnicza Technopol/HABM, C‑51/10 P, EU:C:2011:139, Rn. 73). Nach Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beinhaltet das Recht auf eine gute Verwaltung das Recht jeder Person, dass ihre Angelegenheiten gerecht behandelt werden.

63

Dabei liegt es offensichtlich im Interesse einer geordneten Rechtspflege, dass die Beschwerdekammer die bei ihr anhängig gemachten Verfahren in Kenntnis aller Umstände entscheidet. Darum hat sie die für die Ermessensausübung erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte sorgfältig und unparteiisch zu prüfen.

64

Vorliegend steht fest, dass der Inhalt der – nur elf Monate vor der angefochtenen Entscheidung erlassenen – Entscheidung „SUPER ROLL“ der Beschwerdekammer zur Kenntnis gebracht worden war und diese also über die in dieser Entscheidung gemachten Feststellungen zur „großen Bekanntheit“ der Marke Marlboro sowie zu deren „dachförmigem Grafikbestandteil“, einem festen Bestandteil der hier in Frage stehenden älteren Marke, unterrichtet war.

65

Angesichts der Rechtsprechung, wonach das EUIPO bereits ergangene Entscheidungen zu berücksichtigen und besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten hat, ob im gleichen Sinne zu entscheiden ist oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2011, Agencja Wydawnicza Technopol/HABM, C‑51/10 P, EU:C:2011:139, Rn. 74), war die Entscheidung „SUPER ROLL“ offensichtlich ein Indiz dafür, dass die ältere Marke im Sinne von Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 bekannt sein könnte.

66

Unter diesen Umständen hätten die von der Klägerin bei der Beschwerdekammer vorgelegten Beweismittel für den Ausgang des Verfahrens eindeutig relevant sein können, da mit ihnen die Bekanntheit der älteren Marke im Sinne von Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 nachgewiesen werden sollte. Als sie den Beweis als verspätet zurückwies, hat die Beschwerdekammer demnach einen bei der Anwendung dieser Vorschrift möglicherweise relevanten Gesichtspunkt außer Acht gelassen.

67

Unbeschadet der oben in den Rn. 40 bis 42 dargestellten Auslegung von Regel 50 der Verordnung Nr. 2868/95 und von Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 und des oben in Rn. 50 gefundenen Ergebnisses befreit das weite Ermessen, das das EUIPO bei der Ausübung seiner Tätigkeit genießt, dieses nicht von der Verpflichtung, alle für die Ermessensausübung erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zusammenzutragen, wenn die Zurückweisung verspätet vorgebrachter Faktoren dazu führen würde, dass das EUIPO gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstößt.

68

Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles hätte die Beschwerdekammer im Einklang mit ihrer Pflicht zu ordnungsgemäßer Verwaltung die erstmals bei ihr vorgelegten Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke zulassen müssen, und sei es auch nur, um sie dann zurückzuweisen.

69

Dieses Ergebnis kann nicht durch das Argument des EUIPO in Frage gestellt werden, dass eine Zulassung der fraglichen Beweise durch die Beschwerdekammer einen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit bedeutet hätte.

70

Nach Art. 75 Satz 2 der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt Art. 94 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung 2017/1001) dürfen die Entscheidungen des EUIPO nur auf Gründe gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Diese Bestimmung bezieht sich auf die tatsächlichen und die rechtlichen Gründe und auf die Beweise (Urteil vom 4. Oktober 2006, Freixenet/HABM [Form einer mattweißen Flasche], T‑190/04, nicht veröffentlicht, EU:T:2006:291, Rn. 28).

71

Vorliegend geht aus der Akte hervor, dass die im Verfahren vor der Beschwerdekammer vorgelegten Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke und die Stellungnahme der Streithelferin zu diesen Beweisen streitig verhandelt wurden. Aus der Akte geht insbesondere hervor, dass das von der Klägerin bei der Beschwerdekammer eingereichte, die Antragsgründe erläuternde Schreiben vom 8. Januar 2015, das die Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke enthielt, in der Tat auch der Streithelferin zugeleitet worden war. Damit waren deren Verfahrensrechte gewahrt und ihr wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich dazu zu äußern. Aus der Akte geht ebenfalls hervor, dass die Streithelferin sogar eine Fristverlängerung erhalten und ihre Stellungnahme am 14. Mai 2015 eingereicht hatte. Darin ging die Streithelferin dann auch auf die von der Klägerin zum Nachweis der Bekanntheit der älteren Marke vorgelegten Beweise ein; sie bestritt ihre Relevanz und bewertete sie als unzureichend.

72

Damit steht fest, dass die Streithelferin über jede Möglichkeit und über die erforderliche Zeit verfügte, um ihren Standpunkt darzulegen und die von der Klägerin vorgelegten Beweise zu prüfen, zu bewerten und zu bestreiten. Hätte die Beschwerdekammer ihr Ermessen im Einklang mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung ausgeübt und angesichts der besonderen Umstände des Falles die Beweise berücksichtigt, hätte sie damit folglich keinesfalls gegen den Grundsatz der Waffengleichheit verstoßen.

73

Das oben in Rn. 67 gefundene Ergebnis wird auch nicht durch den in Rn. 50 der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Standpunkt der Beschwerdekammer entkräftet, wonach selbst für den Fall, dass die Bekanntheit der älteren Marke bewiesen worden wäre, der Ähnlichkeitsgrad zwischen den einander gegenüberstehenden Marken für die Zwecke der Anwendung von Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 zu schwach gewesen wäre, als dass die Verkehrskreise zwischen diesen Marken eine Verknüpfung herstellen würden.

74

Wie die Klägerin im dritten Klagegrund hervorgehoben hat, steht dieser Standpunkt im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung, wonach das Vorliegen einer Verknüpfung zwischen der älteren Marke und der angegriffenen Marke im Sinne von Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des konkreten Falles umfassend zu beurteilen ist, darunter insbesondere der Grad der Ähnlichkeit der einander gegenüberstehenden Marken und der Waren dieser Marken sowie das Ausmaß der Bekanntheit und der Grad der Unterscheidungskraft der älteren Marke (Urteil vom 24. März 2011, Ferrero/HABM, C‑552/09 P, EU:C:2011:177, Rn. 64).

75

Im Übrigen verlangt Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 lediglich, dass die bestehende Ähnlichkeit die betreffenden Verkehrskreise dazu veranlassen kann, einen Zusammenhang zwischen den einander gegenüberstehenden Zeichen zu sehen, d. h., sie gedanklich miteinander zu verknüpfen, und nicht dazu, sie zu verwechseln. Der von dieser Bestimmung vorgesehene Schutz bekannter Marken kann demnach auch dann zur Anwendung kommen, wenn die einander gegenüberstehenden Zeichen nur gering ähnlich sind (Urteil vom 10. Dezember 2015, El Corte Inglés/HABM, C‑603/14 P, EU:C:2015:807, Rn. 42).

76

Selbst wenn die einander gegenüberstehenden Marken nur gering ähnlich wären, könnte daraus entgegen den Feststellungen der Beschwerdekammer somit nicht gefolgert werden, dass Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 zwangsläufig nicht anwendbar ist. Demnach hätte sich hinsichtlich der Anwendung von Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 eine mögliche Zulassung und Prüfung der von der Klägerin erstmals bei der Beschwerdekammer vorgelegten Beweise auf den Ausgang des Verfahrens auswirken können.

77

Nach alledem ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer durch ihre Entscheidung, dass die von der Klägerin erstmals bei ihr vorgelegten Beweismittel wegen Verspätung nicht zu berücksichtigen gewesen seien, einen Verfahrensfehler begangen und gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen hat.

78

Allerdings zieht ein Verfahrensfehler die vollständige oder teilweise Aufhebung einer Entscheidung nur dann nach sich, wenn die angefochtene Entscheidung ohne ihn nachweislich einen anderen Inhalt hätte haben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2005, Wilfer/HABM [ROCKBASS], T‑315/03, EU:T:2005:211, Rn. 33).

79

Wie oben in den Rn. 65 und 66 bereits ausgeführt, ist vorliegend nicht auszuschließen, dass die von der Beschwerdekammer zu Unrecht zurückgewiesenen Beweise zu einem anderen Inhalt der angefochtenen Entscheidung hätten führen können, insbesondere was die Anwendung von Art. 8 Abs. 5 der Verordnung Nr. 207/2009 angeht. Da die Beschwerdekammer diese Beweise nicht geprüft hat, ist diese Entscheidung folglich aufzuheben. Dem ersten Klagegrund und dem zweiten Teil des zweiten Klagegrundes ist somit stattzugeben und die angefochtene Entscheidung aufzuheben, ohne dass die anderen Klagegründe geprüft zu werden brauchen.

80

Mit ihrem zweiten Antrag begehrt die Klägerin die Nichtigerklärung der angegriffenen Marke oder, hilfsweise, die Zurückverweisung der Sache an die Beschwerdekammer für eine tiefer gehende Prüfung. Die dem Gericht gemäß Art. 65 Abs. 3 der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt Art. 72 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001) zustehende Abänderungsbefugnis ermächtigt es jedoch nicht dazu, seine eigene Beurteilung an die Stelle der von einer Beschwerdekammer des EUIPO vorgenommenen Beurteilung zu setzen oder eine Frage zu beurteilen, zu der die Beschwerdekammer noch nicht Stellung genommen hat. Die Ausübung der Abänderungsbefugnis beschränkt sich folglich grundsätzlich auf Situationen, in denen das Gericht nach Überprüfung der von der Beschwerdekammer vorgenommenen Beurteilung auf der Grundlage der erwiesenen tatsächlichen und rechtlichen Umstände die Entscheidung zu finden vermag, die die Beschwerdekammer hätte erlassen müssen (vgl. Urteil vom 5. Juli 2011, Edwin/HABM, C‑263/09 P, EU:C:2011:452, Rn. 71 und 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

81

Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Da die angefochtene Entscheidung deshalb aufgehoben wird, weil die Beschwerdekammer zu Unrecht die Beweise für die Bekanntheit der älteren Marke unberücksichtigt gelassen hat und die Beschwerdekammer somit über deren Beweiskraft sowie über die Nichtigkeit der angegriffenen Marke erneut zu befinden hat, ist es nicht Sache des Gerichts, über die Nichtigkeit der angegriffenen Marke zu entscheiden. Da die Sache infolge der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung von Amts wegen zur erneuten Prüfung an das EUIPO zurückverwiesen wird, braucht über den Antrag der Klägerin auf Zurückverweisung der Sache an die Beschwerdekammer jedenfalls nicht entschieden zu werden.

82

Somit ist der zweite Antrag insoweit zurückzuweisen, als damit die Nichtigerklärung der angegriffenen Marke begehrt wird.

Kosten

83

Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Wenn mehrere Parteien unterliegen, entscheidet nach Art. 134 Abs. 2 der Verfahrensordnung das Gericht über die Verteilung der Kosten.

84

Da im vorliegenden Fall das EUIPO und die Streithelferin im Wesentlichen unterlegen sind, sind ihnen die Kosten der Klägerin gemäß deren Antrag aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Entscheidung der Ersten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 4. Januar 2016 (Sache R 2775/2014‑1) wird aufgehoben.

 

2.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

3.

Das EUIPO und die Explosal Ltd tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Philip Morris Brands Sàrl.

 

Frimodt Nielsen

Forrester

Perillo

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. Februar 2018.

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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