EUGH C-6/15

ECLI:ECLI:EU:C:2016:555
14.07.2016

Gericht

Europäischer Gerichtshof

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

14. Juli 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Öffentliche Dienstleistungsaufträge — Richtlinie 2004/18/EG — Art. 53 Abs. 2 — Zuschlagskriterien — Wirtschaftlich günstigstes Angebot — Bewertungsmethode — Gewichtungsregeln — Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, in der Ausschreibung anzugeben, wie die Zuschlagskriterien gewichtet werden — Umfang der Pflicht“

In der Rechtssache C‑6/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 6. Januar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 2015, in dem Verfahren

TNS Dimarso NV

gegen

Vlaams Gewest

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Lycourgos, E. Juhász (Berichterstatter) und C. Vajda sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der TNS Dimarso NV, vertreten durch P. Flamey, G. Verhelst und A. Lippens, advocaten,

der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux, N. Zimmer und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von R. Vander Hulst, D. D’Hooghe und N. Kiekens, advocaten,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Manhaeve und A. Tokár als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114) im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Bieter und der daraus hervorgehenden Transparenzpflicht.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der TNS Dimarso NV (im Folgenden: Dimarso) und dem Vlaams Gewest (im Folgenden: Flämische Region) über die Rechtmäßigkeit der Methode, nach der im Rahmen eines von der letztgenannten Körperschaft ausgeschriebenen öffentlichen Dienstleistungsauftrags die Angebote der Bieter bewertet wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Im 46. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 heißt es:

„Die Zuschlagserteilung sollte auf der Grundlage objektiver Kriterien erfolgen, die die Einhaltung der Grundsätze der Transparenz, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung gewährleisten und sicherstellen, dass die Angebote unter wirksamen Wettbewerbsbedingungen bewertet werden. Dementsprechend sind nur zwei Zuschlagskriterien zuzulassen: das des ‚niedrigsten Preises‘ und das des ‚wirtschaftlich günstigsten Angebots‘.

Um bei der Zuschlagserteilung die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes sicherzustellen, ist die – in der Rechtsprechung anerkannte – Verpflichtung zur Sicherstellung der erforderlichen Transparenz vorzusehen, damit sich jeder Bieter angemessen über die Kriterien und Modalitäten unterrichten kann, anhand deren das wirtschaftlich günstigste Angebot ermittelt wird. Die öffentlichen Auftraggeber haben daher die Zuschlagskriterien und deren jeweilige Gewichtung anzugeben, und zwar so rechtzeitig, dass diese Angaben den Bietern bei der Erstellung ihrer Angebote bekannt sind. Die öffentlichen Auftraggeber können in begründeten Ausnahmefällen, die zu rechtfertigen sie in der Lage sein sollten, auf die Angabe der Gewichtung der Zuschlagskriterien verzichten, wenn diese Gewichtung insbesondere aufgrund der Komplexität des Auftrags nicht im Vorhinein vorgenommen werden kann. In diesen Fällen sollten sie diese Kriterien in der absteigenden Reihenfolge ihrer Bedeutung angeben.

Beschließen die öffentlichen Auftraggeber, dem wirtschaftlich günstigsten Angebot den Zuschlag zu erteilen, so bewerten sie die Angebote unter dem Gesichtspunkt des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses. Zu diesem Zweck legen sie die wirtschaftlichen und qualitativen Kriterien fest, anhand deren insgesamt das für den öffentlichen Auftraggeber wirtschaftlich günstigste Angebot bestimmt werden kann. Die Festlegung dieser Kriterien hängt insofern vom Auftragsgegenstand ab, als sie es ermöglichen müssen, das Leistungsniveau jedes einzelnen Angebots im Verhältnis zu dem in den technischen Spezifikationen beschriebenen Auftragsgegenstand zu bewerten sowie das Preis-Leistungs-Verhältnis jedes Angebots zu bestimmen.

…“

4

Art. 2 der Richtlinie 2004/18 sieht vor:

„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.“

5

Art. 53 („Zuschlagskriterien“) der Richtlinie 2004/18 bestimmt:

„(1)   Der öffentliche Auftraggeber wendet unbeschadet der für die Vergütung von bestimmten Dienstleistungen geltenden einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der Erteilung des Zuschlags folgende Kriterien an:

a)

entweder – wenn der Zuschlag auf das aus Sicht des Auftraggebers wirtschaftlich günstigste Angebot erfolgt – verschiedene mit dem Auftragsgegenstand zusammenhängende Kriterien, z. B. Qualität, Preis, technischer Wert, Ästhetik, Zweckmäßigkeit, Umwelteigenschaften, Betriebskosten, Rentabilität, Kundendienst und technische Hilfe, Lieferzeitpunkt und Lieferungs- oder Ausführungsfrist

b)

oder ausschließlich das Kriterium des niedrigsten Preises.

(2)   Unbeschadet des Unterabsatzes 3 gibt der öffentliche Auftraggeber im Fall von Absatz 1 Buchstabe a in der Bekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen oder – beim wettbewerblichen Dialog – in der Beschreibung an, wie er die einzelnen Kriterien gewichtet, um das wirtschaftlich günstigste Angebot zu ermitteln.

Diese Gewichtung kann mittels einer Marge angegeben werden, deren größte Bandbreite angemessen sein muss.

Kann nach Ansicht des öffentlichen Auftraggebers die Gewichtung aus nachvollziehbaren Gründen nicht angegeben werden, so gibt der öffentliche Auftraggeber in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen oder – beim wettbewerblichen Dialog – in der Beschreibung die Kriterien in der absteigenden Reihenfolge ihrer Bedeutung an.“

Belgisches Recht

6

Art. 16 des Gesetzes vom 24. Dezember 1993 über öffentliche Aufträge und bestimmte Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:

„Bei [offenen und nicht offenen Ausschreibungen] muss der Auftrag dem [Bieter] erteilt werden, der das günstigste ordnungsgemäße Angebot abgegeben hat, wobei Zuschlagskriterien berücksichtigt werden, die im Sonderlastenheft oder gegebenenfalls in der Auftragsbekanntmachung anzuführen sind. Die [Zuschlags]kriterien müssen sich auf den Gegenstand des Auftrags beziehen und [können] zum Beispiel [Folgendes betreffen:] Qualität der Ware oder der Leistungen, Preis, technischer Wert, ästhetischer und funktioneller Charakter, Umwelteigenschaften, soziale und ethische Erwägungen, [Betriebs]kosten, Rentabilität, Kundendienst und [technische Hilfe], Liefer[zeitpunkt] und Liefer- oder Ausführungsfrist …“

7

Nach Art. 115 des Königlichen Erlasses vom 8. Januar 1996 über öffentliche Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträge und öffentliche Baukonzessionen in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung gilt:

„Der öffentliche Auftraggeber wählt das ordnungsgemäße Angebot, das ihm aufgrund verschiedener Kriterien, die je nach Auftrag wechseln, am günstigsten scheint. …

Unbeschadet der Gesetzes-, Verordnungs- oder Verwaltungsbestimmungen über die Vergütung bestimmter Dienstleistungen gibt der öffentliche Auftraggeber im Sonderlastenheft und gegebenenfalls in der Auftragsbekanntmachung alle Zuschlagskriterien soweit wie möglich in der absteigenden Reihenfolge der ihnen beigemessenen Bedeutung an; in diesem Fall ist diese Reihenfolge im Sonderlastenheft vermerkt. In Ermangelung dieses Vermerks haben die Zuschlagskriterien den gleichen Wert.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

Mit Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 31. Januar 2012 eröffnete die Flämische Region ein Ausschreibungsverfahren zur Vergabe eines Dienstleistungsauftrags mit der Bezeichnung „Woonsurvey 2012: survey naar de woning en de woonconsument in Vlaanderen“, dessen Ziel die Durchführung einer groß angelegten Erhebung über das Wohnungswesen und den Wohnkonsumenten in Flandern (Belgien) war. Der geschätzte Wert dieses Auftrags betrug 1400000 Euro einschließlich Mehrwertsteuer (MwSt.).

9

In der Ausschreibung dieses Auftrags wurden die beiden folgenden Zuschlagskriterien genannt:

„1 Qualität des Angebots (50/100)

Qualität der Vorbereitung, Organisation und Ausführung der Feldarbeit, der Kodierung und ersten Auswertung der Daten. Die angebotenen Leistungen müssen so detailliert wie möglich beschrieben werden. Aus dem Angebot muss eindeutig hervorgehen, dass der Bieter in der Lage ist, den gesamten Auftrag (mindestens 7000 Stichprobeneinheiten/maximal 10000 Stichprobeneinheiten) innerhalb der vorgesehenen Ausführungsfrist von 12 Monaten auszuführen.

2 Preis (50/100)

Kosten für die Ausführung des Auftrags in Bezug auf die Basisstichprobe (7000 Stichprobeneinheiten) und Kosten je Tranche von 500 zusätzlich zur Verfügung gestellten Adressen (einschließlich MwSt.).“

10

Vier Bieter reichten Angebote ein, die gemäß dem Bericht über die qualitative Auswahl die Mindestanforderungen hinsichtlich der fachlichen Kompetenz erfüllten. Die Methode für die Bewertung der Angebote wurde im Vergabebericht vom 23. März 2012 wie folgt beschrieben:

„Sodann nahm der Ausschuss die Bewertung der Angebote vor.

Die vier Angebote wurden anhand der oben genannten Kriterien bewertet und miteinander verglichen. Die Angebote wurden zunächst auf Grundlage des Kriteriums ‚Qualität‘ geprüft und bewertet. Jedes Angebot erhielt hierbei einstimmig eine bestimmte Bewertung (hoch – ausreichend – niedrig). Sodann wurde das Kriterium ‚Preis‘ angewandt.

Auf Grundlage dieser Bewertungen wurde schließlich eine endgültige Rangordnung aufgestellt.“

11

Aus dem Vergabebericht geht hervor, dass Dinarso und zwei andere Bieter beim ersten Kriterium, der Qualität der Angebote, mit „hoch“ bewertet wurden, während der vierte Bieter die Beurteilung „niedrig“ erhielt. Was das zweite Kriterium, den Preis, betrifft, enthält der Vergabebericht folgende Angaben:

„Übersicht:

Die folgende Übersicht beinhaltet die Preise für die Durchführung des Grundauftrags (7000 Stichprobeneinheiten) und für das Führen von Interviews in Tranchen von 500 (einschließlich MwSt.):

AngebotKriterium 2(a) – Preis (einschließlich MwSt.) Basisstichprobe (N=7 000)Kriterium 2(b) – Preis (einschließlich MwSt.) Tranche von 500 zusätzlichen Stichproben[Dimarso]987360,00 [Euro]69575,00 [Euro]Ipsos Belgium NV913570,00 [Euro]55457,00 [Euro]New Information & Data NV842607,70 [Euro]53240,00 [Euro]Significant GfK NV975520,15 [Euro]57765,40 [Euro]“

12

In Anwendung dieser beiden Kriterien ergab sich im Vergabebericht die folgende endgültige Rangordnung der Bieter:

„Rang

Angebot

Kriterium 1

Kriterium 2(a)

Kriterium 2(b)

1

Ipsos Belgium

HOCH

913 570,00 [Euro]

55 457,00 [Euro]

2

Significant GfK

HOCH

975 520,15 [Euro]

57 765,40 [Euro]

3

[Dimarso]

HOCH

987 360,00 [Euro]

69 575,00 [Euro]

4

New Information & Data

NIEDRIG

842 607,70 [Euro]

53 240,00 [Euro]“

13

Mit Bescheid vom 11. April 2012 vergab die Flämische Ministerin für Energie, Wohnungswesen, Städte und Sozialwirtschaft den Auftrag im Namen der Flämischen Region an Ipsos Belgium. Am 14. Juni 2012 erhob Dimarso Klage auf Aufhebung dieses Bescheids. Nach Auffassung der Klägerin wird aus dem angefochtenen Bescheid deutlich, dass die Angebote hinsichtlich des Kriteriums „Qualität der Angebote“ auf Basis der nicht in der Ausschreibung angegebenen Skala „hoch – ausreichend – niedrig“ und hinsichtlich des Kriteriums „Preis“ auf Basis der angegebenen Preiskomponenten bewertet wurden, ohne dass sie unter Berücksichtigung der in den Verdingungsunterlagen genannten Zuschlagskriterien, einschließlich der in den Verdingungsunterlagen angegebenen Gewichtung der beiden Zuschlagskriterien mit jeweils „50/100“, angemessen geprüft, verglichen und abschließend bewertet worden wären.

14

Der Raad van State (Staatsrat, Belgien) weist darauf hin, dass sowohl im 46. Erwägungsgrund als auch in Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 nur von „Kriterien“ und deren „Gewichtung“ die Rede sei. Die Bewertungsmethode und die Gewichtungsregeln würden an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt. Das vorlegende Gericht betont, dass die Wahl einer Bewertungsmethode kein neutraler Vorgang sei, sondern im Gegenteil für das Ergebnis der Bewertung anhand der Zuschlagskriterien entscheidend sein könne. Im Rahmen des Zuschlagskriteriums „Preis“ könne der öffentliche Auftraggeber beispielsweise für die Anwendung der Verhältnismäßigkeitsregel, für die Vergabe der Höchstpunktzahl an das niedrigste Angebot oder der Punktzahl Null für das höchste Angebot und die Anwendung der linearen Interpolation für die dazwischen liegenden Angebote oder für die Meistbegünstigung des Angebots mit dem Medianpreis optieren.

15

Im Urteil vom 24. Januar 2008, Lianakis u. a. (C‑532/06, EU:C:2008:40, Rn. 38, 44 und 45), habe der Gerichtshof entschieden, dass Art. 36 Abs. 2 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. 1992, L 209, S. 1), der im Wesentlichen Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 entspreche, dem entgegenstehe, dass der öffentliche Auftraggeber nach der Veröffentlichung der Verdingungsunterlagen oder der Vergabebekanntmachung Gewichtungskoeffizienten und ‑regeln sowie Unterkriterien für die in einem dieser Dokumente genannten Zuschlagskriterien festlege, sofern diese Gewichtungskoeffizienten und ‑regeln sowie diese Unterkriterien den Bietern nicht vorher zur Kenntnis gebracht worden seien. Der Gerichtshof habe somit festgestellt, dass nicht nur die nachträgliche Festlegung von „Gewichtungskoeffizienten“, sondern auch die von „Unterkriterien“ mit den Bestimmungen des Unionsrechts unvereinbar sei.

16

Die Frage, die sich vorliegend stelle, sei, ob der Gerichtshof mit diesem zusätzlichen Verweis auf die „Unterkriterien“ auch die Art und Weise gemeint habe, in der die Quotierung der Zuschlagskriterien erfolgt sei, was Gewichtungsregeln ähneln würde. Daher lasse sich die Argumentation, dass der Gerichtshof mit dem Begriff „Unterkriterien“ auch die Bewertungsmethode gemeint habe, nicht ohne Weiteres zurückweisen. Aus dem Urteil vom 24. Januar 2008, Lianakis u. a. (C‑532/06, EU:C:2008:40), gehe allerdings auch nicht eindeutig hervor, dass auch die Bewertungsmethode selbst den Bietern zur Kenntnis gebracht werden müsse, und erst recht nicht, dass diese Methode stets im Voraus festgelegt werden müsse. Man könne jedenfalls festhalten, dass sich die in jener Rechtssache gestellte Frage nicht ausdrücklich auf die nachträgliche Festlegung einer Bewertungsmethode bezogen habe und somit nicht die gleiche Reichweite gehabt habe wie die Frage, die sich im vorliegenden Fall stelle.

17

Ausdrücklich hierzu geäußert hat sich der Gerichtshof nach Ansicht des vorlegenden Gerichts auch nicht im Urteil vom 21. Juli 2011, Evropaïki Dynamiki/EMSA (C‑252/10 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:512), in dem er unter Bezugnahme auf das Urteil vom 24. Januar 2008, Lianakis u. a. (C‑532/06, EU:C:2008:40), betont habe, dass die Rechtmäßigkeit der Verwendung von Unterkriterien und ihre entsprechende Gewichtung stets im Licht des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der daraus hervorgehenden Transparenzpflicht zu prüfen seien. Diese Urteile lieferten daher keine oder zumindest keine endgültige Antwort auf die Frage, die sich im Ausgangsverfahren stelle, nämlich ob auch die Methode der Bewertung der Angebote, d. h. die konkrete Methode, die der öffentliche Auftraggeber bei der Quotierung der Angebote anwenden werde, den Bietern im Voraus zur Kenntnis zu bringen sei.

18

Aufgrund dieser Erwägungen hat der Raad van Staate (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 für sich genommen und in Verbindung mit der Tragweite der europarechtlichen Grundsätze der Gleichheit und Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge dahin auszulegen, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn der Auftrag an den Bieter mit dem aus seiner Sicht wirtschaftlich günstigsten Angebot vergeben wird, stets dazu verpflichtet ist, die Bewertungsmethode oder die Gewichtungsregeln – wie vorhersehbar, gängig oder weitreichend sie auch sein mag bzw. mögen –, anhand deren die Angebote nach den Zuschlagskriterien oder ‑unterkriterien bewertet werden sollen, stets im Voraus festzulegen und in die Bekanntmachung oder Verdingungsunterlagen aufzunehmen,

oder,

wenn eine solche allgemeine Verpflichtung nicht besteht, dass es Umstände wie u. a. die Tragweite, die mangelnde Vorhersehbarkeit oder die mangelnde Gängigkeit dieser Gewichtungsregeln gibt, unter denen diese Verpflichtung dennoch gilt?

Zur Vorlagefrage

19

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der daraus hervorgehenden Transparenzpflicht dahin auszulegen ist, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag nach dem Kriterium des aus seiner Sicht wirtschaftlichsten Angebots vergeben werden soll, stets verpflichtet ist, den potenziellen Bietern in der Auftragsbekanntmachung oder in den entsprechenden Verdingungsunterlagen die Bewertungsmethode oder die Gewichtungsregeln, anhand deren die Angebote nach den in diesen Dokumenten veröffentlichten Zuschlagskriterien bewertet werden sollen, zur Kenntnis zu bringen, oder ob, wenn eine solche allgemeine Verpflichtung nicht besteht, die spezifischen Umstände des betreffenden Auftrags eine derartige Verpflichtung begründen können.

20

Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn er sich dafür entscheidet, einen Auftrag an den Bieter mit dem wirtschaftlich günstigsten Angebot zu vergeben, gemäß Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 verpflichtet ist, in der Bekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen anzugeben, wie er die einzelnen Zuschlagskriterien gewichtet, um das wirtschaftlich günstigste Angebot zu ermitteln. Diese Gewichtung kann mittels einer Marge angegeben werden, deren größte Bandbreite angemessen sein muss. Kann nach Ansicht des öffentlichen Auftraggebers die Gewichtung aus nachvollziehbaren Gründen nicht angegeben werden, gibt er in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen oder – beim wettbewerblichen Dialog – in der Beschreibung die Kriterien in der absteigenden Reihenfolge ihrer Bedeutung an.

21

Wie im 46. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 verdeutlicht wird, haben diese Anforderungen den Zweck, dass sich jeder Bieter angemessen über die Kriterien und Modalitäten unterrichten kann, anhand deren das wirtschaftlich günstigste Angebot ermittelt wird. Außerdem konkretisieren sie die in Art. 2 dieser Richtlinie geregelte Pflicht der öffentlichen Auftraggeber, alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nicht diskriminierend zu behandeln und in transparenter Weise vorzugehen.

22

Nach ständiger Rechtsprechung bedeuten der Gleichbehandlungsgrundsatz und die Transparenzpflicht u. a., dass die Bieter sowohl zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Angebote vorbereiten, als auch zu dem Zeitpunkt, zu dem diese vom öffentlichen Auftraggeber beurteilt werden, gleich behandelt werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. November 2005, ATI EAC e Viaggi di Maio u. a., C‑331/04, EU:C:2005:718, Rn. 22, und vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin, C‑396/14, EU:C:2016:347, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass der Gegenstand öffentlicher Aufträge sowie die Kriterien für ihre Vergabe vom Beginn des Verfahrens über die Vergabe dieser Aufträge an klar bestimmt sein müssen (Urteil vom 10. Mai 2012, Kommission/Niederlande, C‑368/10, EU:C:2012:284, Rn. 56) und dass ein öffentlicher Auftraggeber hinsichtlich der Zuschlagskriterien keine Unterkriterien anwenden darf, die er den Bietern nicht vorher zur Kenntnis gebracht hat (Urteil vom 21. Juli 2011, Evropaïki Dynamiki/EMSA, C‑252/10 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:512, Rn. 31). Außerdem muss sich der Auftraggeber während des gesamten Verfahrens an dieselbe Auslegung der Zuschlagskriterien halten (Urteil vom 18. Oktober 2001, SIAC Construction, C‑19/00, EU:C:2001:553, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

Diese Anforderungen gelten grundsätzlich entsprechend für die Pflicht der öffentlichen Auftraggeber, in der Bekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen anzugeben, wie die einzelnen Zuschlagskriterien gewichtet werden. Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass ein öffentlicher Auftraggeber grundsätzlich keine Gewichtungsregeln anwenden darf, die er den Bietern nicht vorher zur Kenntnis gebracht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2008, Lianakis u. a., C‑532/06, EU:C:2008:40, Rn. 38 und 42).

25

Insbesondere muss – vorbehaltlich der Bestimmungen von Art. 53 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2004/18 – vom Beginn des Vergabeverfahrens an klar festgelegt sein, wie die einzelnen Zuschlagskriterien gewichtet werden, damit die Bieter objektiv feststellen können, welches Gewicht ein Zuschlagskriterium gegenüber einem anderen hat, wenn der öffentliche Auftraggeber sie später bewertet. Außerdem darf die Gewichtung der einzelnen Zuschlagskriterien während des gesamten Verfahrens nicht verändert werden.

26

Dennoch hat es der Gerichtshof für zulässig erachtet, dass ein öffentlicher Auftraggeber nach Ablauf der Frist für die Einreichung von Angeboten Gewichtungskoeffizienten für die Unterkriterien, die im Wesentlichen den Kriterien entsprechen, die den Bietern vorher zur Kenntnis gebracht wurden, festlegt, und zwar unter drei Voraussetzungen, nämlich dass diese nachträgliche Festlegung erstens die in den Verdingungsunterlagen oder in der Vergabebekanntmachung bestimmten Zuschlagskriterien nicht ändert, zweitens nichts enthält, was, wenn es bei der Vorbereitung der Angebote bekannt gewesen wäre, diese Vorbereitung hätte beeinflussen können, und drittens nicht unter Berücksichtigung von Umständen gewählt wurde, die einen der Bieter diskriminieren konnten (vgl. Urteil vom 21. Juli 2011, Evropaïki Dynamiki/EMSA, C‑252/10 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:512, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Allerdings begründet weder Art. 53 Abs. 2 noch eine andere Vorschrift der Richtlinie 2004/18 eine Pflicht zulasten des öffentlichen Auftraggebers, den potenziellen Bietern durch Veröffentlichung in der Bekanntmachung oder den Verdingungsunterlagen die Bewertungsmethode zur Kenntnis zu bringen, anhand deren er eine konkrete Bewertung der Angebote hinsichtlich der zuvor in den Auftragsdokumenten festgelegten Zuschlagskriterien und ihrer Gewichtung vornimmt und eine Rangfolge für sie erstellt.

28

Eine solche allgemeine Pflicht ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

29

Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass ein Bewertungsausschuss bei der Erfüllung seiner Aufgabe über einen gewissen Freiraum verfügen muss und somit, ohne die in den Verdingungsunterlagen oder in der Bekanntmachung festgelegten Zuschlagskriterien zu verändern, seine Tätigkeit der Prüfung und Bewertung der eingereichten Angebote strukturieren darf (vgl. Urteil vom 21. Juli 2011, Evropaïki Dynamiki/EMSA, C‑252/10 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:512, Rn. 35).

30

Dieser Freiraum ist auch aus praktischen Erwägungen gerechtfertigt. Der öffentliche Auftraggeber muss in der Lage sein, die Bewertungsmethode, die er zur Bewertung und Einstufung der Angebote anwenden wird, an die Umstände des Einzelfalls anzupassen.

31

Im Sinne der in Art. 2 der Richtlinie 2004/18 vorgesehenen Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen und zur Vermeidung jeder Gefahr von Parteilichkeit darf die Bewertungsmethode, anhand deren der öffentliche Auftraggeber die Angebote konkret bewertet und einstuft, grundsätzlich nicht nach der Öffnung der Angebote durch den öffentlichen Auftraggeber festgelegt werden. Wenn allerdings die Festlegung dieser Methode aus nachweislichen Gründen nicht vor der Öffnung möglich war, kann man, wie die belgische Regierung anmerkt, dem öffentlichen Auftraggeber nicht vorwerfen, sie erst festgelegt zu haben, nachdem er oder sein Bewertungsausschuss vom Inhalt der Angebote Kenntnis genommen hat.

32

Im Sinne der genannten Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen und der Feststellungen in Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils darf die nach der Veröffentlichung der Bekanntmachung oder der Verdingungsunterlagen erfolgende Festlegung der Bewertungsmethode durch den öffentlichen Auftraggeber jedenfalls keine Veränderung der Zuschlagskriterien oder ihrer Gewichtung bewirken.

33

Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob in dem im Ausgangsverfahren streitigen Vergabeverfahren die Pflichten aus Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 beachtet wurden, wenn man berücksichtigt, dass zum einen der öffentliche Auftraggeber in der Ausschreibung nur zwei Zuschlagskriterien genannt hat, nämlich die Qualität und den Preis, jeweils mit dem Vermerk „(50/100)“, und zum anderen der Bewertungsausschuss eine von „hoch“ über „ausreichend“ bis „niedrig“ reichende Skala angewandt hat, um das Kriterium „Qualität der Angebote“ zu bewerten, ohne dass beim Zuschlagskriterium „Preis“ eine Skala angewandt worden wäre.

34

Wie das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen angibt, bedeuten die beiden Vermerke „(50/100)“, dass die beiden Zuschlagskriterien dasselbe Gewicht haben.

35

Als die Bieter zur Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots in eine Rangfolge gebracht wurden, ermöglichte es die beschriebene Vorgehensweise aber offenbar nicht, Qualitätsunterschiede ihrer Angebote im Verhältnis zu deren Preisen widerzuspiegeln und dabei die Gewichtung der einzelnen Zuschlagskriterien zu beachten, die durch den Vermerk „(50/100)“ vorgesehen war. Insbesondere war diese Vorgehensweise anscheinend geeignet, sich auf das Kriterium „Preis“ auszuwirken, indem sie ihm gegenüber der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils erwähnten qualitativen Rangordnung der Angebote ein entscheidendes Gewicht verlieh. Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die in der Bekanntmachung veröffentlichte Gewichtung der einzelnen Zuschlagskriterien vom öffentlichen Auftraggeber bei der Bewertung der Angebote tatsächlich beachtet wurde.

36

Dem öffentlichen Auftraggeber steht es zwar frei, für die Bewertung eines der Zuschlagskriterien eine Skala zu verwenden, auch wenn diese nicht in der Ausschreibung oder in den Verdingungsunterlagen veröffentlicht wurde. Diese Skala darf aber, wie in Rn. 32 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, keine Veränderung der in diesen Dokumenten veröffentlichten Gewichtung der einzelnen Zuschlagskriterien bewirken.

37

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der daraus hervorgehenden Transparenzpflicht dahin auszulegen ist, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn ein Dienstleistungsauftrag nach dem Kriterium des aus seiner Sicht wirtschaftlichsten Angebots vergeben werden soll, nicht verpflichtet ist, den potenziellen Bietern in der Auftragsbekanntmachung oder in den entsprechenden Verdingungsunterlagen die Bewertungsmethode, die er zur konkreten Bewertung und Einstufung der Angebote anwenden wird, zur Kenntnis zu bringen. Allerdings darf diese Methode keine Veränderung der Zuschlagskriterien oder ihrer Gewichtung bewirken.

Kosten

38

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge ist im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der daraus hervorgehenden Transparenzpflicht dahin auszulegen, dass der öffentliche Auftraggeber, wenn ein Dienstleistungsauftrag nach dem Kriterium des aus seiner Sicht wirtschaftlichsten Angebots vergeben werden soll, nicht verpflichtet ist, den potenziellen Bietern in der Auftragsbekanntmachung oder in den entsprechenden Verdingungsunterlagen die Bewertungsmethode, die er zur konkreten Bewertung und Einstufung der Angebote anwenden wird, zur Kenntnis zu bringen. Allerdings darf diese Methode keine Veränderung der Zuschlagskriterien oder ihrer Gewichtung bewirken.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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