EUGH C-55/18
Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
GIOVANNI PITRUZZELLA
vom 31. Januar 2019(1)
Rechtssache C‑55/18
Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO)
gegen
Deutsche Bank SAE,
Beteiligte:
Federación Estatal de Servicios de la Unión General de Trabajadores (FES-UGT),
Confederación General del Trabajo (CGT),
Confederación Solidaridad de Trabajadores Vascos (ELA),
Confederación Intersindical Galega (CIG)
(Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Nacional [Nationaler Gerichtshof, Spanien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Tägliche Ruhezeit – Wöchentliche Ruhezeit – Wöchentliche Höchstarbeitszeit – Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte – Richtlinie 89/391/EWG – Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz – Verpflichtung der Unternehmen zur Einführung eines Systems zur Messung der täglichen Arbeitszeit“
1. Ist es für die Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz – Ziele, die die Richtlinie 2003/88/EG(2) u. a. durch die Festlegung von Höchstarbeitszeiten verfolgt – erforderlich, dass die Mitgliedstaaten die Verpflichtung des Arbeitgebers vorsehen, Instrumente zur Messung der tatsächlichen täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit einzuführen?
2. Das ist im Wesentlichen die Frage, die durch das den Gegenstand der vorliegenden Rechtssache bildende Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) aufgeworfen wird. Dieses Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Verbandsrechtsstreits, den einige Arbeitnehmergewerkschaften mit dem Ziel einleiteten, nachzuweisen und feststellen zu lassen, dass die Beklagte, die Deutsche Bank SAE (im Folgenden: Deutsche Bank), verpflichtet ist, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven geleisteten Arbeitszeit zu schaffen, das es gestattet, die angemessene Einhaltung der gesetzlich und in Tarifverträgen festgelegten Arbeitszeit zu überprüfen.
3. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe darlegen, aus denen ich der Ansicht bin, dass sich aus dem Unionsrecht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten ergibt, eine Arbeitszeitregelung einzuführen, die, wenn auch begrenzt durch den Ermessensspielraum, der den Mitgliedstaaten aufgrund der Mindestharmonisierungsfunktion der Richtlinie 2003/88 eingeräumt ist, die effektive Einhaltung der Vorschriften über die Grenzen der Arbeitszeiten durch die Einführung von Systemen zur Messung der tatsächlich geleisteten Arbeit sicherstellt. Das Fehlen solcher Mechanismen in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats beeinträchtigt nämlich meines Erachtens die praktische Wirksamkeit der angeführten Richtlinie.
4. Daher bin ich der Auffassung, dass die Richtlinie 2003/88 nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die den Arbeitgebern nicht ausdrücklich allgemein eine Form der Messung oder Kontrolle der Regelarbeitszeit der Arbeitnehmer im Allgemeinen vorschreiben.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
5. Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.“
6. In Art. 3 („Tägliche Ruhezeit“) der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden gewährt wird.“
7. Art. 5 („Wöchentliche Ruhezeit“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf Stunden gemäß Artikel 3 gewährt wird.
Wenn objektive, technische oder arbeitsorganisatorische Umstände dies rechtfertigen, kann eine Mindestruhezeit von 24 Stunden gewählt werden.“
8. Art. 6 („Wöchentliche Höchstarbeitszeit“) der Richtlinie 2003/88 lautet:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer:
a) die wöchentliche Arbeitszeit durch innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder in Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern festgelegt wird;
b) die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet.“
9. Art. 22 („Sonstige Bestimmungen“) der Richtlinie 2003/88 sieht Folgendes vor:
„(1) Es ist einem Mitgliedstaat freigestellt, Artikel 6 nicht anzuwenden, wenn er die allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer einhält und mit den erforderlichen Maßnahmen dafür sorgt, dass
a) kein Arbeitgeber von einem Arbeitnehmer verlangt, im Durchschnitt des in Artikel 16 Buchstabe b) genannten Bezugszeitraums mehr als 48 Stunden innerhalb eines Siebentagezeitraums zu arbeiten, es sei denn der Arbeitnehmer hat sich hierzu bereit erklärt;
b) keinem Arbeitnehmer Nachteile daraus entstehen, dass er nicht bereit ist, eine solche Arbeit zu leisten;
c) der Arbeitgeber aktuelle Listen über alle Arbeitnehmer führt, die eine solche Arbeit leisten;
d) die Listen den zuständigen Behörden zur Verfügung gestellt werden, die aus Gründen der Sicherheit und/oder des Schutzes der Gesundheit der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit unterbinden oder einschränken können;
e) der Arbeitgeber die zuständigen Behörden auf Ersuchen darüber unterrichtet, welche Arbeitnehmer sich dazu bereit erklärt haben, im Durchschnitt des in Artikel 16 Buchstabe b) genannten Bezugszeitraums mehr als 48 Stunden innerhalb eines Siebentagezeitraums zu arbeiten.
…
(3) Sofern die Mitgliedstaaten von den in diesem Artikel genannten Möglichkeiten Gebrauch machen, setzen sie die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.“
10. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit(3) bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Vorkehrungen, um zu gewährleisten, dass die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und die Arbeitnehmervertreter den für die Anwendung dieser Richtlinie erforderlichen Rechtsvorschriften unterliegen.“
11. Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 89/391 lautet:
„Die Arbeitnehmervertreter mit einer besonderen Funktion bei der Sicherheit und beim Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer haben das Recht, den Arbeitgeber um geeignete Maßnahmen zu ersuchen und ihm diesbezüglich Vorschläge zu unterbreiten, um so jeder Gefahr für die Arbeitnehmer vorzubeugen und/oder die Gefahrenquellen auszuschalten.“
B. Spanisches Recht
12. Art. 34 des Estatuto de los Trabajadores, in der Fassung des Real decreto legislativo (Königliches Gesetzesdekret) 2/2015 zur Billigung der Neufassung des Arbeitnehmerstatuts vom 23. Oktober 2015(4) (im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) sieht Folgendes vor:
„1. Die Dauer der Arbeitszeit wird durch die Tarifverträge oder Arbeitsverträge festgelegt. Die Regelarbeitszeit beträgt im Jahresdurchschnitt höchstens 40 tatsächlich geleistete Wochenstunden.
…
3. Zwischen dem Ende eines Arbeitszeitraums und dem Beginn des folgenden liegen mindestens zwölf Stunden. Die Anzahl der tatsächlich geleisteten gewöhnlichen Arbeitsstunden darf neun Stunden täglich nicht überschreiten, sofern nicht in einem Tarifvertrag oder in Ermangelung dessen in einer Vereinbarung zwischen dem Unternehmen und den Arbeitnehmervertretern eine andere Verteilung der täglichen Arbeitszeit vereinbart wird; die täglichen Ruhezeiten sind in jedem Fall zu beachten.
…“
13. Art. 35 („Überstunden“) des Arbeitnehmerstatuts bestimmt:
„1. Arbeitsstunden, die über die im Einklang mit dem vorstehenden Artikel festgelegte Höchstdauer der Regelarbeitszeit hinaus geleistet werden, stellen Überstunden dar. …
2. Die Zahl der Überstunden darf 80 Stunden jährlich nicht überschreiten.
…
4. Die Leistung von Überstunden ist freiwillig, soweit sie nicht in einem Tarifvertrag oder in einem Individualarbeitsvertrag innerhalb der Grenzen von Abs. 2 festgelegt ist.
5. Für die Berechnung der Überstunden wird die Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers täglich aufgezeichnet und zum für die Zahlung der Vergütung festgelegten Zeitpunkt zusammengezählt, wobei dem Arbeitnehmer eine Kopie der Aufstellung im Beleg zur entsprechenden Zahlung übermittelt wird.“
14. Die dritte Zusatzbestimmung („Zuständigkeiten der Arbeitnehmervertreter im Bereich der Arbeitszeit“) des Real Decreto 1561/1995, de 21 de septiembre 1995, sobre jornadas especiales de trabajo (Königliches Dekret 1561/1995 vom 21. September 1995 über Sonderarbeitszeiten)(5) lautet:
„Unbeschadet der den Arbeitnehmervertretern im Bereich der Arbeitszeit im Arbeitnehmerstatut und im vorliegenden Real Decreto zuerkannten Befugnisse haben diese Vertreter das Recht …:
a) …
b) jeden Monat vom Arbeitgeber über die von den Arbeitnehmern geleisteten Überstunden unterrichtet zu werden, unabhängig von der gewählten Form des Ausgleichs; sie erhalten zu diesem Zweck eine Kopie der Aufstellung nach Art. 35 Abs. 5 des Arbeitnehmerstatuts.“
II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15. Am 26. Juli 2017 reichte die Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO), eine Arbeitnehmergewerkschaft, die Teil der auf staatlicher Ebene in Spanien repräsentativsten Gewerkschaftsorganisation ist, eine Verbandsklage bei der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof) gegen die Deutsche Bank ein und beantragte den Erlass eines Urteils, mit dem festgestellt werde, dass diese verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von den Arbeitnehmern geleisteten täglichen effektiven Arbeitszeit einzuführen.
16. Dieses System sollte die Überprüfung zum einen der Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeit und zum anderen der Verpflichtung, den Gewerkschaftsvertretern die Informationen über die monatlich geleisteten Überstunden gemäß Art. 35 Abs. 5 des Arbeitnehmerstatuts und der dritten Zusatzbestimmung des Real Decreto 1561/1995 zu übermitteln, gestatten.
17. Am Verfahren haben sich zur Unterstützung des Standpunkts der CCOO vier andere Gewerkschaftsorganisationen beteiligt: die Federación Estatal de Servicios de la Unión General de Trabajadores (FES-UGT), die Confederación General del Trabajo (CGT), die Confederación Solidaridad de Trabajadores Vascos (ELA) und die Confedaración Intersindacal Galega (CIG).
18. Nach Ansicht der Klägerinnen ergibt sich die Verpflichtung zur Schaffung eines Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit aus der Auslegung der Art. 34 und 35 des Arbeitnehmerstatuts in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte und den Art. 3, 5, 6, 8 und 22 der Richtlinie 2003/88. Die Deutsche Bank bringt hingegen vor, dass nach den Urteilen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom 23. März und vom 20. April 2017 das spanische Recht eine solche allgemeine Verpflichtung nicht vorsehe.
19. Die Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof) stellte fest, dass, obwohl das beklagte Unternehmen an verschiedene Vorschriften über die Arbeitszeiten gebunden sei, die sich aus mehreren nationalen Tarifverträgen der Branche und Betriebsvereinbarungen ergäben, sie keine Art der Erfassung der tatsächlich von der Belegschaft geleisteten Arbeitszeit nutze, die es gestatte, die Einhaltung der Vorschriften über die Arbeitszeiten, die in den Gesetzen und Tarifverträgen festgelegt seien, sowie die etwaige Leistung von Überstunden zu überprüfen. Das beklagte Unternehmen nütze eine Software (Absences Calendar), durch die nur die ganztägigen Abwesenheiten (Urlaub, Arbeitsbefreiung, Krankheit usw.) aufgezeichnet werden könnten.
20. Die Inspección de Trabajo y Seguridad Social (Inspektion für Arbeit und soziale Sicherheit) der Provinzen Madrid und Navarra verlangte von der Beklagten, ein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzuführen. Da dies nicht geschah, stellte sie das Vorliegen eines Verstoßes fest und schlug die Auferlegung einer Sanktion vor. Aufgrund des Urteils des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom 23. März 2017 wurde jedoch keine Sanktion verhängt.
21. Das vorlegende Gericht führt aus, dass in diesem Urteil, das im Plenum, jedoch mit einigen Sondervoten, ergangen sei, das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) eine allgemeine Verpflichtung im spanischen Recht, die Regelarbeitszeit aufzuzeichnen, ausgeschlossen habe. Insbesondere habe das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) darauf hingewiesen, dass Art. 35 Abs. 5 des Arbeitnehmerstatuts nur zur Führung einer Liste der geleisteten Überstunden und zur Mitteilung der Zahl der gegebenenfalls von den Arbeitnehmern geleisteten Stunden am Ende jedes Monats an ihre Gewerkschaftsvertreter verpflichte.
22. Das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) stützte diese Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Gründe: Die Verpflichtung zur Führung einer Liste sei in Art. 35 des Arbeitnehmerstatuts betreffend die Überstunden enthalten, und nicht in Art. 34 betreffend die Arbeitszeit. Wenn der spanische Gesetzgeber eine solche Liste vorschreiben habe wollen, habe er dies speziell getan, wie für die Teilzeitbeschäftigten, mobilen Arbeitnehmer, Arbeitnehmer in der Handelsmarine und Arbeitnehmer im Eisenbahnsektor. Art. 22 der Richtlinie 2003/88 sehe, wie das spanische Recht, die Verpflichtung vor, eine Liste der Überstunden, aber nicht der normalen Arbeitszeit, die die vorgesehene Höchstarbeitszeit nicht überschreite, zu führen. Die Führung einer solchen Liste impliziere die Verarbeitung personenbezogener Daten des Arbeitnehmers mit der Gefahr, dass das Unternehmen ungerechtfertigt in das Privatleben des Arbeitnehmers eingreife. Das Versäumnis, eine solche Liste zu führen, werde nicht als ein klarer und eindeutiger Verstoß gegen die Vorschriften über die Zuwiderhandlungen und Sanktionen in der Sozialordnung eingestuft. Diese Auslegung würde die Verteidigungsrechte des Arbeitnehmers im Verfahren nicht verletzen, da der Arbeitnehmer nach den spanischen Verfahrensvorschriften nicht daran gehindert werde, mit anderen Mitteln die etwaige Leistung von Überstunden nachzuweisen.
23. Das vorlegende Gericht äußert Zweifel an der Vereinbarkeit des Standpunktes des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) mit dem Unionsrecht. Insoweit weist es zunächst darauf hin, dass eine Umfrage unter der erwerbstätigen Bevölkerung in Spanien im Jahr 2016 ergeben habe, dass 53,7 % der Überstunden nicht aufgezeichnet würden. Außerdem habe die spanische Generaldirektion Beschäftigung des Ministeriums für Beschäftigung und Soziale Sicherheit in zwei Berichten (vom 31. Juli 2014 und vom 1. März 2016) dargelegt, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden genau bekannt sein müsse, damit festgestellt werden könne, ob Überstunden geleistet worden seien. Das erkläre, weshalb die Arbeitsinspektoren verlangt hätten, ein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzuführen, das als einziges Mittel zur Prüfung angesehen werde, ob die Höchstarbeitszeiten im Referenzzeitraum überschritten würden. Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass die Auslegung des spanischen Rechts durch das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) in der Praxis zur Folge habe, dass die Arbeitnehmer nicht über ein Beweismittel verfügten, das für den Nachweis einer über die Regelarbeitszeit hinausgehenden Leistung wesentlich sei, und ihre Vertreter nicht über ein für die Prüfung der Einhaltung der Vorschriften erforderliches Mittel verfügten, mit der weiteren Folge, dass die Kontrolle der Einhaltung der Arbeitszeit und der Ruhezeiten allein dem Ermessen des Arbeitgebers überlassen bleibe.
24. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann in dieser Situation das nationale Recht die Einhaltung der Verpflichtungen betreffend die Arbeitszeitgestaltung nach der Richtlinie 2003/88 und, was die Rechte der Arbeitnehmervertreter angehe, nach der Richtlinie 89/391 nicht gewährleisten.
25. Unter diesen Umständen hat die Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist davon auszugehen, dass das Königreich Spanien durch die Art. 34 und 35 des Arbeitnehmerstatuts nach ihrer Auslegung in der Rechtsprechung die erforderlichen Maßnahmen erlassen hat, um die Wirksamkeit der Grenzen für die Dauer der täglichen Arbeitszeit sowie der wöchentlichen und täglichen Ruhezeiten, die in den Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88 vorgesehen sind, für Vollzeitarbeitnehmer zu gewährleisten, die sich nicht ausdrücklich individuell oder kollektiv zur Ableistung von Überstunden verpflichtet haben und die keine mobilen Arbeitnehmer, Arbeitnehmer in der Handelsmarine oder Arbeitnehmer im Eisenbahnsektor sind?
2. Sind Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die Art. 3, 5, 6, 16 und 22 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391 dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften wie den Art. 34 und 35 des Arbeitnehmerstatuts entgegenstehen, aus denen nach gefestigter Rechtsprechung nicht abzuleiten ist, dass von den Unternehmen verlangt werden kann, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Vollzeitarbeitnehmer einzuführen, die sich nicht ausdrücklich individuell oder kollektiv zur Ableistung von Überstunden verpflichtet haben und die keine mobilen Arbeitnehmer, Arbeitnehmer in der Handelsmarine oder Arbeitnehmer im Eisenbahnsektor sind?
3. Ist davon auszugehen, dass der den Mitgliedstaaten durch Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die Art. 3, 5, 6, 16 und 22 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391 auferlegten Verpflichtung, die Dauer der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer allgemein zu begrenzen, für gewöhnliche Arbeitnehmer durch die innerstaatlichen Rechtsvorschriften in den Art. 34 und 35 des Arbeitnehmerstatuts Genüge getan wird, aus denen nach gefestigter Rechtsprechung nicht abzuleiten ist, dass von den Unternehmen verlangt werden kann, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Vollzeitarbeitnehmer einzuführen, die sich nicht ausdrücklich individuell oder kollektiv zur Ableistung von Überstunden verpflichtet haben, im Unterschied zu mobilen Arbeitnehmern, Arbeitnehmern in der Handelsmarine und Arbeitnehmern im Eisenbahnsektor?
III. Rechtliche Würdigung
A. Vorbemerkungen
26. Einleitend ist meines Erachtens darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission in ihren Erklärungen dargelegt hat, die drei Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts miteinander verbunden sind und sich unter einigen Gesichtspunkten überschneiden.
27. Es ergibt sich nämlich aus ihrem Wortlaut, dass sich die Antwort auf die erste Frage aus der Antwort auf die zweite und die dritte Vorlagefrage, die sich untereinander inhaltlich decken, ergibt.
28. Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Bestimmungen des nationalen Rechts wie die Art. 34 und 35 des Arbeitnehmerstatuts in ihrer Auslegung durch das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) einen wirksamen Schutz des Arbeitnehmers im Bereich der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit sowie der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten ermöglichen, wie er in Umsetzung des Unionsrechts vorgesehen wurde, obwohl sie nicht den Einsatz eines Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit vorschreiben.
29. In diesem Kontext halte ich es daher für angebracht, die drei Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts gemeinsam zu prüfen und sie wie folgt umzuformulieren: Stehen Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die Art. 3, 5, 6, 16 und 22 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391, nämlich Bestimmungen, die über die Auferlegung von Grenzen für die Dauer der Arbeitszeit das Ziel eines wirksamen Schutzes der Gesundheit und Sicherheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz verfolgen, nationalen Rechtsvorschriften wie den Art. 34 und 35 des spanischen Arbeitnehmerstatuts in ihrer Auslegung durch die spanische Rechtsprechung entgegen, aus denen nicht abzuleiten ist, dass von den Unternehmen verlangt werden kann, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Vollzeitarbeitnehmer einzuführen, die nicht ausdrücklich individuell oder kollektiv die Leistung von Überstunden akzeptiert haben und die keine mobilen Arbeitnehmer, Arbeitnehmer in der Handelsmarine oder Arbeitnehmer im Eisenbahnsektor sind?
30. Insoweit weise ich darauf hin, dass vor dem Gerichtshof zwei entgegengesetzte grundsätzliche Auffassungen, wenn auch mit verschiedenen Nuancen, vertreten wurden.
31. Die erste, die vom vorlegenden Gericht, der Kommission und den klagenden Gewerkschaftsverbänden vertreten wird, geht davon aus, dass das Unionsrecht ohne Weiteres eine praktische Verpflichtung zur Messung der Arbeitszeit zulasten des Arbeitgebers impliziert, mit der Folge, dass dieses Recht einer nationalen Regelung wie der spanischen entgegenstünde, die nach der Auslegung durch das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) das Bestehen einer solchen Verpflichtung ausschließt.
32. Nach der zweiten Auffassung, die von der im Ausgangsverfahren beklagten Bank, vom Königreich Spanien und von den anderen Mitgliedstaaten, die Beteiligte im Verfahren vor dem Gerichtshof sind, nämlich vom Vereinigten Königreich und von der Tschechischen Republik, vertreten wird, kann in Ermangelung einer spezifischen Regelung in der Richtlinie 2003/88 den Unternehmen keine allgemeine Verpflichtung zur Messung der Arbeitszeit auferlegt werden.
33. Zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts halte ich es für erforderlich, zunächst die Tragweite der Richtlinie 2003/88 im System des Sozialrechts der Union im Licht der vom Gerichtshof in dem Bereich entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze klarzustellen, um sodann auf der Grundlage dieser Analyse zu bestimmen, ob das Unionsrecht und insbesondere diese Richtlinie das Bestehen einer allgemeinen Verpflichtung zur Messung der Arbeitszeit vorsehen.
B. Ziele und Inhalt der Richtlinie 2003/88
34. Ziel der Richtlinie 2003/88 ist es, Mindestvorschriften festzulegen, die dazu bestimmt sind, den Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz zu verbessern, wobei dieses Ziel u. a. durch eine Angleichung der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften erreicht wird(6).
35. Für die Erreichung dieser Ziele legt die Richtlinie 2003/88 tägliche Mindestruhezeiten (nach Art. 3 elf zusammenhängende Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum) und wöchentliche Mindestruhezeiten (nach Art. 5 24 Stunden pro Siebentageszeitraum), sowie eine durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden einschließlich der Überstunden (nach Art. 6 Buchst. b) fest.
36. Über diese Bestimmungen wird Art. 31 der Charta der Grundrechte umgesetzt, der, nachdem er in Abs. 1 anerkennt, dass „[j]ede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer … das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen [hat]“, in Abs. 2 bestimmt, dass „[j]ede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer … das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub [hat]“. Dieses Recht steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Achtung der Menschenwürde, die in Titel I der Charta allgemein geschützt ist(7).
37. Das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und das Recht auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten stellen außerdem einen Ausdruck der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten dar, wie sich aus zahlreichen nationalen Verfassungen ergibt(8).
38. In diesem systematischen Rahmen hat der Gerichtshof bestätigt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union sind, die jedem Arbeitnehmer als ein zum Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit bestimmter Mindestanspruch zugutekommen müssen(9), wobei dieser Schutz nicht nur im individuellen Interesse des Arbeitnehmers, sondern auch im Interesse seines Arbeitgebers sowie der Allgemeinheit liegt(10).
39. Eine erste Folgerung, die meines Erachtens aus dem instrumentalen Zusammenhang zwischen der Richtlinie 2003/88 und den von der Charta anerkannten sozialen Grundrechten gezogen werden kann, ist, dass die Auslegung der Richtlinie 2003/88 und die Bestimmung ihres Anwendungsbereichs die umfassende und tatsächliche Inanspruchnahme der von ihr den Arbeitnehmern zuerkannten subjektiven Rechte ermöglichen müssen, wobei jedes Hindernis zu beseitigen ist, das diese Inanspruchnahme tatsächlich begrenzen oder beeinträchtigen kann.
40. Zu diesem Zweck ist bei der Auslegung und Umsetzung der Richtlinie 2003/88 zu berücksichtigen, dass wie der Gerichtshof mehrmals festgestellt hat, der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der Arbeitgeber ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann(11).
41. Daher verstößt jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, seine Rechte auszuüben, gegen das mit der Richtlinie verfolgte Ziel(12).
42. Außerdem ist nach dem Gerichtshof aufgrund dieser schwächeren Position zu bedenken, dass der Arbeitnehmer davon abgeschreckt werden kann, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können(13).
43. Vor diesem Hintergrund müsste eine Auslegung der Richtlinie 2003/88, die die kohärente Erreichung ihrer Ziele und den umfassenden und wirksamen Schutz der den Arbeitnehmern durch sie gewährten Rechte gestattet, die Bestimmung von spezifischen Verpflichtungen der an ihrer Umsetzung beteiligten Personen umfassen, die vermeiden können, dass das strukturelle Ungleichgewicht in der wirtschaftlichen Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die tatsächliche Inanspruchnahme der von der Richtlinie zuerkannten Rechte beeinträchtigt.
C. Zum Erfordernis der Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 2003/88
44. Der oben beschriebene systematische Rahmen erlaubt es, den Inhalt der Verpflichtungen genauer festzulegen, die die Richtlinie 2003/88 den verschiedenen Personen, auf die sie anwendbar ist, auferlegt.
45. Zunächst sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie gehalten, „die erforderlichen Maßnahmen [zu treffen]“, damit dem Arbeitnehmer die von der Richtlinie gewährleisteten Rechte (tägliche Ruhezeit, wöchentliche Ruhezeit, wöchentliche Arbeitszeit usw.) gewährt werden.
46. Die Wendung „[d]ie Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit …“, mit der alle Artikel beginnen, die die Mindestvorschriften im Bereich der Grenzen der Arbeitszeiten enthalten (Art. 3, 4, 5 und 6, soweit es den vorliegenden Fall betrifft), hat meines Erachtens eine zweifache Bedeutung.
47. Zum einen bestätigt sie die Wichtigkeit der Umsetzung in das nationale Recht mit weiten, aber funktionalisierten Möglichkeiten der Abweichung.
48. Zum anderen verstärkt diese Wendung, im Licht des im vorstehenden Abschnitt beschriebenen systematischen Rahmens, die Verantwortung der Mitgliedstaaten, das Ergebnis des wirksamen Schutzes der Gesundheit und Sicherheit des Arbeitnehmers sicherzustellen, deren Schutz zu den grundlegenden Zielen der Richtlinie 2003/88 gehört, wie sich ausdrücklich u. a. aus dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt.
49. Die wiederholt verwendete Formulierung scheint deshalb zu bedeuten, dass die Mitgliedstaaten zwar die Mittel und Wege, mit denen sie die Richtlinie 2003/88 umsetzen, frei wählen können, sie jedoch jedenfalls Maßnahmen zu erlassen haben, die die tatsächliche Inanspruchnahme der von der Richtlinie gewährleisteten Rechte sicherstellen können, durch eine nationale Regelung, die konkret geeignet ist, das Ziel des Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer mittels der effektiven Einhaltung der Grenzen der Arbeitszeiten zu erreichen.
50. Außerdem muss das Recht eines Mitgliedstaats, mit dem eine Richtlinie umgesetzt wird, nach ständiger Rechtsprechung tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie gewährleisten, die Rechtslage hinreichend klar bestimmen und die Begünstigten in die Lage versetzen, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen(14).
51. Insbesondere sollte die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die „erforderlichen Maßnahmen“ zu erlassen, neben der Umsetzung der Vorschriften über die Arbeitszeiten in das nationale Recht die Einführung von allem umfassen, was für die Verwirklichung der in Art. 31 der Charta verankerten Grundrechte erforderlich ist, wobei jedes Hindernis zu beseitigen ist, das die Inanspruchnahme der zu diesem Zweck von der Richtlinie 2003/88 – die, wie in der vorstehenden Nr. 36 dargelegt, eine Umsetzung von Art. 31 der Charta darstellt –zuerkannten subjektiven Rechte tatsächlich beeinträchtigt oder beschränkt.
52. Nach der Rechtsprechung wird im Übrigen den Mitgliedstaaten jedenfalls unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der in der Richtlinie 2003/88 aufgestellten Regeln durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist(15), wobei alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen sind(16) und zu vermeiden ist, dass, auch durch Unterlassungen des nationalen Gesetzgebers(17), die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wird.
53. Insbesondere in Bezug auf die unionsrechtliche Regelung im Bereich der Arbeitszeit hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Wirksamkeit der Rechte, die den Arbeitnehmern verliehen werden, in vollem Umfang gewährleistet werden muss, was notwendig die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten impliziert, die Einhaltung jeder der in dieser Richtlinie aufgestellten Mindestvorschriften zu gewährleisten. Diese Auslegung entspricht nämlich als einzige dem Ziel dieser Richtlinie, einen wirksamen Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten.(18)
54. Die Regelung eines Mitgliedstaats muss daher uneingeschränkt die praktische Wirksamkeit der den Arbeitnehmern durch die Richtlinie 2003/88 gewährten Rechte im Hinblick auf einen wirksamen Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleisten(19).
55. Diesen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie entspricht, um die praktische Wirksamkeit zu gewährleisten, eine besondere Verantwortung des Arbeitgebers(20), der seinerseits die Verpflichtung hat, angemessene Maßnahmen zu treffen, um den Arbeitnehmern die Ausübung ihrer von der Richtlinie 2003/88 gewährleisteten Rechte ohne Hindernisse zu ermöglichen.
D. Messung der Arbeitszeit und Wirksamkeit des Schutzes der Rechte des Arbeitnehmers
56. Im Rahmen des bisher dargestellten rechtlichen Kontextes ist zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob durch das Fehlen eines Systems zur Messung der Dauer und Lage der Arbeitszeit des Arbeitnehmers die durch die Richtlinie 2003/88 eingeräumten Rechte ihres Inhalts beraubt und die praktische Wirksamkeit ihrer Bestimmungen und der Schutz der Rechte, die diese Bestimmungen den Arbeitnehmern in der Union gewähren, beseitigt würden.
57. Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass es ohne ein solches System keine Garantie gibt, dass die von der Richtlinie 2003/88 festgelegten zeitlichen Beschränkungen tatsächlich beachtet werden, und daher dafür, dass die Rechte, die die Richtlinie den Arbeitnehmern gewährt, ohne Hindernisse ausgeübt werden können.
58. Ohne ein System zur Messung der Arbeitszeiten können nämlich das Ausmaß tatsächlich geleisteter Arbeit und ihre Lage nicht objektiv und sicher festgestellt werden. Es ist ohne ein solches System außerdem nicht möglich, zwischen Stunden zu unterscheiden, die als Regelarbeitszeit oder als Überstunden geleistet wurden, und daher einfach und sicher zu prüfen, ob die von der Richtlinie 2003/88 eingeführten Grenzen konkret beachtet wurden oder nicht.
59. Um das Fehlen der Garantien für den wirksamen Schutz der Rechte im Zusammenhang mit der Einhaltung der Arbeitszeiten auszugleichen, können außerdem die den Kontrollorganen, wie den Arbeitsinspektoren, übertragenen Befugnisse nicht ausreichen. Auch die für die Kontrolle der Einhaltung des Systems für die Sicherheit am Arbeitsplatz zuständige Behörde hat nämlich ohne ein System zur Messung der Arbeitszeit keine konkrete Möglichkeit, eine etwaige Nichterfüllung der Verpflichtungen festzustellen und zu beanstanden.
60. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Schwierigkeiten der Feststellung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden ohne ein zuverlässiges System zur Messung der Arbeitszeit im Übrigen beim vorlegenden Gericht in den zwei oben in Nr. 23 angeführten Berichten der Generaldirektion Beschäftigung des Ministeriums für Beschäftigung und Soziale Sicherheit, der Behörde, der das spanische Recht die Aufgaben der Kontrolle im Bereich Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz überträgt, dargelegt wurden(21).
61. Außerdem hat der Gerichtshof insoweit bereits auf die Bedeutung des Bestehens eines Systems zur Messung der Arbeitszeit für die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Unionsregelung über die Beschränkung der Arbeitszeit hingewiesen. Im Urteil Worten (Urteil vom 30. Mai 2013, C‑342/12, EU:C:2013:355) hat der Gerichtshof nämlich festgestellt, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, den zuständigen Behörden unverzüglich Zugang zu den Aufzeichnungen über die Arbeitszeiten zu gewähren, erforderlich sein kann, wenn sie zu einer effizienteren Anwendung der Regelungen über die Arbeitsbedingungen führt(22).
62. Wenn jedoch die unverzügliche Vorlage der Aufzeichnungen über die Anwesenheiten erforderlich sein kann, um die Wirksamkeit der Bestimmungen über die Arbeitszeit zum Schutz des Arbeitnehmers zu gewährleisten, entzieht erst recht das Fehlen jedes Instruments zur Messung der Arbeitszeit den für die Kontrollen zuständigen Personen ein für die Prüfung der Einhaltung der Regeln wesentliches Element.
63. Zweitens lässt das Fehlen eines wirksamen Arbeitszeiterfassungssystems nicht nur keine tatsächliche Feststellung der geleisteten Arbeit zu, sondern macht es auch viel schwieriger für den Arbeitnehmer, die Rechte, die ihm die Richtlinie 2003/88 gewährt, in einem Gerichtsverfahren zu wahren. Ohne ein solches System wäre es nämlich, wenn der Arbeitgeber Arbeitsleistungen unter Verstoß gegen die von dieser Richtlinie vorgesehenen Beschränkungen der Arbeitszeit vorschriebe, sehr schwierig, eine wirksame Abhilfe gegen diese rechtswidrigen Verhaltensweisen zu schaffen.
64. Insoweit scheint es nicht hinreichend, wie das Königreich Spanien in der mündlichen Verhandlung zu behaupten, dass der Arbeitnehmer seine Rechte gerichtlich geltend machen könnte. Ohne ein geeignetes System zur Messung der Regelarbeitszeit wird dem Arbeitnehmer nämlich eine viel schwerere Beweislast für den Fall auferlegt, dass er gegen den Arbeitgeber wegen Verstoßes gegen die Verpflichtungen nach der Richtlinie 2003/88 eine Klage erhebt.
65. Der Arbeitnehmer kann nämlich zwar auf andere Mittel zurückgreifen, um vor Gericht Verstöße des Arbeitgebers gegen Verpflichtungen aus der Regelung der Arbeitszeit nachzuweisen, wie z. B. Zeugen oder andere Anhaltspunkte, wie E‑Mails oder erhaltene oder verschickte Nachrichten, doch entzieht ihm das Fehlen von objektiven Belegen zur Dauer seines Arbeitstags eine erste wesentliche Nachweismöglichkeit.
66. Außerdem wird die Wirksamkeit des Zeugenbeweises vor Gericht durch die schwächere Position des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis und daher durch die mögliche Zurückhaltung – aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen – von Kollegen, gegen den Arbeitgeber als Zeuge auszusagen, verringert.
67. Insoweit ist auf die in den vorstehenden Nrn. 40 bis 42 angeführte Rechtsprechung hinzuweisen, nach der die schwächere Position des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis den Arbeitnehmer tatsächlich davon abschrecken könnte, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen.
68. Diese Abschreckungswirkung, die eng mit der vertraglichen Stellung des Arbeitgebers verbunden ist, erhöht sich erheblich, wenn das System über keine Instrumente zur Messung der Arbeitszeit verfügt und daher den etwaigen Beweis vor Gericht besonders schwierig macht.
69. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das Fehlen eines Mechanismus zur Erfassung der Arbeitszeit die Wirksamkeit der Rechte, die die Richtlinie 2003/88 den Arbeitnehmern gewährt, erheblich schwächt, die im Wesentlichen dem Ermessen des Arbeitgebers überlassen werden.
70. Außerdem folgt aus diesen Erwägungen, dass, auch wenn eine solche Verpflichtung nicht ausdrücklich in der Richtlinie 2003/88 vorgesehen ist, sie für die Erreichung der von dieser vorgesehenen Ziele und zur Inanspruchnahme der von ihr zuerkannten subjektiven Rechte zweckdienlich und wesentlich ist.
71. Überdies schwächt das Fehlen eines Systems zur Messung der Arbeitszeit auch die Rechte auf Unterrichtung und die damit verbundene Kontrollfunktion der Gewerkschaftsvertreter der Arbeitnehmer, die ihnen im Bereich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer von Art. 4 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 89/391 im Einklang mit Art. 27 der Charta der Grundrechte ausdrücklich eingeräumt werden, erheblich(23).
72. Zusammengefasst zeigen die vorstehenden Erwägungen, dass die Verpflichtung zur Messung der täglichen Arbeitszeit eine wesentliche Funktion im Hinblick auf die Einhaltung aller anderen Verpflichtungen nach der Richtlinie 2003/88, wie die Grenzen der täglichen Arbeitszeit, die tägliche Ruhezeit, die Grenzen der wöchentlichen Arbeitszeit, die wöchentliche Ruhezeit und die etwaige Leistung von Überstunden, erfüllt. Diese Verpflichtungen sind nicht nur mit dem Recht des Arbeitnehmers und seiner Vertreter, in regelmäßigen Abständen das Ausmaß geleisteter Arbeit für die Zwecke der Vergütung überprüfen zu können, sondern insbesondere mit dem Ziel des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz verbunden.
73. Die Auslegung in den vorstehenden Absätzen kann meines Erachtens nicht durch die verschiedenen Argumente der Beteiligten im Verfahren vor dem Gerichtshof zur Stützung der gegenteiligen Ansicht in Frage gestellt werden.
74. Insoweit halte ich erstens das Vorbringen, das den Ausschluss des Bestehens einer allgemeinen Verpflichtung zur Einführung eines Mechanismus zur Messung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit darauf stützt, dass die ausdrückliche Regelung eines Systems zur Messung der Arbeitszeiten im Unionsrecht fehle, während in speziellen Fällen hingegen unionsrechtlich die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit vorgesehen sei(24), für nicht entscheidend.
75. Dieses Argument, das auf das bekannte juristische Auslegungsargument zurückzuführen ist, das im Grundsatz ubi lex voluit dixit, ubi noluit tacuit zum Ausdruck kommt, wird jedoch durch die Ergebnisse der systematischen und teleologischen Auslegung der Richtlinie 2003/88 in den vorstehenden Absätzen widerlegt, die die Notwendigkeit des Bestehens eines Systems zur Messung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten für die Zwecke der Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts betreffend die Begrenzung der Höchstarbeitszeit gezeigt haben.
76. Zum anderen steht das Bestehen einer ausdrücklichen Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit in einigen speziellen Fällen in keiner Weise im Widerspruch zu der von mir vorgeschlagenen Auslegung. Einige Kategorien von Arbeitnehmern und die Arbeitnehmer einiger spezifischer Branchen benötigen nämlich einen besonderen Schutz – aufgrund der der Leistung innewohnenden Merkmale, wie z. B. die Teilzeitbeschäftigten oder die mobilen Arbeitnehmer –, und für sie sieht das Unionsrecht besonders strenge und umfassende Kontrollsysteme vor.
77. Für die „gewöhnlichen“ Arbeitnehmer, die nicht in diese spezifischen Kategorien fallen, setzt die Richtlinie 2003/88 hingegen das Bestehen eines Mittels zur Erfassung der Arbeitszeit, das eine einfache Aufzeichnung in Papierform, in elektronischer Form oder ein anderes Instrument, sofern es für das Ziel geeignet ist, sein kann, voraus.
78. Was zweitens die angebliche Verletzung von gegen die Verarbeitung personenbezogener Daten betreffenden Grundrechten durch die Einführung von Systemen zur Messung der Arbeitszeit anbelangt, hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass, auch wenn der Inhalt von Aufzeichnungen über die Arbeitszeiten unter den Begriff „personenbezogene Daten“ im Sinne des Unionsrechts fallen kann, dieses einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die Verpflichtung besteht, der für die Überwachung der Arbeitsbedingungen zuständigen nationalen Behörde die Aufzeichnungen über die Arbeitszeiten so zur Verfügung zu stellen, dass sie unverzüglich eingesehen werden können(25).
79. Natürlich wird der Arbeitgeber die in den Aufzeichnungen enthaltenen Daten rechtmäßig nutzen müssen, indem er nur den Personen den Zugang gewährt, die ein qualifiziertes Interesse haben.
80. Was drittens das Vorbringen betrifft, wonach das spanische Recht die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 für den Arbeitnehmer sogar günstiger umgesetzt habe (z. B. indem es die wöchentliche Höchstarbeitszeit herabgesetzt habe), so beruht dieses auf dem Missverständnis, die unterschiedliche Bedeutung der materiell-rechtlichen Verpflichtungen (die Mindestvorschriften der Richtlinie) einerseits und der instrumentalen Verpflichtungen (Kontrollsysteme für die tatsächliche Einhaltung der Ersteren) andererseits zu verwechseln.
81. Im vorliegenden Verfahren geht es nicht um die korrekte Umsetzung der von der Richtlinie 2003/88 den Mitgliedstaaten ausdrücklich auferlegten Verpflichtungen (tägliche und wöchentliche Mindestruhezeiten, wöchentliche Höchstarbeitszeit usw.), sondern um die Frage, ob es für die korrekte Einhaltung dieser Verpflichtungen erforderlich ist oder nicht, auch ein geeignetes Kontrollinstrument vorzusehen.
82. Viertens scheint es mir auch nicht möglich, sich auf den Schutz zu beziehen, den die Unionsrechtsordnung der unternehmerischen Freiheit gewährt, die das Recht umfasst, Organisationsmodelle zu wählen, die für die spezifische Tätigkeit am geeignetsten angesehen werden, um die Auffassung zu widerlegen, dass eine rechtliche Verpflichtung besteht, ein System zur Messung der Arbeitszeiten vorzusehen.
83. Insoweit ist daran zu erinnern, dass der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 klar darlegt, dass „[d]ie Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit … Zielsetzungen dar[stellen], die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen“.
84. Im Übrigen haben die Vertreter der Beklagten im Ausgangsverfahren in der mündlichen Verhandlung nicht angegeben, welche die tatsächlichen praktischen Hindernisse für die Schaffung eines Systems zur Messung der Arbeitszeit im Unternehmen wären.
85. Außerdem verfügen zwar, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird, die Mitgliedstaaten über ein weites Ermessen beim Erlass der nationalen Regelungen über die Arbeitszeit, jedoch müsste auch die Regelung von unterschiedlichen Systemen je nach der organisatorischen Komplexität und den Merkmalen des jeweiligen Unternehmens in ihren Ermessensspielraum fallen.
E. Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des Messsystems
86. Aus der von mir in den vorstehenden Absätzen dargelegten Auslegung ergibt sich zwar das Bestehen einer Verpflichtung zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems aufgrund des Mindestharmonisierungszwecks der Richtlinie 2003/88, und entsprechend den Ausführungen in der vorstehenden Nr. 49 bin ich außerdem der Meinung, dass die Bestimmung der Formen und Wege der Umsetzung dieser Verpflichtung(26) sowie die Definition der konkreten Modalitäten, die eine einfache Kontrolle der Einhaltung der Regeln über die Arbeitszeiten gestatten, dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen sind.
87. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die derzeitige Technologie die verschiedensten Systeme zur Erfassung der Arbeitszeit ermöglicht(27) (Aufzeichnungen in Papierform, Computerprogramme, elektronische Zutrittsausweise), wobei diese Systeme auch nach den Besonderheiten und Erfordernissen der einzelnen Unternehmen unterschiedlich sein könnten.
88. Auch wenn die Mitgliedstaaten über einen weiten Ermessensspielraum bei der Wahl der Formen und Wege zur Umsetzung der Verpflichtung, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, verfügen, ergibt sich aus den vorstehenden Erwägungen und insbesondere aus der oben in den Nrn. 45 ff. dargelegten Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die praktische Wirksamkeit der Richtlinie und die Wirksamkeit der den Arbeitnehmern von ihr verliehenen Rechte zu gewährleisten, dass ein solches Erfassungssystem geeignet sein muss, diese Ziele zu erreichen(28).
F. Zu den Vorlagefragen
89. Nach alledem ist meines Erachtens eine nationale Regelung, nach der keine Verpflichtung der Unternehmen zur Einführung eines Systems zur Erfassung der von allen Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit besteht, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Es ist jedenfalls Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung im Einklang mit den angeführten Artikeln der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden kann.
90. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs haben nämlich die nationalen Gerichte bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie auszulegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 AEUV nachzukommen(29).
91. Für die Entscheidung des im Ausgangsverfahren geprüften Falls ist darauf hinzuweisen, dass diese Verpflichtung einer unionsrechtskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte umfasst, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist. Folglich darf ein nationales Gericht nicht davon ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt worden ist(30).
92. Daher ist es Sache des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob es unter Verwendung der dem spanischen Recht bekannten Auslegungsinstrumente möglich ist, das Arbeitnehmerstatut dahin auszulegen, dass es die Verpflichtung des Unternehmens vorsieht, ein System zur Messung der täglichen Anwesenheiten der Vollzeitarbeitnehmer einzuführen.
93. Sofern die unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sein sollte, wäre, da die unmittelbare Anwendung der Richtlinie 2003/88 in den horizontalen Beziehungen zwischen Privatpersonen unzulässig ist, zu prüfen, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta angewendet werden kann, um die Unternehmen zu einem System zur Messung der täglichen Anwesenheiten zu verpflichten.
94. Der Gerichtshof hat die unmittelbare Wirkung von Art. 31 Abs. 2 der Charta in den horizontalen Beziehungen zwischen Privatpersonen in Bezug auf das Recht auf bezahlten Jahresurlaub bereits anerkannt(31). Da das Recht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf (tägliche und wöchentliche) Ruhezeiten dieselbe Struktur aufweist wie das Recht auf bezahlten Jahresurlaub und es sich um eng verbundene Rechte handelt, die beide die Gewährleistung gesunder, sicherer und würdiger Arbeitsbedingungen zum Ziel haben und in derselben Bestimmung der Charta verankert sind, ist meines Erachtens die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von Art. 31 Abs. 2 der Charta in den horizontalen Beziehungen auch in Bezug auf die Rechte auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf Ruhezeiten des Arbeitnehmers anwendbar.
95. Diese Rechte können daher unmittelbar gegenüber dem Arbeitgeber geltend gemacht werden, vorausgesetzt, es handelt sich um eine Situation, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt(32), was hier der Fall ist, da die nationale Regelung die Umsetzung der Richtlinie 2003/88 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung darstellt.
96. Insoweit meine ich, dass die durch Art. 31 Abs. 2 der Charta gewährleisteten Rechte auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf Ruhezeiten des Arbeitnehmers und die entsprechenden Verpflichtungen des Arbeitgebers inhaltlich auch die Einführung eines Systems zur Messung der Arbeitszeiten umfassen.
97. Zur Stützung dieser weiten Auslegung der Rechte auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf Arbeitsruhe ist vorab darauf hinzuweisen, dass, da es sich um ein „soziales Recht“ handelt, der Anspruch des Inhabers auf positive Leistungen von Seiten des Staates oder anderer Verpflichteter in der Natur dieser Art von Rechten liegt. Diese Art von Rechten kann nur über positive Leistungen von Seiten des Verpflichteten gewährleistet werden, deren Fehlen und Unzulänglichkeit dem Recht seine Wirksamkeit nimmt.
98. Die vorstehenden Erwägungen zur Auslegung der Richtlinie 2003/88, die gezeigt haben, wie die Wirksamkeit des Rechts auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf Ruhezeiten von der Möglichkeit abhängt, dass es eine sichere und objektive Methode gibt, die es erlaubt, die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zu überprüfen, sprechen im Übrigen für eine Auslegung von Art. 31 Abs. 2 der Charta, aus der das Bestehen einer Verpflichtung des Unternehmens abgeleitet wird, einen solchen Kontrollmechanismus einzuführen, wobei es diesem jedoch freisteht, die Techniken zu wählen, die es im Zusammenhang mit den eigenen, mit der Unternehmensorganisation verbundenen spezifischen Anforderungen als angemessener ansieht.
IV. Ergebnisse
99. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die Art. 3, 5, 6, 16 und 22 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass sie den Unternehmen die Verpflichtung auferlegen, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit für Vollzeitarbeitnehmer einzuführen, die sich nicht ausdrücklich individuell oder kollektiv zur Ableistung von Überstunden verpflichtet haben und die keine mobilen Arbeitnehmer, Arbeitnehmer in der Handelsmarine oder Arbeitnehmer im Eisenbahnsektor sind, und dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, aus denen eine solche Verpflichtung nicht abzuleiten ist.
2. Den Mitgliedstaaten steht es frei, die für die Erreichung der praktischen Wirksamkeit der vorstehend angeführten Bestimmungen des Unionsrechts geeignetste Form der Erhebung der effektiven täglichen Arbeitszeit vorzusehen.
3. Das vorlegende Gericht hat jedoch zu prüfen, ob es ihm unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der von diesem anerkannten Auslegungsmethoden möglich ist, zu einer Auslegung dieses Rechts zu gelangen, die in der Lage ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen. Sollte es unmöglich sein, innerstaatliche Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden in einer Weise auszulegen, die ihre Konformität mit der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte gewährleistet, folgt aus der letzteren Bestimmung, dass das vorlegende Gericht diese nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen und sich zu vergewissern hat, dass die Verpflichtung des Unternehmens, sich mit einem zur Messung der effektiven Arbeitszeit geeigneten System auszustatten, eingehalten wird.
1 Originalsprache: Italienisch.
2 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
3 ABl. 1989, L 183, S. 1.
4 BOE Nr. 255 vom 24. Oktober 2015.
5 BOE Nr. 230 vom 26. September 1995.
6 Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November 2017, Maio Marques da Rosa (C‑306/16, EU:C:2017:844, Rn. 45), vom 10. September 2015, Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones Obreras (C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 23).
7 Vgl. in diesem Sinne auch die Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache King (C‑214/16, EU:C:2017:439, Nr. 36).
8 Vgl. insoweit die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Schultz-Hoff (C‑520/06, EU:C:2008:38, Nr. 53 und Fn. 22), in denen zwar Erwägungen zum Anspruch auf Urlaub angestellt, aber auch verschiedene Verfassungen der Mitgliedstaaten erörtert werden und der Schluss gezogen wird, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta Vorbilder in den Verfassungen zahlreicher Mitgliedstaaten hat.
9 Urteile vom 10. September 2015, Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones Obreras (C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 24), vom 1. Dezember 2005, Dellas u. a. (C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung); Beschluss vom 4. März 2011, Grigore (C‑258/10, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:122, Rn. 41).
10 Vgl. die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:338, Nr. 52).
11 Vgl. Urteil vom 25. November 2010, Fuß (C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 41).
12 In Bezug auf den Anspruch auf Urlaub nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vgl. Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 42).
13 In Bezug auf den Anspruch auf Urlaub nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vgl. Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 41 und 42).
14 Urteil vom 12. Juni 2003, Kommission/Luxemburg (C‑97/01, EU:C:2003:336, Rn. 32).
15 Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 104).
16 Vgl. Urteile vom 26. Juni 2001, BECTU (C‑173/99, EU:C:2001:356, Rn. 55), vom 25. November 2010, Fuß (C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 39); Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in den verbundenen Rechtssachen Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2003:245, Nr. 23).
17 Vgl. in diesem Sinne die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Schultz-Hoff (C‑350/06, EU:C:2008:37, Nr. 45 und die in Fn. 31 angeführte Rechtsprechung).
18 Urteil vom 7. September 2006, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑484/04, EU:C:2006:526, Rn. 40); Urteil vom 1. Dezember 2005, Dellas u. a. (C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 45 und 53); Urteil vom 14. Oktober 2010, Fuß (C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 64).
19 Beschluss vom 11. Januar 2007, Vorel (C‑437/05, EU:C:2007:23, Rn. 36); vgl. insoweit auch die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache Hälvä u. a. (C‑175/16, EU:C:2017:285, Nr. 44).
20 Von besonderer Verantwortung wird in den Schlussanträgen des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:338, Nr. 35) in Bezug auf den Anspruch auf Urlaub gesprochen.
21 Aus diesen Berichten geht hervor, dass ein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit als einziges Mittel zur Prüfung angesehen wird, ob die Höchstarbeitszeiten im Referenzzeitraum überschritten wurden.
22 Vgl. Rn. 37 des Urteils.
23 Diese Bestimmung räumt den Arbeitnehmern und ihren Vertretern das Recht auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen ein.
24 Wie z. B. im Fall der Teilzeitbeschäftigten oder der mobilen Arbeitnehmer. Vgl. insoweit Art. 9 Buchst. b der Richtlinie 2002/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2002 zur Regelung der Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausüben (ABl. 2002, L 80, S. 35), Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 1999/63/EG des Rates vom 21. Juni 1999 zu der Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten (ABl. 1999, L 167, S. 33), und Paragraf 12 des Anhangs der Richtlinie 2014/112/EU des Rates vom 19. Dezember 2014 zur Durchführung der Europäischen Vereinbarung über die Regelung bestimmter Aspekte der Arbeitszeitgestaltung in der Binnenschifffahrt (ABl. 2014, L 367, S. 86).
25 Urteil vom 30. Mai 2013, Worten (C‑342/12, EU:C:2013:355, Rn. 27 und 28).
26 Vgl. insoweit Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 47); in Bezug auf den Anspruch auf Urlaub vgl. zuletzt auch die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:338, Nr. 25), in Bezug auf die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Festlegung der Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs aber bereits die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Schultz-Hoff (C‑520/06, EU:C:2008:38, Nrn. 45, 55 und 56).
27 Die Kommission hat diesen Gesichtspunkt in ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof hervorgehoben.
28 Auf der Grundlage der dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Informationen aus der Akte und dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung scheint insoweit das von der Beklagten im Ausgangsverfahren eingeführte, oben in Nr. 19 beschriebene System auf den ersten Blick die vorstehend dargelegten Eignungsvoraussetzungen nicht zu erfüllen. Es ist jedenfalls Sache des vorlegenden Gerichts zu bestimmen, ob das der Fall ist.
29 Vgl. Urteile vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 58).
30 Vgl. Urteile vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 60).
31 Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 49 bis 51 und 69 bis 79).
32 Vgl. Art. 51 Abs. 1 der Charta.
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