EUGH C-451/16

ECLI:ECLI:EU:C:2018:492
26.06.2018

Gericht

Europäischer Gerichtshof

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

26. Juni 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 79/7/EWG – Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit – Staatliches nationales Rentenversicherungssystem – Voraussetzungen für die Anerkennung der Geschlechtsumwandlung – Nationale Regelung, die diese Anerkennung davon abhängig macht, dass eine vor der Geschlechtsumwandlung geschlossene Ehe für ungültig erklärt wird – Weigerung einer Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, eine staatliche Ruhestandsrente ab dem Rentenalter für Personen des erworbenen Geschlechts zu gewähren – Unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“

In der Rechtssache C‑451/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) mit Entscheidung vom 10. August 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. August 2016, in dem Verfahren

MB

gegen

Secretary of State for Work and Pensions

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), A. Rosas und J. Malenovský, der Richter E. Juhász und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie der Richter C. Lycourgos und M. Vilaras,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von MB, vertreten durch C. Stothers und J. Mulryne, Solicitors, sowie durch K. Bretherton und D. Pannick, QC,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Crane und S. Brandon als Bevollmächtigte im Beistand von B. Lask, Barrister, und J. Coppel, QC,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Valero und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Dezember 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MB und dem Secretary of State for Work and Pensions (Minister für Arbeit und Renten, Vereinigtes Königreich) wegen dessen Weigerung, MB ab dem gesetzlichen Rentenalter für Personen des Geschlechts, das sie infolge einer Geschlechtsumwandlung erworben hat, eine staatliche Ruhestandsrente zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Richtlinie 79/7 findet nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich auf die gesetzlichen Systeme Anwendung, die Schutz gegen die Risiken des Alters bieten.

4

In Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:

den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,

…“

5

Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, Folgendes von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen:

a)

die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen“.

6

Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23) bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)

‚unmittelbare Diskriminierung‘ eine Situation, in der eine Person aufgrund ihres Geschlechts eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“.

Recht des Vereinigten Königreichs

7

Nach Section 44 des Social Security Contributions and Benefits Act 1992 (Gesetz von 1992 über Sozialversicherungsbeiträge und ‑leistungen) in Verbindung mit seiner Section 122 und mit Paragraph 1 von Schedule 4 des Pensions Act 1995 (Rentengesetz 1995) erwerben vor dem 6. April 1950 geborene Frauen mit 60 Jahren, vor dem 6. Dezember 1953 geborene Männer hingegen erst mit 65 Jahren die Berechtigung zum Bezug der staatlichen Ruhestandsrente „der Kategorie A“.

8

Nach Section 1 des Gender Recognition Act 2004 (Gesetz von 2004 über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit, im Folgenden: GRA) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung konnte eine Person beim Gender Recognition Panel (Ausschuss für die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit, im Folgenden: GRP) eine vollständige Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit beantragen, mit der eine Änderung ihrer Geschlechtszugehörigkeit auf der Grundlage des Lebens in der anderen Geschlechtszugehörigkeit beurkundet wird. Die in einer solchen Bescheinigung über die Anerkennung beurkundete Geschlechtszugehörigkeit wurde in dieser Bestimmung als erworbene Geschlechtszugehörigkeit bezeichnet.

9

Nach Section 2(1) des GRA hatte der GRP eine Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit auszustellen, wenn der Antragsteller

„a)

an Geschlechtsdysphorie leidet oder litt,

b)

zum Zeitpunkt der Antragstellung mindestens zwei Jahre in der erworbenen Geschlechtszugehörigkeit gelebt hat,

c)

beabsichtigt, bis zum Tod in der erworbenen Geschlechtszugehörigkeit zu leben, und

d)

die in Section 3 des [GRA] genannten Beweisanforderungen erfüllt“.

10

Für den Erhalt dieser Bescheinigung musste der Antragsteller gemäß Section 3 („Beweise“) des GRA einen Bericht von zwei Ärzten oder eines Arztes und eines Psychologen vorlegen.

11

Nach Section 4 („Bewilligte Anträge“) Paragraph 2 des GRA hatte ein unverheirateter Antragsteller Anspruch auf eine vollständige Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit, wohingegen nach Paragraph 3 ein verheirateter Antragsteller nur Anspruch auf eine vorläufige Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit hatte.

12

Im Fall der Erteilung einer vollständigen Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit wurde gemäß Section 9(1) des GRA die erworbene Geschlechtszugehörigkeit in jeder Hinsicht die Geschlechtszugehörigkeit des Antragstellers. Nach Paragraph 7 von Schedule 5 des GRA, der speziell die Auswirkung einer vollständigen Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit auf die Berechtigung zum Bezug einer staatlichen Ruhestandsrente regelte, führte die Erteilung der Bescheinigung dazu, dass in allen den Anspruch auf eine staatliche Ruhestandsrente betreffenden Fragen so zu entscheiden war, als wäre die Geschlechtszugehörigkeit des Antragstellers schon immer die erworbene gewesen.

13

Die vorläufige Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit berechtigte einen verheirateten Antragsteller zu dem Antrag, die Ehe von einem Gericht für ungültig erklären zu lassen. Das Gericht, das die Verfügung über die Ungültigkeit erlassen hatte, war sodann nach Section 5(1) des GRA verpflichtet, die vollständige Bescheinigung zu erteilen.

14

Nach Section 11(c) des Matrimonial Causes Act 1973 (Ehegesetz 1973) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung konnte eine gültige Ehe rechtlich nur zwischen Mann und Frau bestehen.

15

Der Marriage (Same Sex Couples) Act 2013 (Gesetz von 2013 über die gleichgeschlechtliche Ehe), der am 10. Dezember 2014 in Kraft trat, ermöglicht gleichgeschlechtlichen Paaren die Eheschließung. Sein Schedule 5 änderte Section 4 des GRA durch die Bestimmung, dass der GRP einem verheirateten Antragsteller eine vollständige Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit erteilen muss, wenn dessen Ehepartner zustimmt. Das Gesetz von 2013 über die gleichgeschlechtliche Ehe ist auf den Ausgangsrechtsstreit jedoch nicht anwendbar.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

16

MB wurde 1948 geboren und bei der Geburt als männlich eingetragen und heiratete 1974. Im Jahr 1991 begann MB, als Frau zu leben, und im Jahr 1995 unterzog sie sich einer operativen Geschlechtsumwandlung.

17

MB verfügt jedoch über keine vollständige Bescheinigung über ihre Geschlechtsumwandlung, die nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung nur nach Ungültigerklärung ihrer Ehe ausgestellt worden wäre. Sie und ihre Frau wollten nämlich aus religiösen Gründen verheiratet bleiben.

18

Im Jahr 2008 vollendete MB das 60. Lebensjahr, also das Alter, mit dem vor dem 6. April 1950 geborene Frauen nach dem nationalen Recht Anspruch auf eine staatliche Ruhestandsrente der „Kategorie A“ hatten, weshalb sie einen Antrag auf Erhalt dieser Rente ab dem vollendeten 60. Lebensjahr stellte, die ihr aufgrund der während ihrer Berufstätigkeit in das staatliche Rentenversicherungssystem eingezahlten Beiträge zustehe.

19

Mit Bescheid vom 2. September 2008 wurde ihr Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass sie mangels einer vollständigen Bescheinigung über die Anerkennung ihrer Geschlechtsumwandlung in Bezug auf das Rentenalter nicht als Frau behandelt werden könne.

20

Die von MB gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde sowohl vom First-tier Tribunal (Gericht erster Instanz, Vereinigtes Königreich) als auch vom Upper Tribunal (Obergericht) und vom Court of Appeal (Berufungsgericht) abgewiesen.

21

MB legte beim Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) ein Rechtsmittel mit der Begründung ein, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung eine nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 unzulässige Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle.

22

Ausweislich der Vorlageentscheidung erfüllt MB die physischen, sozialen und psychischen Kriterien, die nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Personenstandsregelung für die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsumwandlung vorgesehen sind. Das vorlegende Gericht legt dar, dass zu dem für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt nach der nationalen Regelung diese Anerkennung und die Ausstellung der in Rn. 17 des vorliegenden Urteils erwähnten Bescheinigung jedoch davon abhängig gewesen seien, dass die vor der Geschlechtsumwandlung geschlossene Ehe für ungültig erklärt werde. Diese Ungültigerklärung sei auch Voraussetzung dafür gewesen, dass einer Person, die sich wie MB einer Geschlechtsumwandlung unterzogen habe, die erwähnte Ruhestandsrente ab dem für Personen des erworbenen Geschlechts geltenden gesetzlichen Rentenalter gewährt werden könne.

23

Der Minister für Arbeit und Renten machte vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die sich aus den Urteilen vom 7. Januar 2004, K. B. (C‑117/01, EU:C:2004:7, Rn. 35), und vom 27. April 2006, Richards (C‑423/04, EU:C:2006:256, Rn. 21), ergebe, Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen festzulegen, nach denen die Geschlechtsumwandlung einer Person rechtlich anerkannt werde. Der Minister für Arbeit und Renten vertrat die Auffassung, dass diese Voraussetzungen nicht auf soziale, physische und psychische Kriterien beschränkt werden dürften, sondern auch Kriterien in Bezug auf den Ehestand betreffen könnten.

24

In diesem Zusammenhang verwies der Minister für Arbeit und Renten darauf, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt habe, dass die Mitgliedstaaten die Anerkennung der Geschlechtsumwandlung einer Person von der Ungültigerklärung deren Ehe abhängig machen könnten (Urteil des EGMR vom 16. Juli 2014, Hämäläinen/Finnland, CE:ECHR:2014:0716JUD003735909). Er machte geltend, dass nach der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten die Vertragsstaaten das erworbene Geschlecht einer Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen habe, anerkennen, nicht aber die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare zulassen müssten. Das Ziel, die traditionelle Form der Ehe im Sinne einer Ehe zwischen Mann und Frau zu bewahren, könne es nämlich rechtfertigen, die Anerkennung der Geschlechtsumwandlung von der Ungültigerklärung einer Ehe abhängig zu machen.

25

Unter diesen Umständen hat der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht die Richtlinie 79/7 der Einführung einer Anforderung im nationalen Recht entgegen, nach der eine Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, über die physischen, sozialen und psychischen Kriterien für die Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung hinaus auch unverheiratet sein muss, um Anspruch auf eine staatliche Ruhestandsrente zu haben?

Zur Vorlagefrage

26

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 79/7, insbesondere ihr Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich und mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, nicht nur physische, soziale und psychische Kriterien erfüllen muss, sondern auch nicht mit einer Person des Geschlechts, das sie infolge der Geschlechtsumwandlung erworben hat, verheiratet sein darf, wenn sie eine staatliche Ruhestandsrente ab dem für Angehörige des erworbenen Geschlechts geltenden gesetzlichen Rentenalter in Anspruch nehmen möchte.

27

Zunächst ist festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit und die dem Gerichtshof vorgelegte Frage nur die Voraussetzungen für die Gewährung der im Ausgangsverfahren fraglichen staatlichen Ruhestandsrente betreffen. Der Gerichtshof ist also nicht mit der Frage befasst, ob die rechtliche Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung ganz allgemein davon abhängig gemacht werden kann, dass eine vor der Geschlechtsumwandlung geschlossene Ehe für ungültig erklärt wird.

28

Die Regierung des Vereinigten Königreichs vertritt die Ansicht, dass die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsumwandlung und die Eheschließung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten betreffend den Personenstand fielen. In Ausübung dieser Zuständigkeit könnten die Mitgliedstaaten, in denen die gleichgeschlechtliche Ehe nicht erlaubt sei, die Gewährung einer staatlichen Ruhestandsrente daher davon abhängig machen, dass eine zuvor zwischen nunmehr gleichgeschlechtlichen Personen geschlossene Ehe für ungültig erklärt werde.

29

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht zwar die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Personenstands und der rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsumwandlung einer Person unberührt lässt, die Mitgliedstaaten jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht zu beachten haben, insbesondere die Bestimmungen in Bezug auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 27. April 2006, Richards, C‑423/04, EU:C:2006:256, Rn. 21 bis 24, vom 1. April 2008, Maruko, C‑267/06, EU:C:2008:179, Rn. 59, sowie vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 37 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

30

So geht u. a. aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass eine nationale Regelung, die die Gewährung einer Rentenleistung von einer den Personenstand betreffenden Voraussetzung abhängig macht, nicht von der Beachtung des in Art. 157 AEUV verankerten Grundsatzes der Nichtdiskriminierung aufgrund des Geschlechts im Bereich der Entlohnung der Arbeitnehmer ausgenommen ist (vgl. in diesem Sinne zu Art. 141 EG, Urteil vom 7. Januar 2004, K. B., C‑117/01, EU:C:2004:7, Rn. 34 bis 36).

31

Daraus folgt, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7, der den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aufgrund des Geschlechts im Bereich der sozialen Sicherheit verwirklicht, von den Mitgliedstaaten einzuhalten ist, wenn sie ihre Zuständigkeit im Bereich des Personenstands ausüben.

32

Konkret ist nach Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 79/7 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts u. a. betreffend die Bedingungen für den Zugang zu den gesetzlichen Systemen, die Schutz gegen die Risiken des Alters bieten, untersagt.

33

Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens ist unstreitig, dass das in Rede stehende staatliche System der Ruhestandsrente zu diesen Systemen gehört.

34

Wie aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54 hervorgeht, liegt eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in einer Situation vor, in der eine Person aufgrund ihres Geschlechts eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Im Kontext der Richtlinie 79/7 ist dieser Begriff auf dieselbe Weise zu verstehen.

35

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hat die Richtlinie 79/7 in Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, auch für Diskriminierungen zu gelten, die ihre Ursache in der Geschlechtsumwandlung des Betroffenen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2006, Richards, C‑423/04, EU:C:2006:256, Rn. 23 und 24 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Auch wenn es – wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist – Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsumwandlung einer Person festzulegen, ist für die Anwendung der Richtlinie 79/7 von einer Geschlechtsumwandlung auszugehen, wenn eine Person während eines erheblichen Zeitraums in einer anderen Geschlechtszugehörigkeit als der bei ihrer Geburt eingetragenen gelebt und sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen hat.

36

Im vorliegenden Fall macht die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung den Zugang einer Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, zu einer staatlichen Ruhestandsrente ab dem für Personen des erworbenen Geschlechts geltenden gesetzlichen Rentenalter u. a. davon abhängig, dass eine etwaige vor der Geschlechtsumwandlung geschlossene Ehe für ungültig erklärt wird. Ausweislich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte gilt die Voraussetzung der Ungültigerklärung der Ehe jedoch nicht für eine Person, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist, so dass sie unabhängig von ihrem Ehestand die staatliche Ruhestandsrente ab dem für Personen dieses Geschlechts geltenden gesetzlichen Rentenalter in Anspruch nehmen kann.

37

Es zeigt sich somit, dass nach dieser nationalen Regelung eine Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, weniger günstig behandelt wird als eine Person, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist.

38

Diese weniger günstige Behandlung beruht auf dem Geschlecht und kann eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 darstellen.

39

Es ist noch zu prüfen, ob die Situation einer Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, mit der einer Person vergleichbar ist, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist.

40

Nach Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs sind diese Situationen nicht vergleichbar, weil sich die betreffenden Personen hinsichtlich des Ehestands unterschieden. Die Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlechtsumwandlung unterzogen habe, finde sich nämlich in einer Ehe mit einer Person ihres erworbenen Geschlechts wieder, wohingegen dies bei einer Person, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten und eine Person anderen Geschlechts geheiratet habe, nicht der Fall sei. Angesichts des Ziels der Voraussetzung, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ehe für nichtig zu erklären, das darin bestehe, die Existenz gleichgeschlechtlicher Ehen zu verhindern, bedeute dieser Unterschied, dass die Situationen dieser Personen nicht vergleichbar seien.

41

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen nicht bedeutet, dass sie identisch, sondern nur, dass sie ähnlich sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Mai 2011, Römer, C‑147/08, EU:C:2011:286, Rn. 42, und vom 19. Juli 2017, Abercrombie & Fitch Italia, C‑143/16, EU:C:2017:566, Rn. 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Die Vergleichbarkeit der Situationen ist nicht allgemein und abstrakt, sondern spezifisch und konkret anhand aller diese Situationen kennzeichnenden Merkmale, insbesondere im Licht des Gegenstands und Zieles der nationalen Regelung, mit der die fragliche Unterscheidung eingeführt wird, sowie gegebenenfalls der Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs, dem diese nationale Regelung unterfällt, zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 25 und 26, vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 89 und 90, sowie vom 9. März 2017, Milkova, C‑406/15, EU:C:2017:198, Rn. 56 und 57 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung die Gewährung der staatlichen Ruhestandsrente „der Kategorie A“ zum Gegenstand hat, auf die Personen Anspruch haben, die das gesetzliche Rentenalter erreicht haben. Die Parteien des Ausgangsverfahrens haben in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausgeführt, dass nach dem nationalen Recht auf eine solche Ruhestandsrente jede Person Anspruch habe, die dieses Alter erreicht und in ausreichendem Umfang in das öffentliche Rentensystem des Vereinigten Königreichs eingezahlt habe. Es zeigt sich somit, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende gesetzliche System der staatlichen Ruhestandsrente gegen das Risiko des Alters schützt, indem es der betreffenden Person unabhängig von ihrem Ehestand einen Anspruch auf eine Ruhestandsrente verleiht, der nach Maßgabe der während ihres Berufslebens eingezahlten Beiträge erworben wird.

44

In Anbetracht des Gegenstands und der Voraussetzungen für die Gewährung dieser Ruhestandsrente – wie sie in der vorstehenden Randnummer erläutert worden sind – ist die Situation einer Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, mit der einer Person vergleichbar, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist.

45

Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, läuft das auf den Unterschied hinsichtlich des Ehestands dieser Personen abstellende Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs darauf hinaus, aus dem Ehestand das für die Vergleichbarkeit der fraglichen Situationen entscheidende Element zu machen, obwohl der Ehestand als solcher – wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist – für die Gewährung der im Ausgangsverfahren fraglichen staatlichen Ruhestandsrente irrelevant ist.

46

Außerdem hat das von der Regierung des Vereinigten Königreichs geltend gemachte Ziel der Voraussetzung der Ungültigerklärung der Ehe, nämlich die Verhinderung gleichgeschlechtlicher Ehen, mit dem System dieser Ruhestandsrente nichts zu tun. Folglich ändert dieses Ziel nichts daran, dass in Anbetracht des Gegenstands und der Voraussetzungen für die Gewährung dieser Ruhestandsrente – wie sie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils erläutert worden sind – die Situation einer Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, mit der einer Person vergleichbar ist, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist.

47

Dieser Auslegung steht nicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegen, auf die das Vereinigte Königreich noch Bezug nimmt, um die Vergleichbarkeit der jeweiligen Situation dieser Personen in Abrede zu stellen. Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge festgestellt hat, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 16. Juli 2014, Hämäläinen/Finnland (CE:ECHR:2014:0716JUD003735909, §§ 111 und 112), die Vergleichbarkeit der Situation einer Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, und der Situation einer verheirateten Person, die sich keiner Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, nämlich im Hinblick auf den Gegenstand der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften, die die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsumwandlung für den Personenstand betrafen, beurteilt. Demgegenüber geht es – wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist – in der vorliegenden Rechtssache um die Vergleichbarkeit der Situation der betreffenden Personen im Hinblick auf eine Regelung, die speziell den Zugang zu einer staatlichen Ruhestandsrente zum Gegenstand hat.

48

Somit wird nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung eine Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, unmittelbar aufgrund des Geschlechts weniger günstig behandelt als eine Person, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist, obwohl sich diese Personen in einer vergleichbaren Situation befinden.

49

Die Regierung des Vereinigten Königreichs vertritt gleichwohl die Ansicht, dass das Ziel, gleichgeschlechtliche Ehen zu verhindern, es rechtfertigen könne, die Voraussetzung, eine vor der Geschlechtsumwandlung geschlossene Ehe für ungültig erklären zu lassen, nur auf Personen anzuwenden, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hätten, weil gleichgeschlechtliche Ehen nach dem nationalen Recht zu dem für den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits maßgeblichen Zeitpunkt nicht erlaubt gewesen seien.

50

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Abweichung von dem in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 verankerten Verbot jeglicher unmittelbarer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts jedoch nur in den in der Richtlinie abschließend aufgezählten Fällen möglich (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juli 2005, Vergani, C‑207/04, EU:C:2005:495, Rn. 34 und 35, sowie vom 3. September 2014, X, C‑318/13, EU:C:2014:2133, Rn. 34 und 35). Das von der Regierung des Vereinigten Königreichs geltend gemachte Ziel entspricht aber keiner der nach dieser Richtlinie zulässigen Ausnahmen.

51

Was insbesondere die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 79/7 vorgesehene Ausnahme betrifft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sie den Mitgliedstaaten nicht gestattet, eine Person, die sich nach ihrer Eheschließung einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, in Bezug auf das für den Zugang zu einer staatlichen Ruhestandsrente geltende Alter anders zu behandeln als eine Person, die ihr bei der Geburt eingetragenes Geschlecht beibehalten hat und verheiratet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2006, Richards, C‑423/04, EU:C:2006:256, Rn. 37 und 38).

52

Daher stellt die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar und ist somit nach der Richtlinie 79/7 verboten.

53

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 79/7, insbesondere ihr Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich und mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, nicht nur physische, soziale und psychische Kriterien erfüllen muss, sondern auch nicht mit einer Person des Geschlechts, das sie infolge der Geschlechtsumwandlung erworben hat, verheiratet sein darf, wenn sie eine staatliche Ruhestandsrente ab dem für Angehörige des erworbenen Geschlechts geltenden gesetzlichen Rentenalter in Anspruch nehmen möchte.

Kosten

54

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, insbesondere ihr Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich und mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Person, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, nicht nur physische, soziale und psychische Kriterien erfüllen muss, sondern auch nicht mit einer Person des Geschlechts, das sie infolge der Geschlechtsumwandlung erworben hat, verheiratet sein darf, wenn sie eine staatliche Ruhestandsrente ab dem für Angehörige des erworbenen Geschlechts geltenden gesetzlichen Rentenalter in Anspruch nehmen möchte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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